„Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland“

Die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin

Von Cilly Kugelmann, leitende Kuratorin der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin

Am 23. August hat das Jüdische Museum Berlin eine neue Dauerausstellung eröffnet. Im Libeskind-Bau präsentiert sie auf 3.500 Quadratmetern die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis in die Gegenwart mit neuen Schwerpunkten und neuer Gestaltung. Im Zentrum steht die Beziehung der Juden zu ihrer christlichen und im weiteren Verlauf säkularen Umwelt – zwischen Zugehörigkeit und Ausgrenzung, nachbarschaftlichem Zusammenleben, Vertreibungen und Gewalt.

Tora-Rolle, Hohensalza (Inowrocław), 1903

Tora-Rolle, Hohensalza (Inowrocław), 1903

In der Ausstellung verfolgen wir ein neues Konzept: Wir bereichern den Rundgang durch die historischen Epochen mit Einblicken in jüdische Kultur und Tradition und zeigen, wie Judentum heute gelebt wird. In sogenannten Themenräumen können sich Besucherinnen und Besucher mit religiösen Aspekten des Judentums, mit Kunst, Musik oder unseren Familiensammlungen beschäftigen.

Das Rückgrat der Ausstellung bilden fünf historische Epochen: Sie reichen von den Anfängen jüdischen Lebens in Deutschland über die Emanzipationsbewegung bis in die Gegenwart. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Zeit des Nationalsozialismus sowie auf dem Epochenraum „Nach 1945“, der von den ersten Stimmen der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die Gegenwart reicht. Acht thematische Inseln laden Besucherinnen und Besucher ein, sich in jüdische Kultur und Tradition zu vertiefen: Was ist im Judentum heilig? Wie und warum folgen Juden den Geboten? Welchen Klang hat das Judentum?

Auch eine Spur künstlerischer Arbeiten zieht sich durch die Ausstellung und ist an unterschiedlichen Stellen des Rundgangs als zeitgenössischer Kommentar zu lesen. Unter anderem sind Arbeiten von Gilad Ratman, Hagit Hollander-Shimoni, Anselm Kiefer, Edmund de Waal, Daniel Josefsohn, Yael Bartana, Yael Reuveny und Clemens Walter zu sehen.

Historische Epochen

Aschkenas

Der historische Teil der Ausstellung beginnt im frühen Mittelalter. Es ist nicht ganz klar, wann sich erste jüdische Gemeinden im nördlichen Mitteleuropa ansiedelten, einem Gebiet, das unter dem Namen „Aschkenas“ in die Geschichte eingegangen ist. Von einigen Funden wissen wir jedoch, dass sich Juden bereits im 4. Jahrhundert nördlich der Alpen aufgehalten haben, auch wenn es sich noch nicht um jüdische Gemeinden gehandelt haben wird. Spätere Quellen geben Auskunft über eine große Vertrautheit zwischen Juden und Christen, aber auch deren Distanz, die im „Buch der Frommen“ (12. und 13. Jahrhundert) überliefert ist. Beispiele hierfür werden in einem illustrierten Blätterbuch entfaltet. Eine Medienstation zeigt, wie christliche Vorstellungen von Juden in illuminierten Manuskripten von ­jüdischen Illustratoren in hebräische Manuskripte übernommen und umgedeutet werden.

In der Frühen Neuzeit

In der frühen Neuzeit stellen wir den Buchdruck ins Zentrum, um die Übernahme neuer Techniken zu demonstrieren, die eine enge Zusammenarbeit von Juden und Christen erforderte. Der Wanderdrucker Chaim ben David Schachor (1490–1548) aus Prag gilt als der erste, der hebräische Texte im deutschsprachigen Raum gedruckt hat, wozu er christliche Werkstätten aufsuchen musste. Einer Landkarte ist zu entnehmen, wo er überall gedruckt und welche weiten Wege er zurückgelegt hat. Die Karte spiegelt auch die zunehmenden antijüdischen Maßnahmen nach dem 4. Laterankonzil 1215 wider, die die jüdische Kundschaft in Richtung Ostmitteleuropa und Italien vertrieben hat.

Blick in den Epochenraum „Auch Juden werden Deutsche“

Blick in den Epochenraum „Auch Juden werden Deutsche“

Auch Juden werden Deutsche

Der Neon-Schriftzug „1789/Egalité!“ eröffnet die Zeit, die von der Aufklärung bis zum Ende der Weimarer Republik reicht. Für die Gleichheit als Bürger, die den Juden in Frankreich unter der Bedingung der Aufgabe korporativer Gemeindestrukturen gewährt wurde, musste die jüdische Gemeinschaft in den deutschen Ländern ein weiteres Jahrhundert lang kämpfen. In diesem Prozess ändert sich nicht nur ihre Rolle in der Gesellschaft: Religiöse Reformbewegungen entstehen, die sowohl in der Liberalisierung der Gebote, des Gottesdienstes sowie der Synagogenarchitektur als auch in der Gegenbewegung, der Formulierung einer modernen Orthodoxie, ihren Ausdruck finden. Besucherinnen und Besucher haben die Möglichkeit, in einer virtuellen Rekonstruktion der zerstörten Synagogen von Hannover, Köln und Plauen spazieren zu gehen.

Die Neuerungen der Epoche, die Begeisterung für Bildung und deutsche Kultur, die zögerliche Auseinandersetzung mit dem frühen Zionismus oder die Rolle jüdischer Soldaten werden am Beispiel unterschiedlicher Schlaglichter inszeniert.

Kanzleischild von Dr. Werner Liebenthal, Berlin 1933, im Epochenraum „Katastrophe“

Kanzleischild von Dr. Werner Liebenthal, Berlin 1933, im Epochenraum „Katastrophe“

Katastrophe

In drei großen Abschnitten geben Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Fotografien und ­andere Dokumente Auskunft über Haltungen und Handlungen von Juden in Reaktion auf die Herrschaft der Nationalsozialisten: „Auswandern oder ausharren?“, „Raus aus Deutschland!“ und „Holocaust“. Einzelne Biografien jüdischer Familien und die verheerenden Auswirkungen des Nazi-Regimes auf ihr Leben werden gezeigt. Das visuelle Rückgrat der Präsentation sind 962 Maßnahmen und Verordnungen, die ab 1933 die Ausgrenzung, Ausraubung und schließlich den Mord an den Juden Europas dokumentieren. Eine animierte Landkarte Deutschlands zeigt die physische Gewalt gegen Juden, ihren Besitz und ihre Institutionen, und auf einer Weltkarte können sich die Besucherinnen und Besucher über die neunzig Fluchtziele informieren, in die sich ein Drittel der deutschen Juden vor dem Zugriff der Nazis retten konnten. Die beabsichtigte Massenvernichtung der europäischen Juden, über die diese bis zur buchstäblich letzten Minute getäuscht wurden, wird am Beispiel von drei Orten, den Ghettos Theresienstadt und Litzmannstadt sowie dem Vernichtungslager Auschwitz, thematisiert.

Etienne-Maurice Falconet, L’amitié au cœur, Paris 1765

Etienne-Maurice Falconet, L’amitié au cœur, Paris 1765

Nach 1945

Im Epochenraum „Nach 1945“, der vom Ende des Krieges bis in die unmittelbare Gegenwart reicht, stellen wir schlaglichtartig die Themen Restitution und Wiedergutmachung, das Dreiecksverhältnis Deutschland – Israel – Juden in Deutschland sowie die Ein- und Abwanderungswellen von Juden nach und von Deutschland vom Kriegsende bis heute dar. Exemplarisch für das Thema „Restitution“ steht das Originalfragment der 40 Zentimeter großen Marmorfigur „L‘amitié au cœur“ von Etienne-Maurice Falconet: Sie gelangte als Diebesgut aus dem Besitz der Pariser Rothschilds in den Landsitz von Hermann Göring und wurde nach einem komplexen Rückerstattungsverfahren dem Jüdischen Museum Berlin als Leihgabe überantwortet. Beim Berühren des steinernen Herzes ist diese abenteuerliche Geschichte als Ich-Erzählung zu hören; eines von mehreren Exponaten für sehbehinderte und sehfähige Besucherinnen und Besucher.

Das interaktive „Familienalbum“ präsentiert zehn Sammlungen aus dem Bestand des Museums.

Das interaktive „Familienalbum“ präsentiert zehn Sammlungen aus dem Bestand des Museums.

Thematische Inseln

Familienalbum

Die interaktive Medienstation „Familienalbum“ präsentiert das Herzstück der Sammlung: die Alltagsgeschichte der deutschen Juden in einem Zeitraum von über einem Jahrhundert. Besucherinnen und Besucher können sich in über 500 Dokumente und Fotos, Alltagsgegenstände und Kunstwerke aus den Nachlässen von zehn Familien vertiefen und den Lebenswegen mehrerer Generationen nachspüren.

Das jüdische Objekt

Hier werfen wir die Frage auf: Was macht ein jüdisches Objekt aus? In einer prächtigen Vitrine sind sogenannte Ritualobjekte, die in jedem Jüdischen Museum zu finden sind, ausgestellt, nach der Bedeutung ihrer Heiligkeit geordnet. Kontrastierend dazu sind Gegenstände unterschiedlicher Personen mit einer persönlichen und säkularen Zuschreibung versehen, die sie als jüdisch definiert.

Die Ausstellung verabschiedet die Besucherinnen und Besucher mit einem Schluss-Chor, in dem eine bunte Vielfalt unterschiedlicher Personen im Alter von fünf bis neunzig Jahren über ihre persönliche Haltung zu Judentum und Deutschland sprechen: „Mesubin“ (Die Versammelten) ist der Titel dieser Video-Installation, die eindrucksvoll die Vielstimmigkeit jüdischer Positionen in der Gegenwart zum Ausdruck bringt.

Weitere Informationen: www.jmberlin.de/dauerausstellung

Die JMB-App bietet Informationen zur Ausstellung und kurze Filme auf Deutsch und Englisch: www.jmberlin.de/app