Jedes Haus hat eine Geschichte zu erzählen

Installation mit Dokumenten in der Wohnküche von Marie Rolshoven, 2016

Installation mit Dokumenten in der Wohnküche von Marie Rolshoven, 2016

Im Rahmen von „Denk Mal Am Ort“ (DMAO) erinnern engagierte Berlinerinnen und Berliner seit 2016 jedes Jahr im Mai jeweils an dem Wochenende, das auf den Tag der Befreiung der Stadt vom Nationalsozialismus folgt, mit Veranstaltungen an deren Wohn- und Lebensorten an Menschen, die während der NS-Zeit verfolgt wurden. Mittlerweile gibt es „Denk Mal Am Ort“ auch in München, Frankfurt am Main und Hamburg. Ein Gespräch mit der Initiatorin Marie Rolshoven.

Das Interview führte Eva-Lena Lörzer, Journalistin

DMAO 2023: Marie Rolshoven, Denise Citroen und Claudia Samter – Claudia Samter ist mit Fotos und Dokumenten nach Berlin angereist, um an ihre Großtante, Tante und Cousine zu erinnern, die in diese Wohnung zwangseingewiesen und von hier deportiert wurden

DMAO 2023: Marie Rolshoven, Denise Citroen und Claudia Samter – Claudia Samter ist mit Fotos und Dokumenten nach Berlin angereist, um an ihre Großtante, Tante und Cousine zu erinnern, die in diese Wohnung zwangseingewiesen und von hier deportiert wurden

Wie kam es zu Denk Mal Am Ort?
Die Idee dazu stammt aus Amsterdam. 2015 habe ich über meine Arbeit bei der „Gedenkstätte Stille Helden“ eine Frau kennengelernt, die bei „Open Jewish Homes“ mitgewirkt hat. Sie hat erzählt, dass sie in den Niederlanden einmal im Jahr die Türen der Häuser, in denen Menschen, die während der NS-Zeit als Juden verfolgt wurden, gelebt haben, öffnen und an sie erinnern. Und meinte: „Das könnt ihr doch auch in Berlin.“ Ich fand das eine großartige Idee und habe meine Mutter Jani Pietsch gefragt, ob wir das machen wollen. Sie war gleich begeistert. Wir hatten bereits 2007 herausgefunden, dass aus unserer Wohnung in Berlin-Schöneberg neun Menschen deportiert worden sind, und ihre Lebensgeschichten, soweit es ging, recherchiert. Dabei waren wir unter anderem auf Vermögenserklärungen der früheren Mieterinnen und Mieter gestoßen, auf denen der Wert ihrer Habe geschätzt wurde. Da standen dann Dinge wie: „Kinderstuhl, wertlos.“

Ludwig Katzenellenbogen als Berliner Einschulungskind

Ludwig Katzenellenbogen als Berliner Einschulungskind

Und dann? Wie lief Denk Mal Am Ort in Berlin an?
Über meine Arbeit hatte ich viele Kontakte zu anderen Menschen, die sich für das Thema interessierten. Meine Mutter hatte als Künstlerin und Historikerin selbst viel zu Enteignung und Zwangsarbeit gearbeitet und auch ein großes Netzwerk. Wir haben dann einfach zu einem Treffen eingeladen, aber auch Flyer gedruckt und dort aufgehängt, wo Stolpersteine liegen. Zum ersten Treffen kamen zu unserem Erstaunen gleich 30 Menschen. Darunter die Zeitzeuginnen Rahel Mann und Petra und Franz Michalski, die von da an aktiv bei DMAO mitgewirkt haben. Am 7. und 8. Mai 2016 fand DMAO dann das erste Mal mit gleich sechzehn Veranstaltungen in Berlin statt. In unserer Wohnung haben wir mit einer Installation aus den in den Archiven gefundenen Dokumenten an die früheren Bewohnerinnen und Bewohner erinnert.

Zu DMAO reisen auch Zeitzeugen und Angehörige der Erinnerten aus aller Welt an. Wie haben Sie die ausfindig gemacht?
Einige haben wir durch Recherchen gefunden, andere wie Claudia Samter aus Argentinien haben sich an uns gewandt. Sie hat in der Zeitung El País von DMAO erfahren und uns gebeten, sie bei den Recherchen zu ihrer Berliner Familie zu unterstützen. Dabei stellte sich heraus: Ihre Großtante, Tante und Cousine wurden aus unserer Wohnung deportiert. Von der Familie Katzenellenbogen wiederum wussten wir, dass sie bis zu ihrer Flucht nach Argentinien im Jahr 1939 in unserem Haus gelebt hat. Also haben wir das Paar, das jetzt in ihrer einstigen Wohnung lebt, gefragt, ob es an die Familie erinnern will. Meine Mutter konnte dann durch eine Facebook-Namenssuche Ludwig Katzenellenbogen in Israel ausfindig machen. Als er 2018 mit 92 Jahren das erste Mal nach so langer Zeit wieder in seiner einstigen Wohnung stand, war das sehr bewegend. Er konnte sich genau erinnern, wie es dort damals ausgesehen hatte, und hatte auch Fotos dabei. Davor gab es nur Unterlagen aus Archiven.

Ludwig Katzenellenbogen 2018 auf dem Sofa in seiner früheren Wohnung

Ludwig Katzenellenbogen 2018 auf dem Sofa in seiner früheren Wohnung

Wie ist DMAO mit Corona umgegangen?
Da wir uns nicht an den Orten treffen konnten, haben wir 28 Erinnerungskurzfilme gemacht. Die Tochter von Ludwig Katzenellenbogen beispielsweise wurde per Zoom in die frühere Wohnung ihres Vaters dazugeschaltet und hat zusammen mit den heutigen Bewohnern an ihren Vater und die Verfolgungs- und Fluchtgeschichten der Familie erinnert. Rahel Mann hat in dem Keller, in dem sie als Kind versteckt wurde, von ihrer Befreiung durch die Rote Armee erzählt. Die Filme haben alle englische Untertitel und sind auf der Website von DMAO, der berlinHistory app und im Visual Center von Yad Vashem aufrufbar.

„Sprechende Türklingeln“ in der Gervinusstraße

„Sprechende Türklingeln“ in der Gervinusstraße

Wie hat sich DMAO in Berlin in den letzten Jahren entwickelt?
In den letzten Jahren ist viel entstanden und gewachsen: In der Charlottenburger Gervinusstraße beispielsweise ist mittlerweile ein Großteil der Hausgemeinschaft in die Erinnerungsarbeit involviert. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben „sprechende Türklingeln“ angebracht.
Wenn Postboten oder Freunde an den einstigen Wohnungen der Verfolgten klingeln, hören sie die Nachkommen deren Geschichte erzählen. Die Menschen, die sich bei DMAO engagieren, und die Zeitzeugen und Nachkommen sind über die Jahre zu einer vertrauten Gemeinschaft geworden, die sich ständig vergrößert. Die Begrüßungs- und Abschlusstreffen von DMAO sind wie Familienfeiern. Dieses Jahr haben drei der mittlerweile über 70-jährigen Angehörigen ihre Kinder mitgebracht. Claudia Samter hat ihrer argentinischen Tochter gezeigt, wo die Familie der väterlichen Seite in Pankow gelebt hat. Dadurch bekam sie eine ganz andere Verbindung zu Berlin, zu der Stadt ihrer Vorfahren. Durch die dritte Generation kamen aber auch noch einmal ganz andere Themen auf.

Abschlusstreffen im Atelier Bergmann in Schöneberg. Im Uhrzeigersinn: Petra Michalski, Franz Michalski, Christiane Carstens, Sylvia Paskin, Ingolf Alwert, Benjamin Kuntz und Alina Tugend

Abschlusstreffen im Atelier Bergmann in Schöneberg. Im Uhrzeigersinn: Petra Michalski, Franz Michalski, Christiane Carstens, Sylvia Paskin, Ingolf Alwert, Benjamin Kuntz und Alina Tugend

Was für Themen?
Während es in den Jahren zuvor in den Erinnerungen der Angehörigen mehr um die Geschichte der verfolgten Familienmitglieder ging, kamen dieses Jahr auch trans-generationale Traumata zur Sprache. Claudia Samter hat beispielsweise erzählt, dass sie genau wie ihre Mutter immer etwas zu Essen in ihrer Handtasche dabeihat. Daraufhin hat Denise Citroen, die Gründerin von „Open Jewish Homes“, selbst Tochter von Holocaust-Überlebenden, gefragt: „Wollt ihr einmal in meine Tasche sehen? Da sieht es genauso aus.“ Besonders eindrücklich fand ich, wie Sylvia Paskin, die in diesem Jahr aus London angereist ist, um an ihre Großmutter und Großtante zu erinnern, erzählte, dass sie sich nie beklagen konnte, ohne dass ihre Mutter die Augenbrauen hochzog und fragte: „Was ist? Bist du in Auschwitz?“

Alina Tugend ist aus New York angereist und hat an ihre Familie in der früheren Wohnung erinnert

Alina Tugend ist aus New York angereist und hat an ihre Familie in der früheren Wohnung erinnert

Mittlerweile gibt es DMAO auch in Hamburg, Frankfurt am Main und in München. Wie geht es mit der Initiative weiter?
Das wüsste ich auch gerne. (Lacht). Es wäre schön, wenn DMAO zukünftig in jedem Bundesland in mindestens einer Stadt stattfinden könnte. Das lässt sich aber nur mit einer gesicherten Finanzierung realisieren. DMAO ist auf Spenden angewiesen. 2018 hatte DMAO eine Förderung vom Berliner Senat. In den letzten drei Jahren wurde DMAO von der Deutschen Postcode Lotterie und der Stiftung Berliner Sparkasse von Bürgerinnen und Bürgern für Berlin unterstützt. Eine Förderung für mindestens drei Jahre wäre hilfreich, um ein festes Team aufbauen und die Organisation für die einzelnen Städte aufteilen zu können. Das wäre auch ein Zeichen an die Angehörigen: Ihr werdet in Deutschland willkommen geheißen.
Weitere Informationen: www.denkmalamort.de