Auch in diesem Jahr ist der Tag des Mauerfalls, vor 35 Jahren, groß gefeiert worden. Sie haben den Mauerfall und die deutsche Einheit damals als Politiker live miterlebt. War der Mauerfall ein Glückstag?
Diepgen: Der 9. November 1989 war ein Glückstag. Dass die Mauer einfach so geöffnet wurde, weil Günter Schabowski sich verquatscht hatte, weil die NVA-Soldaten an der Grenze nicht zur Waffe gegriffen haben und die Menschen ungehindert nach West-Berlin gehen konnten, das alles war ein Glücksfall. Ich habe immer an die deutsche Einheit geglaubt, auch wenn ich wie so viele andere im November 1989 nicht damit gerechnet hatte, dass die Mauer so schnell fallen würde. Aber ich war überzeugt, dass die eingemauerte Stadt West-Berlin Veränderungen erzwingen wird.
Hatten Sie große Sorgen, dass noch etwas schiefgehen könnte?
Diepgen: Meine Sorge war, dass die sowjetische und später die russische Militärführung die deutsche Einheit nicht akzeptieren würde. Deshalb war für mich die deutsche staatliche Vereinigung mit dem 3. Oktober 1990 nicht abgesichert, der Tag der Deutschen Einheit in seiner Bedeutung etwas eingeschränkt. Große Bedeutung hat der Tag des Abzugs der sowjetischen Truppen am 31. August 1994. Die russischen Soldaten sangen: „Deutschland, wir reichen dir die Hand und kehren zurück ins Vaterland.“ In strenger militärischer Ordnung zogen sie ab, die Bundeswehr rückte nach. Erst damit war die deutsche staatliche Einheit und eine neue europäische Ordnung abgesichert.
Bedauern Sie noch, dass Sie beim Mauerfall nicht im Amt des Regierenden Bürgermeisters waren? Sondern davor bis März 1989, beziehungsweise dann wieder ab Januar 1991.
Diepgen: Mit dem Schicksal habe ich mich abgefunden. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer habe ich darunter gelitten, insbesondere, weil der Senat zunächst kein Kämpfer für eine Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland war. Aber – und damit habe ich mich auch getröstet – ich konnte ab 1991 mehr für Berlin und die Wiedervereinigung tun, als 1989 glücklich auf der Mauer zu tanzen.
Sie haben sehr viel für das Zusammenwachsen der Stadt getan, zum Beispiel bei der Angleichung der Löhne. Berlin ist deshalb damals aus der Tarifgemeinschaft der Länder ausgeschlossen worden. Ist in Ihren Augen die Deutsche Einheit gelungen?
Diepgen: Ich beantworte die Frage mit einem eindeutigen Ja, denn man muss berücksichtigen, dass Deutschland immer ein föderaler Staat war und es in Deutschland immer große regionale Unterschiede in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung gab. Es gibt unterschiedliche Mentalitäten. Da denke ich beispielsweise an die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern und Oberbayern. Wenn heute Unterschiede in der Entwicklung zwischen Ost und West beschrieben werden, sollten diese historisch gewachsenen Tatsachen nicht verdrängt werden. Ich halte es auch für bedenklich, Ost gegen West entlang der alten Demarkationslinie gegenüberzustellen. Es geht um den Vergleich und die Unterstützung von Regionen mit vergleichbaren Herausforderungen. Es gibt in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen Städte und Regionen, denen es schlechter geht als Dresden oder Leipzig. Mit der Arbeit des Ostbeauftragten der Bundesregierung entsteht aus meiner Sicht allzu leicht ein verzerrtes Bild über
die sehr differenzierte regionale Entwicklung in ganz Deutschland.
Viele, auch jüngere Menschen, sind in den letzten Jahren auf der Suche nach einer ostdeutschen Identität. Haben die politisch Verantwortlichen damals, also nach dem Mauerfall, Fehler gemacht?
Diepgen: Es war ja ein komplexer, ein langwieriger Prozess des Zusammenwachsens. Es ist Unsinn, wenn jemand heute behauptet, es seien keine Fehler gemacht worden. Die eine oder andere sogenannte Errungenschaft aus der DDR hätte man damals für die Entwicklung ganz Deutschlands nutzen müssen. Etwa die Schulpolitik – bei uns wurde Erziehung verweigert, in der DDR gab es zu viel Erziehung. Auch das Gesundheitssystem mit seinen Polikliniken lieferte in seinen Strukturen beispielhafte Anregungen. Beim Personalabbau in der Berliner Verwaltung und der Stadtreinigung und den Verkehrsbetrieben, die aus Ost und West zusammengeführt werden mussten, hatte ich auch in Berlin einen schweren Stand gegen all die sogenannten Experten, die alle notwendigen Veränderungen im Hauruck-Verfahren durchsetzen wollten. Soweit das Land zuständig war, sind wir in der Regel nur Schritt für Schritt vorgegangen. Wir mussten doch die Menschen bei dem gewaltigen Transformationsprozess mitnehmen. Die
„Rhein-Bund-Republik“ hatte für ein schrittweises Vorgehen nur wenig Verständnis. Auch das alte West-Berlin hat darunter gelitten.
In den vergangenen Monaten sind die rechten, die rechtspopulistischen Parteien in Berlin stark geworden, nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Zahl der antisemitischen Übergriffe stark zugenommen, viele Jüdinnen und Juden in Deutschland leben wieder in Angst. Was tun?
Diepgen: In Deutschland gibt es in der Verantwortung für den Holocaust und der Verbrechen des Nationalsozialismus eine besondere Sensibilität bei allen Fragen, die Antisemitismus und die Kritik am Staat Israel betreffen. Jüdinnen und Juden müssen bei uns nicht in Angst leben. Wir haben es aber auch mit einer nicht unbedeutenden Zahl von Zuwanderern aus dem Nahen Osten in Berlin zu tun, die enge persönliche und familiäre Verbindungen mit Leidtragenden an der aktuellen militärischen Entwicklung in Gazastreifen und dem Libanon haben. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die öffentliche Diskussion über die Kriegsführung und auch die Ansiedlungspolitik der Regierung Israels im Westjordanland. Ich habe Verständnis für Sorgen, die bei jüdischen Bürgern durch heftige antiisraelischen Aktionen, wie sie an den Universitäten vorkamen, entstanden. Alle können aber darauf vertrauen, dass der Staat gegen Verletzungen des Rechts konsequent vorgeht. Kritik an Maßnahmen Israels
ist aber zulässig. In Israel war und ist die Kritik an der Regierungspolitik nach meinem Eindruck heftiger als in Deutschland. Auch in heftiger Kritik und Fragen nach Verletzungen des Völkerrechts darf nicht automatisch ein Antisemitismus gesehen werden.
Wie schützen wir unsere Demokratie und Berlin als Stadt der Freiheit?
Diepgen: Am besten durch eine gute Politik. Die Hauptgefährdung der Demokratie liegt meiner Meinung nach in der mangelnden Diskussionsbereitschaft zwischen den politischen Lagern. Der massive Ausbau der Bürokratie und die Einmischung des Staates in das persönliche Leben, das Gefühl, dass man nicht alles sagen darf, ohne gesellschaftlich geächtet zu werden – all das gefährdet unsere Demokratie.
Haben Sie einen Wunsch für die nachfolgenden Generationen?
Diepgen: Das Wichtigste ist, dass wir den Frieden sichern. Von den Politikern wünsche ich mir, dass sie den Mut haben, gegen den Mainstream gute Argumente zu vertreten. Dazu gehört die Erkenntnis, dass man für seine Position kämpfen kann und muss, dazu gehört aber auch das Wissen: Man muss nicht unbedingt recht haben.