Im Wettlauf mit der Zeit – wie Berlin mit neuer Energie klimaneutral werden will

Bis 2024 müssen alle öffentlichen Bauten in Berlin mit Solarpaneelen ausgestattet sein, wie hier die Schule am Fennpfuhl

Bis 2024 müssen alle öffentlichen Bauten in Berlin mit Solarpaneelen ausgestattet sein, wie hier die Schule am Fennpfuhl

Im Berliner Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie wurde die weltweit effizienteste Tandemsolarzelle entwickelt. Sie wandelt 32,5 % der einfallenden Sonnenstrahlen in elektrische Energie um

Im Berliner Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie wurde die weltweit effizienteste Tandemsolarzelle entwickelt. Sie wandelt 32,5 % der einfallenden Sonnenstrahlen in elektrische Energie um

Von Matthias Kuder

Weltrekord! Das Schreiben des europäischen Zertifizier-Instituts für Solartests bestätigt es: Die effizienteste Tandem-Solarzelle kommt vom Berliner Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie. Im Kopf-an-Kopf-Rennen unter den Spitzeninstituten der Welt haben die Forschenden aus Adlershof seit Dezember 2022 wieder die Nase vorn. Die Sonnenenergie spielt auch bei einem anderen Wettlauf eine Hauptrolle. Bis 2030 will die deutsche Hauptstadt 70 Prozent ihrer CO₂-Emissionen senken, allerspätestens 2045 klimaneutral sein. Ein Marathon in Sprintgeschwindigkeit, bei dem Berlin von Forschung und Start-ups profitiert.

Die Roadmap zur Klimaneutralität hat die Landesregierung schon 2018 im Berliner Programm für Energie und Klimaschutz abgesteckt und im vergangenen Jahr weiterentwickelt. Darin eingeflossen sind erstmals die Empfehlungen eines neuen Klimarats aus einhundert zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern. Das ehrgeizige Programm dekliniert die zentralen Handlungsfelder und notwendigen Maßnahmen, mit denen die Mobilitätswende, energetische Gebäudesanierung und die Umstellung der Strom- und Wärmeversorgung auf fossilfreie Energieträger vorangetrieben werden sollen. Das Bundesland, das heute schon den geringsten Energieverbrauch pro Kopf in Deutschland hat und dessen Wirtschaft bundesweit die höchste Energieproduktivität aufweist, muss noch effizienter im Verbrauch werden und massiv auf erneuerbare Energieträger setzen.

Einhundert zufällig ausgewählte Berlinerinnen und Berliner erarbeiteten in einem Klimarat konkrete Vorschläge für die Erreichung der Klimaneutralität in Berlin. Im Juni 2022 wurden ihre Empfehlungen an Senat und Abgeordnetenhaus übergeben

Einhundert zufällig ausgewählte Berlinerinnen und Berliner erarbeiteten in einem Klimarat konkrete Vorschläge für die Erreichung der Klimaneutralität in Berlin. Im Juni 2022 wurden ihre Empfehlungen an Senat und Abgeordnetenhaus übergeben

Dabei hat ein Stadtstaat wie Berlin andere Voraussetzungen als die großen Bundesländer. „Wir haben nicht viele Freiflächen, aber Dächer noch und nöcher“, heißt es aus der Berliner Wirtschaftsverwaltung, die auch für Energiefragen zuständig ist. Berlin will alle Möglichkeiten nutzen, von Windkraft über Biomasse bis Geothermie, aber das Hauptpotenzial der Großstadt liegt in der Photovoltaik. Seit 2020 verfolgt der Senat deshalb einen ambitionierten Masterplan, damit bis Mitte der 30er Jahre mindestens ein Viertel der Berliner Energieproduktion aus Sonnenkraft gewonnen wird.

Schulen, Verwaltungen, Krankenhäuser – bis 2024 müssen auf den Dächern von öffentlichen Gebäuden Solarpanels glänzen, so sieht es ein Berliner Gesetz vor. Für neu entstehende private Bauten, ob Wohnhaus oder Werkhalle, gilt seit Januar 2023 ebenfalls die gesetzliche Pflicht zur Solaranlage. Berlin will zur Solarcity werden und setzt dabei auf breite Beteiligung. Während auf den Hallen der Messe Berlin mit 15 000 Photovoltaik-Modulen Deutschlands viertgrößtes Solarfeld entsteht, sollen auch die vielen Mieterinnen und Mieter in ihren Wohnungen als Verbündete für die Energiewende gewonnen werden. In einer Stadt, in der rund 85 Prozent der Bevölkerung zur Miete wohnen, ist das in der Summe eine Wucht. 500 Euro Zuschuss gibt es aus der Landeskasse, wenn man sich ein Solarkraftwerk auf den Wohnungsbalkon installiert (lesen Sie dazu auch „Drei Fragen an …“ auf S. 67). Die Förderung ist Teil des millionenschweren SolarPLUS-Programms, mit dem die Landesregierung Haushalte und Unternehmen beim Solarausbau unterstützt. Ein Fokus liegt dabei auf Zuschüssen für Energiespeicher, damit die gewonnene Energie auch nachts oder in sonnenarmen Zeiten genutzt werden kann. Und davon gibt es in Berlin bekanntlich mehr als genug.

Mit dem weltweit einzigartigen Heimkraftwerksystem der Berliner Firma Home Power Solutions lässt sich Solarstrom als grüner Wasserstoff speichern

Mit dem weltweit einzigartigen Heimkraftwerksystem der Berliner Firma Home Power Solutions lässt sich Solarstrom als grüner Wasserstoff speichern

Für weniger sonnenverwöhnte Orte wie Berlin sind immer effizientere Solarzellen, wie sie etwa im Berliner Hightech-Stadtteil Adlershof entwickelt werden, umso wichtiger. Der Clou der Forschungsgruppe um Chemieprofessor Steve Albrecht liegt in der Verbindung einer Siliziumsolarzelle mit einer Perowskit-Solarzelle. Die Beschaffenheit dieses Tandems ermöglicht es, verschiedene Teile des Sonnenlichts effektiver zu nutzen. Die Entwicklung sei ein wichtiger Beitrag zur Zeitenwende in der nachhaltigen Energieversorgung, freut sich der Forscher.

Auch zahlreiche Berliner Start-ups treiben Innovationen für die Energiewende voran. Einen Steinwurf entfernt von Steve Albrechts Laboren hat das Unternehmen Home Power Solutions seinen Sitz. Es hat ein weltweit einmaliges Kraftwerksystem für Eigenheime entwickelt, das einen Teil des Solarstroms vom Dach in den Keller bringt, um hausgemachten grünen Wasserstoff zu erzeugen, der als Speicher dient. Die so gebunkerte Energie kann dann im Winter beim Heizen zum Einsatz kommen.

Das Berliner Solar-Start-up Enpal bietet Photovoltaiksysteme zur Miete an und bildet die Installationsfachleute in einer eigenen Akademie aus

Das Berliner Solar-Start-up Enpal bietet Photovoltaiksysteme zur Miete an und bildet die Installationsfachleute in einer eigenen Akademie aus

Fragen der Effizienz und Speicherung sind nicht die einzigen, die kreative Köpfe und Politik beschäftigen. Seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine erleben Berlin und Deutschland einen regelrechten Solar-Boom. Hohe Energiepreise und die Sorge um die Versorgungssicherheit lassen immer mehr Menschen zu Solarfans werden. 2022 wurden in Berlin 4800 Anträge für den Anschluss einer Solaranlage gestellt, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Und es könnten noch deutlich mehr in Betrieb gehen, wäre da nicht der Fachkräftemangel im Handwerk.

Genau da setzen verschiedene Berliner Start-ups an. Nicht nur die Planung und Lieferung von Solaranlagen, auch die für die Installation nötigen Fachleute vermittelt das Start-up Zolar gleich mit – alles digital von einem Kreuzberger Hinterhof aus für Kunden in ganz Deutschland. Bundesweit erfolgreich unterwegs ist auch Enpal, ein weiteres Berliner Solar-Start-up, das inzwischen mit einer Milliardenbewertung zum sogenannten Unicorn avancierte. Das Unternehmen bietet ganzheitliche Photovoltaiksysteme zur Miete an und bildet die Installationsfachleute in einer eigenen Akademie aus. Die Fachkräftebedarfe hat auch der Berliner Senat im Masterplan Solarcity fest im Blick und arbeitet mit Verbänden zusammen, um gerade junge Menschen für das Klimahandwerk zu gewinnen. Derweil nimmt sich die deutsche und europäische Politik den Wiederaufbau der auf dem Kontinent einst starken Solarindustrie vor. Denn gerade die vergangenen Jahre haben gezeigt, welche Auswirkungen gestörte Lieferketten und die Abhängigkeit von Herstellern in Fernost haben. Solarzellen Made in Germany sollen künftig wieder für mehr Tempo und Verlässlichkeit bei der Energiewende sorgen.

Das Unternehmen Thermondo mit Sitz am Kreuzberger Moritzplatz bietet Wärmepumpen von der Planung bis zur Installation im Komplettpaket an

Das Unternehmen Thermondo mit Sitz am Kreuzberger Moritzplatz bietet Wärmepumpen von der Planung bis zur Installation im Komplettpaket an

Sonnige Zeiten also? Zur Deckung der Berliner Energiebedarfe und Erreichung der Klimaneutralität wird das allein nicht reichen. Deswegen wird an weiteren Stellschrauben gedreht. Sechs große Windräder ragen bis dato in den Berliner Himmel, auf Berlins Stadtgütern im Nachbarland Brandenburg sind es immerhin weitere 42. Hier wie dort sollen es künftig noch mehr werden. Mit einer Potenzialanalyse will der Berliner Senat in diesem Jahr weitere Flächen für große Windkraftanlagen auf dem Stadtgebiet verbindlich identifizieren. Will und muss, denn inzwischen ist jedes Bundesland gesetzlich verpflichtet, einen bestimmten Teil seiner Fläche für die Windenergie zu nutzen.

In der Großstadt wird es dabei nicht nur um Großanlagen gehen. Künftig sollen kleinere Windkraftanlagen auf Hochhausdächern installiert werden und die Gebäude mit Strom versorgen. Während auch diese Technologie auf das Potenzial von Dachflächen setzt, erobert die Wärmepumpe die Vorgärten in Deutschland. Wieder vorne mit dabei: ein Berliner Start-up. Ob Außenluft, Grundwasser oder Erdreich – Wärmepumpen nutzen ihre Umgebung als Wärmequelle und führen diese dem Haus als Heizenergie zu. In der Zentrale von Thermondo am Moritzplatz in Kreuzberg spürt man förmlich die neue Energie. Das Unternehmen, das Komplettpakete von der Planung bis zur Installation der Wärmepumpe vermittelt, gehört zu den am schnellsten wachsenden in Europa. Um die Zukunft des Heizens geht es ebenfalls beim Vorhaben des Landes, die Transformation der städtischen Wärmeversorgung in Richtung Klimaneutralität zu beschleunigen. Noch heizt ein bedeutender Anteil der Berlinerinnen und Berliner mit Erdgas oder Fernwärme. Das Land Berlin will das ändern und die Wärmewende – den Umstieg auf fossilfreie Energieträger – am liebsten in Eigenregie schneller vorantreiben und dafür auch das Fernwärmegeschäft von dem Unternehmen Vattenfall erwerben.

Bei einem Volksentscheid im März 2023 stimmten 180 000 Wahlberechtigte für eine Gesetzesänderung, um Berlin bis 2030 statt wie bisher angestrebt bis 2045 klimaneutral zu machen. Zwar war der Entscheid nicht erfolgreich, machte aber einmal mehr deutlich, dass der Kampf gegen den Klimawandel auch in Berlin eine der zentralen politischen Aufgaben ist

Bei einem Volksentscheid im März 2023 stimmten 180 000 Wahlberechtigte für eine Gesetzesänderung, um Berlin bis 2030 statt wie bisher angestrebt bis 2045 klimaneutral zu machen. Zwar war der Entscheid nicht erfolgreich, machte aber einmal mehr deutlich, dass der Kampf gegen den Klimawandel auch in Berlin eine der zentralen politischen Aufgaben ist

So geht der Wettlauf mit der Zeit auf allen Ebenen weiter und Berlin macht Tempo. Als eine seiner letzten Handlungen beschloss der alte Senat zusätzliche Beschleunigungsmaßnahmen für den Ausbau erneuerbarer Energien und auch die neue Landesregierung schaltet bei der Transformation in den nächsten Gang. Ein neues, bundesweit einzigartiges Milliardenprogramm soll dabei für richtigen Wumms sorgen. Denn der Klimawandel wartet nicht.