Mehr als nur Buletten

Berlins neue Küche und Köche sorgen weltweit für Aufsehen. In Europa hält nur London mit. Was macht Berliner Küche aus? Welche Einflüsse haben sie im Laufe der Zeit geprägt? Unser Autor geht der Sache auf den Grund – und erzählt von seiner eigenen Familie …

von Dr. Stefan Elfenbein, Korrespondent für das Magazin Der Feinschmecker und Präsident der Jury Berliner Meisterköche

Die Joseph Roth Diele in der Potsdamer Straße

Die Joseph Roth Diele in der Potsdamer Straße

„Potse“ nennen die Berliner liebevoll-schnodderig die Potsdamer Straße. Durch die Bezirke Schöneberg und Tiergarten schlängelt sie sich gen Berlin-Mitte. Schön und schick war sie nie, dafür bunt und lebendig. Kabaretts waren hier und Etablissements. Leichte Damen gibt es immer noch. An die Potse von einst erinnert die „Joseph Roth Diele“. Dielen waren Lokale für jedermann. Die in der Hausnummer 75 war besonders. Sie war ab 1920 Inspiration und Aufwärmort des Zeitchronisten Joseph Roth. Parkett und Holzpaneele sind erhalten. Hühnerfrikassee, Rouladen und belegte Stullen schmecken. Neu sind die Fotos von Roths Leben an den Wänden, vom Schtetl in Galizien, der Zeit in Lemberg, Wien. Nach dem Mauerfall hat ein Förderverein die Diele gerettet und neu eröffnet. Ich war seitdem öfters da. Zwei Abende waren besonders, der eine 2002 mit meiner Berliner Großmutter, der andere 2011 mit Frank Bruni von der „New York Times“, dem damals wohl bekanntesten Restaurantkritiker der westlichen Welt. Nur einmal noch war meine Großmutter nach Berlin gekommen – damals zu ihrem 90. Geburtstag! Für Frank Bruni war es das erste Mal. Mit beiden sprach ich über das Leben, Essen, die Stadt.

Berliner Wochenmarkt um 1930

Berliner Wochenmarkt um 1930

An silbern funkelnde Berge von Hering und Hornfisch am Markt am Halleschen Tor erinnerte sich meine Großmutter – und an quietschgelbe Zitronen in einem Kaufhaus. Berlins breite Straßen und Trottoirs kamen zurück ins Gedächtnis – und eine Dose Affenfett für schön glänzende Haare und Schildkrötensuppe, die es einmal gab. Ein Teenager war sie, als Joseph Roth in der Diele saß. Berlin zählte 4 Millionen Einwohner und war nach London und New York drittgrößte Stadt der Welt. Hoffnung auf ein besseres Leben hatte Menschen aus allen Himmelsrichtungen in die neue Metropole gespült. Produkte und Lieblingsrezepte brachten sie mit, etwa für Berlins berühmte Klopse mit Kapern, Senfeier, Rote Grütze, Gefilte Fisch. Berliner Schnitzel übrigens ist gebackener Euter von der Färse, der Jungkuh. Bulette (von boule = Kugel), Schrippen, Spargel, Kopfsalat und Blumenkohl hatten schon zuvor die Hugenotten mitgebracht. 1907 war auch meine Urgroßmutter, die Mutter meiner Großmutter, von Bessarabien nach Berlin gekommen. Bis zur Mamsell hatte sie sich hochgearbeitet. Affenfett und Schildkrötensuppe waren Geschenke der Herrschaft, bei der sie in Stellung war. Meine Oma lernte Beiköchin. „Unbeschreiblich vielfältig war das Essen in Berlin“, sagte sie mir. Hummer, Austern und Champagner genoss man abends am Potsdamer Platz oder wie heute noch im „KaDeWe“. Das „Hotel Adlon“ galt als exklusivstes Hotel im Land, sein Weinkeller als unvergleichlich. Die Cocktailkultur boomte aufgrund der Alkoholprohibition in den USA. Man jazzte. Highlight für meine Großmutter war ihr freier Sonntag; bei schönem Wetter flanierte sie die Linden entlang zum Schloss.

Wenig später zerbrach auch ihre Welt: Inflation, Kündigung, Missbrauch durch die neue Herrschaft, einem Baron von Riedesel, Selbstmordgedanken wegen der Schwangerschaft. Das Kind, mein Vater, Jahrgang 1928, wurde zu Zieheltern in Hessen gegeben. Einen grob geschnitzten Holzlöffel hatte ihm meine Urgroßmutter in die Tasche gesteckt. Meine Großmutter tauchte unter, ihre Mutter verschwand. Berlin lag in Trümmern. Tote Pferde wurden ausgeweidet, letzten Bäumen die Rinde vom Stamm gegessen. Die Stunde null … doch das Leben ging weiter. 1948/1949, während der Berlin-Blockade, ließen US-Piloten Mehl, Kohle und Kartoffeln vom Himmeln regnen – auch Kaugummi und Schokolade. In ihrem Schnellimbiss in Charlottenburg gelang Herta Heuwer derweil beim Hantieren mit Würzpulver aus Blechdosen, die britische Soldaten dagelassen hatten, ein Geniestreich: Sie erfand die Currywurst. Im Tiergarten wuchs Gemüse. Schichttorten und Käsekuchen in Cafés am Ku’damm schmeckten auch ohne Butter und Eier; Ersatz im Teig war Apfelbrei.

Berliner Küche war immer Spiegelbild der Stadt, ihrer Verfassung und Seelenlage. Darüber sprach auch Frank Bruni mit mir. Ich war aufgeregt, als ich in der Diele auf ihn wartete. Fünf Tage hatte er sich durch Restaurants gegessen, darunter das „Horváth“ und das „Tim Raue“ – heute zwei der allerbesten. ‚Nun die Abfuhr!‘, dachte ich. Kulinarisch hatte Berlin 2011 noch nicht den besten Ruf. Berlin-West war nach 1961 ummauert; frische regionale Produkte gab es nicht. Im Osten herrschte Mangelwirtschaft. Auch nach dem Mauerfall 1989 veränderte sich kulinarisch anfangs wenig. Es dauerte. Erst entstanden Luxushotels, das „Adlon“ wurde aufgebaut. Dann sorgten junge Küchenchefs in Hotels für Schlagzeilen. Luxusprodukte ließ man aus Frankreich einfliegen. Aber besser gekocht als anderswo wurde nicht, das Besondere fehlte.

Brunis seitenlange Analyse „Sorry to Disappoint“, die Standards setzte, erschien nach seiner Rückkehr: „Vor meinem Abflug sagten alle, ich würde sehr enttäuscht sein. Man wünschte mir zwar alles Gute, meinte aber, es sei eine Schande, dass ich mich nicht für Paris oder Kopenhagen – oder jede andere europäische Großstadt entschieden hätte“, schreibt er. Und dann: „Es tut mir leid, enttäuschen zu müssen; es hat mir geschmeckt in Berlin“ – und mehr als das. Aufregend sei die Küche, eine Entdeckungsreise.

Markthalle Neun in Kreuzberg

Tatsächlich war so um 2006 der Knoten geplatzt. Die Stadt füllte sich mit jungen engagierten, meist kreativen Menschen. Wie hundert Jahre zuvor wurde Heimisches mitgebracht – diesmal aus aller Welt: Falafel, Hummus, Empanadas, Blinis, Algenblätter. Die gute Stimmung während der Fußball-WM 2006 in Berlin mag dazu beigetragen haben wie auch geklärte Eigentumsverhältnisse im Osten. Es gab günstigen Wohnraum und Platz, auch für Restaurants. Eins nach dem anderen machte auf. Wie befreit wurde gekocht. Gedünstete Weinbergschnecken krochen auf Tellern über Ackerkrumen aus getrockneten Oliven, Kakao und Walnuss-Crumble. Aus Erdbeeren, Sellerie und Lauch wurden Desserts. Spektakulär war die Eröffnung des „Pauly Saal“ in der restaurierten ehemaligen Jüdischen Mädchenschule in Mitte. Und beim Staatsdinner der Obamas 2013 in Berlin servierte Chef Tim Raue Klopse mit Gänseleberkern und Süßweinsoße.

Parallel dazu führte ein junges Team hinter Kreuzbergs „Markthalle Neun“ vor, dass im Umland wieder bestes Obst und Gemüse wuchs, darunter alte, fast vergessene Sorten. In jedem Jahr sorgten seitdem Berlins Köche und Küche für Überraschungen und Aufsehen weltweit. 2019 dominierten die Aromen aus der Levante, aus Israel, Syrien, dem Irak. Die meisten Neueröffnungen gab es in der Potsdamer Straße, der Potse, Berlins neuer, angesagter Ausgehgegend. Joseph Roth würde schauen. Meine Großmutter übrigens mochte das neue Berlin. „Vielfalt ist Sicherheit“, meinte sie. Sie lebte am Ende nahe bei meinem Vater. Den geschnitzten Holzlöffel hatte er immer bei sich. Ich bekam ihn als er starb. Der Löffel liegt hier vor mir.