Personalpolitik im Nordsternhaus – Umbrüche und Kontinuitäten in der Senatsverwaltung für Justiz nach 1945

Teile der ausgewerteten Akten aus dem behördeneigenen Archiv im Nordsternhaus

Teile der ausgewerteten Akten aus dem behördeneigenen Archiv im Nordsternhaus

Welche Rolle spielte die Vergangenheit beim Wiederaufbau Berlins zwischen Nationalsozialismus und Kaltem Krieg? Das Forschungsprojekt „Im Nordsternhaus“ nähert sich der Frage anhand der Personalpolitik in der West-Berliner Justizverwaltung.

Von Sebastian Eller und Anna Lanzrath, Humboldt-Universität zu Berlin

Das Nordsternhaus heute

In Sichtweite des Rathauses Schöneberg, das am 26. Juni 1963 durch die Rede John F. Kennedys („Ich bin ein Berliner“) weltweit Bekanntheit erlangte, liegt das „Nordsternhaus“. Die Geschichte des Gebäudes ist so sehr durch Umbrüche gekennzeichnet, wie es die Lebensläufe der dort ab 1949 in der Senatsverwaltung für Justiz arbeitenden Juristen abbilden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wechselten sich im Nordsternhaus wie in den Lebensläufen der Juristen ab: Privatwirtschaft und juristischer Staatsdienst, Verfolgung und Wiedergutmachung, Umbrüche und Kontinuitäten.

Warum diese Umwälzungen? Hintergrund war zum einen die sogenannte „Gleichschaltung“ ab 1933, durch welche die Exekutivgewalt auf Reichsebene konzentriert wurde, zum anderen der spätere Kriegsausbruch. Beides bewirkte sowohl für die Tätigkeit der Justizverwaltung auf Landesebene in Berlin als auch für die individuellen Lebensläufe der Juristen einen tiefen Einschnitt. Hinzu kam, dass viele Juristen ihren Beruf aufgrund des Krieges oder antisemitischer und politischer Verfolgung verloren.

Das Nordsternhaus im Frühjahr 1951

Nachdem der ehemalige Nordsternversicherungskonzern, der das Gebäude 1914 errichtet hatte, seinen Sitz wegen der unsicheren Zukunft Berlins 1949 nach Köln verlegt hatte, zog in das nach ihm benannte Nordsternhaus in Folge der Auflösung des Magistrats von Groß-Berlin die Senatsverwaltung für Justiz ein. Es galt nun, zuallererst behördliche Normalität herzustellen und das Funktionieren der Rechtspflege durch eine funktionierende Verwaltung sicherzustellen. Hierfür war eine zentrale Aufgabe, neues Personal einzustellen, da aufgrund der „Gleichschaltung“ der Länder während der NS-Herrschaft keine Vorgängerbehörde mit genügend Personal existierte.

Wie funktionierte diese Personalpolitik? Wurde darauf geachtet, in diesem für den Rechtsstaat sensiblen Bereich unbelastete Personen einzustellen? Wurde erlittenes NS-Unrecht, insbesondere antisemitische oder politische Verfolgung, im Einstellungsprozess im Sinne einer Wiedergutmachung berücksichtigt? Welche Rolle spielte die neue Position Berlins als Frontstadt im Kalten Krieg?

Dr. Kurt Prager

Dr. Kurt Prager

Die Antworten hierauf sucht das vom Berliner Senat geförderte Projekt „Im Nordsternhaus“. Hierfür wurden 451 der im behördeneigenen Archiv gelagerten Personalakten von 1949 bis 1972 erfasst, systematisch ausgewertet und hiervon 34 aussagekräftige Einzelbiografien besonders beleuchtet. Durch die systematische Erfassung und Auswertung geben die Quellen Aufschluss über die NS-Belastung der Beamten und damit über die Personalpolitik der Senatsverwaltung ebenso, wie über die Biografien durch das NS-Regime verfolgter Juristen, die nach 1945 in den Berliner Justizdienst zurückkehrten.

Ein Beispiel unter den vielen Biografien ist Dr. Kurt Prager. Aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung verlor der Berliner Richter 1935 sein Amt, wurde später zur Zwangsarbeit eingesetzt und folgte nach Kriegsende seiner evakuierten Familie in die märkische Kleinstadt Treuenbrietzen.

Hier konnte er seine Tätigkeit als Richter am Amtsgericht wiederaufnehmen, spürte jedoch früh die neue politische Einflussnahme in der Sowjetischen Besatzungszone. Nachdem er ein Strafverfahren gegen einen CDU-Politiker entgegen dem Druck der sowjetischen Militärverwaltung eingestellt hatte, wurde eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet und zudem wenige Tage später sein beigeordneter Amtsanwalt verhaftet. Daraufhin entschloss er sich 1950 zur Flucht in den Westen. In West-Berlin als politischer Flüchtling anerkannt, arbeitete er als Richter in Wiedergutmachungsfragen am Landgericht und wurde zeitweise an das Wieder-gutmachungsamt der Senatsverwaltung abgeordnet.

Schreiben an den Justizsenator von Berlin vom 9.5.1950

Schreiben an den Justizsenator von Berlin vom 9.5.1950

Seine Akte wird für die Personalpolitik im Mai 1950 interessant. Während seines laufenden Beförderungsverfahrens zum Kammergericht schrieb der ehemalige Bürgermeister Treuenbrietzens überraschend an den Justizsenator West-Berlins. Er warf Dr. Prager vor, Unrecht im Namen des SED-Regimes gesprochen zu haben. Er wisse, „daß Dr. Prager Jude ist“, dennoch empöre sich sein Rechtsempfinden, wenn „jemand wie Dr. Prager als […] Verfolgter“ gelte. Seine Wiederanstellung sei zu verhindern.

Die Senatsverwaltung befragte daraufhin den „Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen“, einen durch die CIA finanzierten Verein, der Zeugenaussagen und Indizien zu Unrechtshandlungen in der DDR sammelte und von Behörden bei einschlägigen Personalverfahren zunehmend konsultiert wurde. Auch Dr. Prager selbst nahm zu den Vorwürfen Stellung und gab eine Reihe von Leumundszeugen an.

Es stellte sich heraus, dass Dr. Prager den Bürgermeister wegen übler Nachrede verurteilt hatte. Dieser hatte bei der lokalen Gründungsversammlung der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ behauptet, alle Opfer des Faschismus seien „Strolche, Lumpen und Verbrecher“, was ein Strafverfahren und das Ende sei¬ner Tätigkeit als Bürgermeister nach sich zog.

Verfügung des Justizsenators vom 28.07.1951: Aufforderung an die Leumundszeugen zur Stellungnahme

Verfügung des Justizsenators vom 28.07.1951: Aufforderung an die Leumundszeugen zur Stellungnahme

Der für das Beförderungsverfahren Dr. Pragers miteinbezogene West-Berliner Kammergerichtspräsident empfahl daraufhin, der Anschuldigung des Bürgermeisters keine weitere Beachtung zu schenken. Der Justizsenator hingegen, der sich wegen der politischen Brisanz der Sache persönlich annahm, forderte die Leumundszeugen zur Stellungnahme auf. Aus einem Aktenvermerk wird deutlich, dass er den entlastenden Stellungnahmen keinen Glauben schenkte. Einige der Leumundszeugen seien selbst Spitzel. Deswegen ordnete er an, die Belastungszeugen nochmals anzuhören. Ob eine solche Anhörung stattfand, geht aus den Akten nicht mehr hervor. Jedenfalls wurde der Anschuldigung letztlich kein Vertrauen geschenkt. Dr. Prager wurde aufgrund seiner herausragenden Leistungen zum Kammergericht befördert.

Die Personalakte von Dr. Kurt Prager ist ein eindrückliches Beispiel dafür, dass Ambivalenz die Per¬sonalpolitik im Nordsternhaus in der Zeit nach 1949 prägte. Neben der NS-Belastung oder NS-Verfolgung beeinflusste auch die bewusste Abgrenzung zum SED-Regime die Einstellung politisch Geflüchteter aus der DDR.

Um die 34 exemplarischen Lebensläufe aus den Personalakten zugänglich zu machen, wurden diese 2022 digitalisiert. Das Ergebnis dieser Arbeit ist die Website www.im-nordsternhaus.de, ein kleines „Wikipedia“ eigens für das Forschungsprojekt. Auf dieser Seite können sich Interessierte das Projekt interaktiv über die Biografien der einzelnen Personen, Aktenauszüge, Informationstexte, Statistiken und Filme erschließen.

Weitere Informationen: www.im-nordsternhaus.de