Jüdische Berliner Modegeschichte - und was blieb

Das im Jahr 2000 fertiggestellte Denkzeichen Modezentrum Hausvogteiplatz von Rainer Görß

Das im Jahr 2000 fertiggestellte Denkzeichen Modezentrum Hausvogteiplatz von Rainer Görß

Von Uwe Westphal, Kunsthistoriker, Autor und Journalist

Vor einigen Jahren bekam ich eine E-Mail aus England. Die Dame, die mir schrieb, hatte ich zuvor schon mehrmals in Brighton getroffen. Sie war bis 1938 als Modezeichnerin bei der Berliner Modefirma Firma Lewinsky & Mayer am Hausvogteiplatz 13 angestellt, dann gelang ihr die Flucht vor den Nazis.

Sie erzählte mir von den Modenschauen und wie gerne sie in Berlin gearbeitet habe. Nun wollte sie, dass ich ihre Tochter und ihren Enkel treffe, die zu Besuch in Berlin waren.

Kurze Zeit später stand ich mit den dreien vor dem Denkzeichen Modezentrum Hausvogteiplatz von Rainer Görß auf eben jenem Platz. Es war eine nachdenkliche und bewegende Begegnung, denn bisher wussten die Enkel nur wenig aus den Erzählungen der Großmutter und was sie in Berlin erleben musste. Und jetzt standen sie gerade einmal 20 Meter entfernt von dem Firmengebäude, in dem ihre Oma ein und aus ging – bis zur Flucht.

Aber was war eigentlich der Hausvogteiplatz in den 1920er und 1930er Jahren? Was machte die Berliner Mode weltweit so attraktiv und begehrenswert? Wer waren die Menschen, die sie herstellten? Dazu ist ein Blick in die Berliner Modegeschichte notwendig.

Marlene Dietrich in „Marokko“ (1930)

Marlene Dietrich in „Marokko“ (1930)

Es waren vor allem die jüdischen Firmen, die Berlin zu ihrem guten Ruf als Modemetropole verhalfen. Schon seit 1836 siedelten sich hier Modefirmen an, die alsbald verstanden hatten, dass man mit seriell gefertigter modischer Bekleidung auch Geld verdienen konnte. Schon bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs arbeiteten hier 2.700 jüdische Modeherstellerinnen und Modehersteller, wie Hermann Gerson oder Valentin Manheimer.

Die Zwanziger Jahre machten den Weg frei für eine neue Mode, die das moderne Europa verkörperte und damit eine große Kundschaft anzog. Mode war etwas, das Schriftstellerinnern und Schriftsteller, die Filmindustrie, Architektinnen und Architekten und Komponistinnen und Komponisten anzog. Es herrschte eine wahre Gründereuphorie, vielleicht ähnlich den Start-Ups heute.

Die Voraussetzungen waren optimal. Der Bedarf an neuer und günstig zu kaufender modischer Bekleidung wuchs so rasch wie die Metropole Berlin selbst. Die Berliner Konfektion entstand.

Berlin wurde zur Großstadt und Büroangestellte zur Kundschaft der Warentempel von Wertheim bis Nathan Israel. Die Berliner Konfektionärinnen und Konfektionäre, die heute eher als Designerinnen und Designer bezeichnet würden, kopierten die schnell wechselnden Modetrends der Haute Couture, was das Zeug hielt. Sie wussten: Paris macht Mode, aber Berlin produziert und verkauft sie.

Die Mode ermutigte Frauen, sich zu emanzipieren und mitzubestimmen. So entstand eine neue Modekultur der 1920er Jahre, die heute noch immer in Filmen wie der Erfolgsserie „Babylon Berlin“ und Erzählungen bestaunt wird.

Doch es gab zwei weitere Entwicklungen, die der Berliner Mode zu einem globalen Erfolg verhalfen. Da waren zum einen die schnellen saisonalen Wechsel von Modetrends, die durch die Liberalisierung und Frauenemanzipation dauerhaft das physisch und psychisch strangulierende Korsett aus der Mode verbannten. Und zum anderen die „Erfindung“ der Warenhäuser nach amerikanischem Vorbild. Ohne neue Vertriebswege, das wussten die meisten Modefirmen in Berlin, wären keine erhöhten Umsätze möglich geworden. Im Jahre 1890 registrierte das Berliner Gewerbeamt bereits 371 Betriebe in der Damenkonfektion und Accessoires-Herstellung, drei Viertel davon hatten jüdische Besitzerinnen und Besitzer. Jüdische Firmen behielten eine dominierende Rolle im Export der begehrten Berliner Mode, die nun als „Berliner Chic“ weltweit neue Kunden fand.

Blick in den Innenraum für Modevorführungen bei der Firma Leopold Seligmann, Berlin 1931

Blick in den Innenraum für Modevorführungen bei der Firma Leopold Seligmann, Berlin 1931

Der Berliner Hausvogteiplatz war das Zentrum der deutschen Modeentwicklung. Trotz oder gerade wegen dieser Erfolge flammten immer wieder antijüdische Ressentiments auf. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs begann eine neue Zeit innovativer Modegestaltung. Berlin erlebte dennoch die prosperierendste und schöpferischste Phase der Modeindustrie mit fast 90.000 Beschäftigten. Die erste Gründergeneration der Modeschöpferinnen und Modeschöpfer wurde durch junge Talente mit frischen Stil-Ideen abgelöst.

So wurde aus der Mode “Fashion” und Lebensstil, sie faszinierte Malerinnen und Maler wie Ernst Ludwig Kirchner oder Jeanne Mammen und Chansontexter und Librettist Marcellus Schiffer und seinen kongenialen Komponisten Mischa Spolianski. Diese schrieben für populäre Berliner Revuen Lieder über die Mode und was sich diese so alles erlaubte und wagte. Das BAUHAUS beeinflusste die Mode durch seinen nüchternen und klaren Stil, die „Neue Sachlichkeit“. Umgekehrt stimulierten die Modeschöpferinnen und Modeschöpfer vom Hausvogteiplatz den Modernismus bei der Gestaltung von Stoffen.

Fritz Lang ließ sich von den Modeentwürfen aus Berlin für seinen Film „Metropolis“ (1927) inspirieren. Marlene Dietrich kaufte im Modehaus Gerson und bei den Brüdern Manheimer. Ihr herber, männlicher Stil im schwarzen Frack oder Anzug, zu sehen beispielsweise 1930 im Film „Marokko“ von Josef von Sternberg, war und ist immer noch stilprägend. Die Kreativität der Berliner Modemacherinnen und Modermacher kannte keine Grenzen.

Sogar sogenannte „Kokain-Kostüme“ hingen in den Schaufenstern, die die zwielichtige Berliner Partyszene abbildeten. Oder auch der „Garçonne“-Stil, eine Frau, die sich kleidet wie ein Mann, der aussieht wie eine Frau. Die changierende Vielfalt riss die stereotypen Geschlechterzuschreibungen in der Mode rasch ein. Und wieder waren es jüdische Modedesignerinnen und Modedesigner, welche hier und später die Avantgarde bildeten. Die folgenden Namen stehen neben vielen anderen für Mut, Designideen und Können: Stern, Flatow und Wachsner, S. Friedländer und Löwenthal, Leopold Seligmann, Norbert Jutschenka, Leopold Lindemann. Und im Vordergrund natürlich die ganz großen Namen der Szene: die Gebrüder Gerson/Freudenthal, Valentin Manheimer und das Kaufhaus Nathan Israel. Berlin war modischer Trendsetter in Europa und in der ganzen Welt. Die hohen Exportzahlen garantierten geschäftlichen Erfolg, der wiederum neue Modeideen hervorbrachte.

Doch mit dem Januar 1933 und dem ersten Boykott gegen jüdische Geschäfte im April, erfolgte der wohl drastischste Schnitt in der nun fast 100-jährigen Tradition der Berliner Mode. Alles, was die Mode an Liberalismus und Leistung geschaffen hatte, galt den Nazis als „verjudet“ und „dekadent“. Nun wurden den jüdischen Konfektionsfirmen vor allem in Berlin sukzessive ihre Geschäftsgrundlagen entzogen. Kredite wurden gesperrt, Firmeninhaberinnen und Firmeninhaber bedrängt und zum Verkauf ihrer Unternehmen gezwungen. Mit den Tausenden von Enteignungen jüdischen Eigentums ging es den Nationalsozialisten sowohl ums Geld und die Immobilien der Modefirmen am Hausvogteiplatz, aber auch um eine umfassende kulturelle Vernichtung der Berliner Mode. Diese stand für alles, was die Nazis verabscheuten: Liberalismus und Kreativität.

Dieses Modell wurde von Lissy Edler für Hermann Löb & Levy entworfen.

Dieses Modell wurde von Lissy Edler für Hermann Löb & Levy entworfen.

Sechs Jahre nach dem staatlich organisierten Raubzug auf die jüdischen Berliner Modefirmen war die Branche am Ende. Konfektionäre und Modeschaffende flüchteten, so es ihnen gelang, ins Ausland. Ihre Betriebe und ihr Kapital gingen an die Nazisympathisanten unter der „arischen“ Konkurrenz. Ab 1940 halfen Berliner Bekleidungsfirmen und deren Modeschöpferinnen und Modeschöpfer den Nazis, Zwangsarbeitslager in der Nähe der Konzentrationslager zu organisieren. Hugo Boss, der „Schneider des Führers“, und die Protegés der Nazis halfen eifrig dabei. Und genau hier liegt der Anfang vom Ende einer deutschen Modegeschichte, die vor allem eine jüdische Geschichte ist.

Was ist geblieben vom alten Mode-Ruhm Berlins und der jüdischen Tradition? Bis heute hat sich die Branche nicht von der so nachhaltigen Zerstörung erholt. Die Tatsache, dass heute nur wenige Studentinnen und Studenten des Modedesigns von dieser Vergangenheit wissen, liegt vor allem an der deutschen Modeindustrie. Im Gegensatz zu anderen deutschen Industrien, die sich zu ihrer Vergangenheit und den Naziverbrechen immerhin spät bekannten, kümmerten sich die Nachkriegsfirmen der Berliner Mode wenig um ihre Vergangenheit. Relevante Berliner und deutsche Modefirmen oder ihre Verbände und Lobbys, verschweigen ihre eigene Geschichte, eine von künstlerischer Tradition und auch Verbrechen. Der Fashion Council Germany und die Fashion Week Frankfurt, heute für die Belange der Modebranche, neue Trends und Design-Talente aktiv, verschließt sich der Würdigung der Modegestalterinnen und Modegestalter, die aus Deutschland vertrieben wurden. Während Modedesignerinnen und Modedesigner in Frankreich, den USA, Italien oder Großbritannien bewusst die Designgeschichte in ihre Arbeit einbeziehen, spielt die gesamte Historie der Berliner Mode, eben auch der Abschnitt von 1933 – 1945, hier kaum eine Rolle. Bis heute gibt es in Deutschland keine Design-Auszeichnung, die den Namen einer der Gründer der deutschen Mode wie Manheimer, Gerson oder Levin trägt. Sicher gibt es auch heute wieder Talente in Berlin. Aber die Modeindustrie hat sich dramatisch verändert. Sie ist global geworden – aber ohne Geschichtsbewusstsein. Junge Designerinnen und Designer versuchen ihre Karriere anderswo zu machen.

Mit dem erzwungenen Ende der jüdischen Modefirmen 1939 wurde nicht nur eine Kultur und Tradition zerstört, sondern auch das Wissen um Innovation und mutigen Neuanfang. Ohne dieses Kartell des Schweigens einzureißen wird es wohl kaum einen inspirierten Neuanfang für eine deutsche Mode geben. Und bis dahin werden die Angehörigen der einstmals in Berlin tätigen Modeschöpferinnen und Modeschöpfer bei ihren Besuchen in der Metropole nur noch Fragmente der Erinnerung finden. So wie meine englischen Gäste vor einigen Jahren auf dem Hausvogteiplatz.

Uwe Westphal ist Autor und Journalist. Sein Buch „Modemetropole Berlin 1836-1939 – Entstehung und Zerstörung der jüdischen Konfektionshäuser“, erschien 2019 im Verlag Henschel & Seemann, Leipzig. Die englische Ausgabe des Buches erschien im selben Jahr in den USA.