„Wie all’ die Millionen Andren, sie starben für nichts, für nichts.“

Der australische Komponist George Dreyfus widmet sein neues Chorwerk der Widerstandsgruppe um Herbert Baum.

Von Albrecht Dümling, Musikwissenschaftler und -kritiker

George Dreyfus (Zweiter von links) in der Theodor-Herzl-Schule Berlin, 1938

George Dreyfus (Zweiter von links) in der Theodor-Herzl-Schule Berlin, 1938

George Dreyfus wurde 1928 in der rheinischen Stadt Elberfeld geboren, die sich ein Jahr später mit Barmen zur Stadt Wuppertal vereinte. Angesichts der zunehmenden Judenverfolgung zog die Familie 1935 nach Berlin. Die Hoffnung auf größere Sicherheit in der Hauptstadt erwies sich jedoch als trügerisch, bis die Novemberpogrome von 1938 endgültig die Ausreise erzwangen. Im Sommer 1939 gelangte der elfjährige George Dreyfus auf einem Kindertransport nach Australien, die Eltern folgten wenig später. Mit einer Teppichreinigung versuchte der Vater in Melbourne eine neue Existenz aufzubauen. Sein Sohn lernte während der Schulzeit das Klarinettenspiel. Ab 1947 wandte er sich dem Fagott zu und wurde ein Jahr später Fagottist in einer Operncompagnie. Nach dem frühen Tod des Vaters erhielt die Mutter aus Deutschland eine Wiedergutmachung und konnte mit dem Geld dem Sohn ein neues Fagott kaufen. Nach weiterer Ausbildung wurde George Dreyfus ab 1956 Orchestermusiker in Perth und Melbourne, bis er sich 1965 entschloss, diese Tätigkeit zu beenden.

Durch das Nachahmen anderer Werke war er autodidaktisch zum Komponisten geworden. Während seine ersten Stücke noch ganz traditionell waren, orientierte sich Dreyfus ab 1961 an der europäischen Avantgarde. Gut bezahlte Filmmusikaufträge ermöglichten es ihm dann, eine Existenz als freischaffender Komponist aufzubauen. Bald tat sich Dreyfus auch mit Opern und Symphonien hervor. Besonders bekannt wurde sein Sextett für Didgeridoo und Blasinstrumente. Nach Schwierigkeiten mit dem australischen Opernbetrieb schuf er für Deutschland die Opern „Rathenau“ und „Die Marx Sisters“, die in Kassel und Bielefeld zur Uraufführung kamen.

George Dreyfus dirigiert das Melbourne Symphony Orchestra bei Tonaufnahmen zu seiner Filmmusik, 21. Februar 1980.

George Dreyfus dirigiert das Melbourne Symphony Orchestra bei Tonaufnahmen zu seiner Filmmusik, 21. Februar 1980.

Da Dreyfus vom Komponieren leben wollte, bemühte er sich um Anpassung an die Gegebenheiten – ohnehin verstand er Anpassung als typisch jüdische Verhaltensform. Fast alle seine Werke entstanden für bestimmte Zwecke. Für Kinder schrieb er beispielsweise das Schul-Musical „The Takeover“, die „Festmusik der Stadt Wuppertal“ für eine Veranstaltung seiner Heimatstadt. Mit wachem Interesse sucht der Komponist bis heute nach Gelegenheiten, seine Werke aufzuführen, und hat dabei nicht nur Australien im Blick. Als er von der deutschen Initiative erfuhr, 2021 mit zahlreichen Veranstaltungen an „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ zu erinnern, fühlte er sich zu einem eigenen Beitrag herausgefordert. Am 30. Juni 2020, drei Wochen vor seinem 92. Geburtstag, vollendete George Dreyfus in Melbourne sein Chorwerk „Herbert-Baum-Gruppe zum Gedenken“.

George Dreyfus mit Grundschulkindern in Wagga Wagga, einer Stadt in New South Wales, Oktober 1985

George Dreyfus mit Grundschulkindern in Wagga Wagga, einer Stadt in New South Wales, Oktober 1985

Dreyfus erinnert damit an den 1912 geborenen jüdischen Widerstandskämpfer Herbert Baum. Dieser hatte am 18. Mai 1942 mit seiner kommunistischen Gruppe einen Brandanschlag auf die im Berliner Lustgarten gezeigte antisowjetische Ausstellung „Das Sowjetparadies“ verübt. Vier Tage später wurde er zusammen mit mehreren Gefährten von der Gestapo verhaftet und am 12. Juni in seiner Zelle erhängt aufgefunden. Über zwanzig Mitglieder der Widerstandsgruppe wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Schon am 28. Mai waren in einer „Vergeltungsaktion“ 500 jüdische Männer verhaftet worden. Die Hälfte von ihnen wurde sofort erschossen und die andere Hälfte in Konzentrationslager gebracht. Der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ wurde mitgeteilt, die Aktion stünde in Zusammenhang mit dem Anschlag auf die Ausstellung im Lustgarten, an der Juden beteiligt gewesen seien.

George Dreyfus bei der Arbeit im Musikzimmer seines Hauses in Camberwell, Victoria, Oktober 2017

George Dreyfus bei der Arbeit im Musikzimmer seines Hauses in Camberwell, Victoria, Oktober 2017

Obwohl sich die jüdische Gemeinde zunächst nicht mit dieser Aktion identifizieren wollte, erhielt Herbert Baum nach dem Krieg ein Ehrengrab auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee. Auf der Rückseite des Grabsteins sind die Namen von 27 weiteren Mitgliedern der Herbert-Baum-Gruppe aufgeführt, die 1942/43 hingerichtet wurden. Die Straße zum Eingang des Friedhofs trägt seit 1951 Baums Namen. Auch im Lustgarten wurde 1981 in Erinnerung an die von Baum geleitete kommunistische Gruppe ein Gedenkstein errichtet.

George Dreyfus am Gedenkstein für die Herbert-Baum-Gruppe im Berliner Lustgarten, 2017

George Dreyfus am Gedenkstein für die Herbert-Baum-Gruppe im Berliner Lustgarten, 2017

Mit seinem neuen Chorwerk widmete sich George Dreyfus dem jüdischen Widerstand wäh­rend der NS-Zeit. Der von ihm selbst verfasste deutschsprachige Text spricht von illegaler politischer Arbeit, erwähnt aber auch die fatalen Folgen des Brandanschlags: die Zerschlagung der Gruppe und die Erschießung jüdischer Geiseln. Mit seinem vierstimmigen A-cappella-Chor knüpfte Dreyfus an die sozialistischen Arbeiterchöre Hanns Eislers an; diesen Schönberg-Schüler und Brecht-Freund, der auch die Nationalhymne der DDR komponierte, hat er einmal als „my cultural hero and role model“ bezeichnet. Die neue Komposition besteht aus vier großen, meist konsonanten Teilen, in denen vom Sopran angestimmte, kurze Motive jeweils von den anderen Stimmen aufgegriffen werden. Einzelne Textpassagen werden gesprochen, so der Appell „Genossen! Der Sieg ist nicht fern, er wird unser sein!“. Nach dem Bericht über die erschossenen jüdischen Geiseln beginnt der Schlussabschnitt („Kopf hoch!“) mit einem leisen Aufruf zur Geduld. Der Erwähnung eines mit dem Fallbeil getöteten „Revolutionärs“ folgt dann aber im Fortissimo der verzweifelte Ausruf: „Wie all’ die Millionen Andren, sie starben für nichts, für nichts!“. Die hier verwendete Fanfarenmelodik erinnert an eines der bekanntesten Kampflieder Hanns Eislers, seinen „Linken Marsch“ auf einen Text von Wladimir Majakowski.