Der Hunger nach "Jüdischkeit" - Bücher der She’erit ha-Pleta

Regal im Magazin mit unrestaurierter DP-Literatur

Regal im Magazin mit unrestaurierter DP-Literatur

Von Petra Figeac, Referentin für Ägyptologie, Christlichen Orient, Judaistik und Hebraistik, Staatsbibliothek zu Berlin

Seit 2009 sammelt die Staatsbibliothek zu Berlin die Bücher der jüdischen Displaced Persons (DP), jene Gruppe der Überlebenden der Shoa, die sich selbst – nach einem Biblischen Ausdruck – She’erit ha-Pleta, der Rest der Geretteten nannten.

Über die Jahre intensiven Sammelns ist der Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin nun auf über 440 Exemplare angewachsen, erst im Mai 2021 konnte wieder ein Konvolut von acht Kinderbüchern angekauft werden.

Der überwiegende Teil der Drucke kommt aus den amerikanischen Besatzungszonen, aus Föhrenwald, Feldafing, Landsberg, Zeilsheim bei Frankfurt, München, aber auch Exemplare aus Bergen-Belsen in der britischen Besatzungszone sind vorhanden und einige wenige Bücher stammen auch aus Berlin.

Oyf der Fray, 1947

Oyf der Fray, 1947

Die Lager der Displaced Persons entwickelten sich überall zu eine Art Shtetl, einer kleinen jüdischen Gemeinschaft mit einem intensiven jüdischen Kulturleben, die den Menschen ihren Lebensmut und ihr Selbstbewusstsein zurückgab. Es waren alle jüdischen Strömungen vertreten, von den Chassidim bis zu den Zionisten in allen politischen Schattierungen. Die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner kam aus Osteuropa, vor allem aus Polen. Eine große Rolle spielte für alle das Buch als Medium. Hilfsorganisationen wie der amerikanische „Joint“ und das „Vaad-Hatzala“ (Rettungskomitee) versuchten, den großen Hunger nach jüdischer Literatur zu stillen und organisierten Bücherlieferungen und Nachdrucke. Es ist erstaunlich, dass die Überlebenden quasi sofort nach der Shoa anfingen, religiöse Werke nachzudrucken und neu zu schaffen, die frühen literarischen Verarbeitungen der Katastrophe zu veröffentlichen, Bücher und Lehrbücher herzustellen, die u. a. auf das Leben in Palästina vorbereiten sollten und die ersten unmittelbaren Augenzeugenberichte der Shoa zu liefern.

Letztere sind Publikationen und Zeitschriften mit politischem und zeitgeschichtlichen Inhalt, die für die geschichtliche Einordnung der Shoa von unschätzbarem Wert sind.

Die Mehrzahl der Bücher der Berliner Sammlung, aktuell circa 270, gehören in die Gattung der religiösen Werke, etwa 20 sind Lehrbücher, 50 gehören zur Gattung der Literatur und circa 100 sind den zeitgeschichtlichen Publikationen zuzuordnen.

Vaad-Hatzala Psalmenausgabe, 1948

Vaad-Hatzala Psalmenausgabe, 1948

Nach den langen Jahren der Unterdrückung war die Bedeutung der „Jüdischkeit“ groß: Jüdische Feste wurden wieder gefeiert und hatten nach der Shoa ein anderes Gewicht. Beim Pessach- und Purimfest spielten die Themenkomplexe von Unterdrückung, Versklavung, Bedrohung und schließlich die Rettung und Befreiung eine zentrale Rolle. Sie wurden vor dem Hintergrund der jüngsten Katastrophe betrachtet und aktualisiert. Lange vermisste jüdische Rituale wurden wiederaufgenommen: Trauungen, Beschneidungen und natürlich der Sederabend, die Mahlzeit am Beginn des Pessach-Festes. Die Texte und Anweisungen für dieses Fest stehen in der Haggada.

In der Displaced Persons-Sammlung der Staatsbibliothek befinden sich 15 Haggadot, die meisten wurden in München gedruckt, vier in Föhrenwald. Das
bekannteste dieser Bücher ist die so genannte Survivors‘ Haggada. Sie wurde von Josef-Dov Sheynson gestaltet, dessen Initialen sich auf dem Titelblatt befinden. Die Holzschnitte stammen von Miklós Adler. Die Haggada wurde für den ersten „Passover service / Munich enclave / Munich, Germany, April 15-16, 1946“, also das erste Pessachfest nach der Befreiung in München hergestellt. Der Holzschnittkünstler Miklós Adler wurde 1909 in Ungarn geboren und starb 1965 in Tel Aviv.

Josef-Dov Sheynson (1907-1990) arbeitete auch an der Zeitschrift Nitzotz mit und spielte eine wichtige Rolle in der Kulturlandschaft der She’erit ha-Pleta.

Dos lid fun Yidishn DI-PI, 1947

Dos lid fun Yidishn DI-PI, 1947

Besonders hervorzuheben bei den religiösen Werken ist auch der Survivors‘ Talmud. Dieses 1948 in München und Heidelberg bei Winter gedruckte Werk besteht aus 19 großformatigen Bänden. Das Exemplar der Staatsbibliothek enthält eine persönliche Widmung von Rabbiner Samuel Aba Snieg an die US Army.

Ein Beispiel für eine frühe literarische Verarbeitung der Katastrophe ist das Buch „Dos Geto in flamen“ von Shmuel Gelbart (1908-1986), das 1948 in München erschien und über die Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Kaunas (Litauen) berichtet. Es ist seinem Bruder gewidmet, der 1942 im Ghetto umgekommen ist.

Ende der 40er Jahre neigte sich die Zeit in den Lagern der Displaced Persons einem Ende zu, der Staat Israel wurde 1948 gegründet und die Einwanderungsbeschränkungen gelockert. Die Menschen verließen nach und nach den ungeliebten deutschen Boden. Eines der letzten Bücher dieser Zeit ist das 1949 im Selbst-verlag gedruckte Büchlein „Geven a sheyres hapleyte“ [Es war eine She’erit ha-Pleta] von Baruch Graubard (1900-1976), welches das alltägliche Leben in den Camps darstellt. Das Titelblatt spielt mit dem Motiv der She’erit ha-Pleta, einem Baumstumpf, aus dem neue Zweige wachsen.

Die Staatsbibliothek hat den Anspruch, quasi universell zu sammeln. Ein besonderes Anliegen ist die Restaurierung der Sammlung. Der Verein der Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin e.V. hat eine Rettungsaktion gestartet und Spenden zur Verfügung gestellt, so dass die ersten 70 schwer geschädigten Bände nun restauriert werden können. Papier und Bindematerial dieser Zeit sind von schlechter Qualität und diese dinglichen Zeitzeugen zerfallen, wenn wir nicht handeln. Die Staatsbibliothek würde sich über jedes „überlebende“ Buch oder Zeitschriften aus den Lagern der Displaced Persons freuen – vor allem aus Berlin – und garantiert dafür eine professionelle Bewahrung für die Zukunft!