Hilde Lion – die heute nahezu vergessene Mitstreiterin der sozialen Frauenarbeit

Hilde Lion (1893-1970)

Hilde Lion (1893-1970)

Die frauenbewegte und promovierte Volkswirtin gehört heute zu den (fast) vergessenen Frauen, die sich als die „Dritte Generation“ der Frauenbewegung bezeichneten und zu ihrer Zeit die soziale Frauenarbeit als professionellen Beruf maßgebend geprägt hatten.

Von Manfred Berger

Hildegard Gudilla, von frühester Kindheit Hilde genannt, entstammte einer wohlhabenden und seit vielen Generationen in Hamburg ansässigen jüdischen Kaufmannsfamilie. Sie erblickte am 14. Mai 1893 als zweites von vier Kindern, wovon eines in sehr jungen Jahren starb, in der Hansestadt das Licht der Welt. Die Geschwister wuchsen nach der Scheidung der Eltern, entsprechend der damaligen Rechtslage, beim Vater auf. Ihre Bildung und Erziehung lag überwiegend in den Händen von wechselnden Gouvernanten und Dienstmädchen. Hilde Lion erhielt die damals für Höhere Töchter übliche Lyzeumsbildung, die sie auf eine Tätigkeit als Lehrerin vorbereitete. Die junge Lehrerin hörte 1916 auf einer Frauenversammlung die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer (1873-1954) reden und war unverzüglich hellauf begeistert, fasziniert von dieser charismatischen Frau. Fortan engagierte sich Hilde Lion n der Frauenbewegung. Von 1917 bis 1919 absolvierte sie die Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin in Hamburg an der dort neugegründeten „Sozialen Frauenschule“. An dieser unterrichteten Gertrud Bäumer und Marie Baum (1874-1964), die die Ausbildungsstätte in Personalunion leiteten. Auch die „Grande Dame“ der bürgerlichen Frauenbewegung, Helene Lange (1848-1930), war dort als Lehrerin tätig. Zeitlebens blieb Hilde Lion mit den drei Frauenrechtlerinnen verbunden, die ihr Engagement für die Frauenbewegung wesentlich beeinflusst hatten. Die Position der „Dritten Generation“ in der Frauenbewegung betreffend, resümierte Hilde Lion: „Wie wir als Frauen zu unserer Aufgabe in der Welt stehen, wollen wir erkennen und zum Ausdruck bringen. Nicht ein Programm, ein Bild des Wesens wollen wir zeigen… Wir sind Erben langerarbeitenden Besitzes. Daß wir keine Epigonen sind, haben wir zu beweisen.“.

Nach bestandenem Externenabitur und kurzzeitiger Tätigkeit als Parteisekretärin der „Deutschen Demokratischen Partei“ studierte die ausgebildete Wohlfahrtspflegerin Volkswirtschaft und Pädagogik an den Universitäten in Freiburg/Brsg., Berlin und Köln. In letztgenannter Stadt promovierte sie 1924 zum Dr. rer. pol. mit einer Arbeit über „Die klassenkämpferische und die katholisch-konfessionelle Frauenbewegung“. Die Dissertation erschien zwei Jahre später unter dem Titel „Zur Soziologie der Frauenbewegung“ und zählt heute noch zu den Standardwerken der Literatur zur Frauenbewegung, wenngleich sie seinerzeit äußerst kritisiert rezensiert wurde. Diesbezüglich ist nachzulesen: „Die Anlage der Arbeit ist deshalb von vornherein falsch, weil die sozialistische und katholische Frauenbewegung nicht Frauenbewegungen sind, sondern sozialistische und katholische Bewegungen, angewendet auf Frauen oder getragen von Frauen. Es ist nicht richtig, die an sich erfolgreichen Bewegungen, die von wirklichen Mächten: dem Sozialismus und der katholischen Kirche geführt werden, mit jenem aus der Natur der Frau und gerade der bürgerlichen Frau, hervorgegangen intellektuellen, seelischen und moralischen Bewegungen zu verwechseln… Deshalb kann die Verfasserin ihre Aufgabe, nämlich ‚Urform und Eigengesetzlichkeit einer Idee‘ in ihrem Verhalten zu ‚verschiedenen Weltanschauungen und den sich ändernden gesellschaftlichen Zuständen gegenüber‘ nicht lösen, weil sie in ihrer Hauptsache Unrecht hat, dass ‚die Idee der Frauenbewegung ursprünglich einfach sei‘“.

Hilde Lion (mit Blumenstrauß) im Kreis von Schülerinnen des „Aufbaukurses für Jugendleiterinnen“.

Hilde Lion (mit Blumenstrauß) im Kreis von Schülerinnen des „Aufbaukurses für Jugendleiterinnen“.

Hilde Lion übersiedelte 1925 nach Berlin. Sie unterrichtete an dem von Anna von Gierke (1874-1943) gegründeten und geleiteten „Sozialpädagogischem Seminar des Vereins Jugendheim Charlottenburg“. Dort zeichnete sie außerdem als Leiterin des neu eingerichteten einjährigen „Aufbaukurses für Jugendleiterinnen“ verantwortlich. Dieser bildete praxiserfahrene Kindergärtnerinnen für die Leitung von größeren sozialen Einrichtungen, beispielsweise für Kinder- und Jugendheime und mehrgruppige Kindergärten sowie für die Lehrtätigkeit an Kindergärtnerinnenseminaren, Frauen- und Berufsschulen aus.

Im Jahre 1929 wurde Hilde Lion zur Direktorin der „Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“ berufen. Alice Salomon (1872-1048), die die Bildungsinstitution am 25. Mai 1925 in Berlin ins Leben rief, hielt sie für diese Stellung als „die Beste… und eine der begabtesten Frauen ihrer Generation“. Die Frauenakademie verstand sich als eine „Hohe Schule der weiblichen Kulturleistung“. „Sinn dieser Frauenakademie ist“ schrieb Hilde Lion, „Frauen, die über mittlere Leistungen hinaus verlangen, Gelegenheit zu geben, tiefer einzudringen in die geistigen Grundlagen ihres Berufs. Darüber hinaus will die Akademie eine Stätte sein, an der Frauen als Frauen lehrend und lernend gemeinsam bemüht sein sollen, der praktischen sozialen Arbeit und dem kulturellen Leben neue Werte zukommen zu lassen.“. Um den hohen Anforderungen gerecht zu werden, mussten Ausbildungsinhalte, Lehrmethoden und Lehrpläne neu erarbeitet werden. Die Herausforderung bestand in erster Linie darin, zu experimentieren und zugleich das Renommee zu erringen, als Hochschule speziell für das weibliche Geschlecht respektiert zu werden.

Stoatley Rough School

Stoatley Rough School

Als die Nazis an die Macht kamen, löste am 9. Mai 1933 Alice Salomon die „Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“ auf. Die Akademiegründerin war sich bewusst, dass eine Bildungsinstitution, die Frauen auf leitende Positionen im Berufsleben vorbereitete, in den Augen der Nazis keine Zukunftsaussichten haben wird. Die weit verbreitete Ansicht, dass alle Schulunterlagen vernichtet wurden, damit sie nicht in die Hände der SA fielen, ist so nicht ganz richtig. Hilde Lion hatte eigenmächtig in einer „Nacht- und Nebelaktion“ Dokumente „beseitigt“, die von ihr und ehemaligen Schülerinnen in diversen Wohnungen versteckt beziehungsweise nach England geschmuggelt wurden. November 1933 emigrierte Hilde Lion nach England. Dort gründete sie mit Unterstützung der Quäker auf einem Landsitz mit Gutshaus in Haselmere /Surrey die „Stoatley Rough School“. Diese war eine international und interkonfessionell ausgerichtete Erziehungs- und Bildungseinrichtung. Fünf Jahre nach ihrer Gründung zählte die Schule bereits 100 Schülerinnen. Im Jahre 1960 stellte die „Stoatley Rough School“ ihren Betrieb ein. Ende der 1930er-Jahre hatte sich Hilde Lion privat, nicht beruflich, von ihrer langjährigen Lebenspartnerin Emmy Wolff (1890-1969) getrennt. Sie lebte fortan mit der Musikpädagogin und stellvertretende Schulleiterin Luise Leven (1899-1983) zusammen.

Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur weilte Hilde Lion mehrmals in West-Berlin sowie in vielen anderen Städten der Bundesrepublik Deutschland. Sie traf sich vor allem mit ehemaligen Schülerinnen, Kolleginnen und frauenbewegten Weggefährtinnen. In einem ihrer letzten Briefe an ihre Schülerinnen, die „ihre geliebte Lehrerin und Direktorin“ zu einem Klassentreffen einluden, an dem diese jedoch wegen länger anhaltender Krankheit nicht mehr teilnehmen konnte, schrieb Hilde Lion: „Ich habe in meinem Leben niemals begriffen, wie man sich nur einer Kultur oder Religion zugehörig fühlen kann oder jemand anderen wegen seines Geschlechts oder seiner ‚Rasse‘ für minderwertig betrachtet. Das gab es in meiner Familie nicht. Wir daheim liebten die deutsche Kultur, aber wir wussten auch um unsere jüdische Herkunft.“.

Hilde Lion starb am 8. April 1970 in Hindhead/Surrey. Ihr Tod blieb von der einschlägigen Fachwelt sowie der deutschen Frauenbewegung unbemerkt.

Autor und Aufruf:
Manfred Berger ist Diplom-Sozialarbeiter und Erziehungswissenschaftler. Er such für das Ida-Seele-Archiv Dokumente über die im Beitrag genannten Frauen und sozialen Einrichtungen. Adresse: Ida-Seele-Archiv, Am Mittelfeld 36, 89407 Dillingen, E-Mail: manfr.berger@t-online.de