Wir wussten nicht, welches Schicksal uns erwarten würde

Bild: privat / Family photo

Der Dampfer „General San Martin"
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Das Geld meiner Mutter reichte jedoch nicht aus, da sie die Schiffsfahrten für Hin- und Rückweg zahlen musste, denn es handelte sich um Touristenvisen. Ein Verwandter aus New York schickte den fehlenden Betrag nach Paris. Unsere Reise begann am Anhalter Bahnhof und führte über Paris nach Boulogne-Sur-Mer. Dort begann unsere Schiffsfahrt mit dem Dampfer „General San Martin“ der Hamburg Süd Schifffahrtsgesellschaft. Mich beeindruckten der Luxus des Schiffes und das gute Essen (wunderbares Frühstück, dann um 11 Uhr morgens Hühnerconsommé, Mittagessen, nachmittags Kaffee und wunderbares Abendessen).
Meine Mutter und ich waren zwei von 28 deutschen Juden, die sich auf dem Schiff befanden. Wir beschlossen alle, nur unter uns zu bleiben, da wir Angst hatten, uns mit den anderen Passagieren zu unterhalten.
Als wir in Montevideo ankamen und schon froh waren von Bord zu kommen, ließ die uruguayische Hafenpolizei uns nicht von Bord mit der Ausrede, mit den Visa sei irgendetwas nicht in Ordnung. Ein befreundetes Ehepaar namens Gongula konnte uns nur von unten zuwinken. Wir wussten nicht, welches Schicksal uns erwarten würde, höchstwahrscheinlich das Konzentrationslager, falls das Schiff uns nach Hamburg zurückbrächte.
Die „General San Martin“ kam am 28. Februar 1939 in Buenos Aires an. Sie verblieb 20 Tage im Hafen, um die Maschinen für die Rückfahrt nach Hamburg zu überholen. Die argentinischen Behörden ließen uns ebenfalls nicht von Bord. So konnten wir unsere lieben Verwandten, die Familie Albert Hirschowitz, die inzwischen nach Buenos Aires ausgewandert war, nicht in unsere Arme schließen. Wir konnten uns nur gegenseitig zuwinken. Sie kamen jeden Tag, nur um uns zu sehen. Als der Dampfer sich wieder auf die Rückfahrt machte, wurde unsere Gruppe von Tag zu Tag nervöser. Manche wollten sich ins Meer werfen. Ich besinne mich nur auf zwei Namen unserer Gruppe: Ein Ehepaar Friedländer mit Tochter Inge und ein junger Mann, Herr Bach.
Es beeindruckte uns alle sehr, wie schlau Herr Bach sich rettete – als Einziger: Er hatte Verwandte in Recife, Brasilien. Diese ließen sich von der Hamburg Süd zwei Ausweise ausstellen, um das Schiff in Pernambuco besuchen zu können. Es kam aber nur eine Person an Bord und als der Matrose mit seinem Gong läutete und schrie „Besucher von Bord“, ging Herr Bach ohne Gepäck ganz ruhig, seinen Ausweis zeigend, von Bord. Er benutzte den zweiten Ausweis.
Die Nervosität unter den jüdischen Passagieren steigerte sich von Stunde zu Stunde. Es wurde entschieden, dass wir Hilfsgesuche per Western Union Telegramm an Churchill, Roosevelt und De Gaulle schicken. Wir haben nie eine Antwort bekommen.
Meine Mutter sagte mir eines Morgens: „Wollen wir es doch auch so machen wie der Herr Bach und versuchen, im nächsten Hafen von Bord zu gehen.“ Wir hatten schon mehrere Kleider übereinander angezogen, aber im letzten Moment hatten wir nicht den Mut und blieben an Bord.

Dr. Moritz Hochschild rettete Tausenden Juden das Leben
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Wir hatten schon den Atlantik überquert, als wir plötzlich die Nachricht erhielten, dass wir in Lissabon endlich aussteigen können. Anscheinend hatte jemand uns 27 Personen Visen für Bolivien verschafft. Später wurde uns klar, dass wir dies Herrn Dr. Moritz Hochschild, Oruro, Bolivien, zu verdanken hatten, einem deutschen Juden, Agnostiker und Freund des damaligen bolivianischen Präsidenten Busch. Bis heute danke ich ihm und dem Land Bolivien dafür, dass so viele Menschenleben gerettet wurden, und dieser Text soll auch eine Hommage an ihn sein. Man nennt Hochschild den „bolivianischen Schindler“ und schätzt, dass er 10.000 Menschen das Leben gerettet hat. Mehr als Schindler.
Nach drei Wochen, die wir in Lissabon in einer Pension verbrachten (ich nehme an, das wurde vom jüdischen Hilfsverein bezahlt), gingen wir an Bord des italienischen Schiffes „Oracio.“ Im Gegensatz zu dem luxuriösen Dampfer „General San Martin“, wurden wir hier in der 3. Klasse im unteren Teil des Schiffes in einem Saal zusammen mit zirka 30 Sinti und Roma untergebracht, die ebenfalls auf der Flucht waren. Mitte Juni 1939 kamen wir in Arica, Chile, an.
Von dort aus nahmen wir den Zug nach Bolivien. Der erste Stop war der Ort Viacha. Dort erwarteten uns freiwillige Hilfspersonen mit Getränken und Sandwiches. Alsdann fuhr der Zug weiter nach Cochabamba. Dort wurden wir ebenfalls erwartet. Leider konnten wir uns nicht gleich dort niederlassen, da man uns sagte, wir müssten erst drei Wochen in einem Lager in Sacaba, einem kleinen Ort ganz in der Nähe, verbleiben, um uns zu akklimatisieren. Man hatte dort für uns einen Schlafsaal aufgebaut, in dem wir alle schliefen. Man schickte mich in die Schule, damit ich langsam Spanisch lernen konnte. Die Kinder waren sehr nett zu mir. Endlich war ich wieder unter Kindern, was in dem letzten halben Jahr nicht der Fall gewesen war. Als die Zeit in Sacaba zu Ende war, gab mir meine Lehrerin ein Zeugnis für die Schule in Cochabamba. Damit konnte ich das bekannte Lyzeum Adela Zamudio besuchen. Man brachte uns in einer Pension unter, deren Verwalter ein gewisser Herr Gutentag war. Im Ganzen waren wir eineinhalb Jahre in Cochabamba.
Da die Schwester meiner Mutter mit ihrer Familie in Buenos Aires ansässig war, wollten wir unbedingt dorthin. Das Visum von Bolivien nach Argentinien wurde uns jedoch von bolivianischer Seite nicht genehmigt. So planten wir, illegal nach Buenos Aires zu kommen.
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