1939 emigrierte Kurt Baer mit seiner Frau Ruth, geb. Brilling, seinem fast zweijährigen Sohn Martin und weiteren Verwandten von Berlin nach Chile, um der Verfolgung durch die Nazis in seiner Heimat zu entkommen. Während der Reise mit dem Zug und schließlich auf dem Schiff „Augustus“ schrieb er einen Reisebericht, der nun von Gary Cupif, Margot Wagner und seinem Enkel Christian Baer transkribiert wurde. Der Bericht erscheint hier in gekürzter Form.
„Und wir fahren weiter unserem ungewissen Ziel entgegen“
Bild: Familie Christian Baer
Der Münchener D-Zug verlässt am 30.11. um 21:15 die Halle des Anhalter Bahnhofs. Wir schliessen die Fenster und ordnen unsere Sachen im Abteil. Der Zug rollt durch die Nacht, jeder hängt seinen Gedanken nach. Die ganzen letzten Tage – die Abschiedsstunden bewogen unsere Gedanken.
Man kann nicht schlafen, es war zuviel, die Nerven müssen sich erst beruhigen. Die Nacht vergeht in gleichmässigen Minuten Bahnfahrt. Hin und wieder eine Station. Morgens pünktlich 7:10 sind wir in München. Da alle müde und übernächtigt sind und uns wieder eine Nacht auf der Bahn bevorsteht, gehen wir in ein Hotel und schlafen.
Sehr zeitig sind wir auf der Bahn und es ist gut so, denn es fahren sehr viele Menschen. Herren von H.V. leiten das Einsteigen und Plätzebelegen. Trotzdem ein grosses Gedränge, aber wir haben Glück und bekommen ein gutes Abteil Zweite Klasse, wir sind mit Bekannten zusammen. Pünktlich 18:50 rollt der Zug aus der Halle in die regnerische, finstere Nacht. Alles schweigt wieder und ist mit sich beschäftigt. Kufstein, Wörgl, Innsbruck und so gegen 22:30 Brenner. Ein lebhaftes Austauschen der Gedanken, aber alles hat ein Thema: von zu Hause wird gesprochen, und an zu Hause wird gedacht. Langsam graut der Morgen, wir sind in Italien. Unser Zug hat 22 Stunden Verspätung. In Mailand betreten wir das erste Mal italienischen Boden. Es geht bald weiter und um 18:15, also nach fast 18 stündiger Fahrt sind wir in Genua.
Wir werden von H.V. empfangen und in einzelne Hotels verteilt. Jetzt sind wir unserem Schicksal selbst überlassen. Der H.V. kümmert sich um nichts mehr. Man rennt los und fragt sich durch zur Schifffahrtsgesellschaft. Wir kommen am Hafen vorbei, dort liegen viele große Schiffe und plötzlich lesen wir „Augustus“. Ein großes Ungetüm liegt vor uns. Ein lebhaftes Treiben an Bord und am Kai. Riesige Kisten und Koffer werden vom Kran gehoben und verschwinden im Schiffsbauch, der unersättlich scheint. Auf der Italia bekommen wir unsere Schiffskarte und freuen uns über unsere Einzelkabine Nr. 323. Nun die Sorge um das Reisegepäck. Wir gehen zur Station und siehe, es ist fast ein Wunder, ich stoße direkt auf meinen Schrankkoffer. Nun wo ein Stück ist, sind auch die anderen und bald habe ich mir aus hunderten von Koffern meine herausgesucht.
In Genua ist alles billig und gibt es alles zu kaufen, aber leider haben wir kein Geld.
Bild: Familie Christian Baer
Genua 2.12.1939 Sonnabend.
Wir gehen zur Pass-Zollkontrolle am Hafen. Es ist alles in Ordnung und wir bekommen den letzten Stempel in unsere Pässe. Jetzt gehen wir über den Laufsteg schräg nach oben und verlassen damit für vier Wochen festes Land.
Die Kabine ist ca. 2×3 m und ca. 3 m hoch. Links zwei schöne Betten übereinander, dann ein Waschtisch mit fliessendem Wasser, wenn man den Deckel vom Waschtisch herunterklappt so hat man ein Schreibpult. Unten hat der Waschtisch vier kleine Fächer. Über jedem Bett ein Gepäcknetz. An der Wand ein Kleiderhaken und ein Spiegel, elektr. Licht und Luftklappe. Denn es ist keine Außenkabine. Betten sauber weiß bezogen, jedem ein Kissen und eine Schlafdecke. Allerdings muss das Kind bei Ruth im Bett schlafen. Unter dem Bett hängen zwei Schwimmwesten für alle Fälle.
Wir hatten schon Instruktionen und Probealarm. Es gab als erste Mahlzeit an Bord: Mixed Pickle, Suppe, Spaghetti mit Bratsosse, Fleisch, Kartoffeln und grünen Salat, Apfel und auf jedem Tisch steht zu jeder Mahlzeit eine Flasche Wein, zum Schluss Kaffee. Im Übrigen ist noch zu sagen, dass es auf dem Schiff kein koscheres Essen gibt. Ruth richtet unsere Kabine ein und legt sich mit dem Kind schlafen, denn wir haben seit Mittwoch allerhand hinter uns und wenig geschlafen.
Unser Speisesaal, ein schöner, großer, luftiger Raum mit weiss gedeckten Tischen für vier bis sechs Personen. Es wird in zwei Serien gegessen. Die Mahlzeiten sind immer reichhaltig und kann man essen soviel man will, auch Fleisch. Uns steht dann noch ein Rauchsalon und Bar zur Verfügung. Da sind für die Passagiere dritter Klasse drei Decks. Wir haben uns jeder einen Liegestuhl gemietet und liegen den ganzen Tag auf Deck. Die Bedienung ist sehr zuvorkommend.
Viele Leute warten noch auf ihre Koffer. Um 22 Uhr muss alles an Bord. Wer noch keine Koffer hat, muss auch an Bord. Die Koffer kommen mit dem nächsten Schiff nach. Furchtbar muss es sein, ohne Sachen abzufahren, aber viele teilen dieses Los. Wir stehen oben an der Reling, es ist 23:30 und das Schiff lichtet die Anker. Dumpf heult die Sirene und langsam werden wir von kleinen Schleppern aus dem Hafen geschleppt. Noch einmal grüssen uns die Lichter von Genua, die Schlepper werfen die Leinen los und mit eigener Kraft zieht das Schiff seine Bahn in die dunkle Nacht.
An Bord 3.12.1939 Sonntag.
Ich erwache gegen 7 Uhr, das Schiff schaukelt heftig. Schnell angezogen und gefrühstückt. Es ist kalt und wir tragen die Wintermäntel. Wir sind im Golf von Leoni (Mittelmeer). Windstärke 4 später Windstärke 6. Es dröhnt im Kopf und der Magen rumort. Unten kotzt alles an jeder Ecke und wo man hinsieht gibt es Seekranke. Wir bleiben den ganzen Tag auf Deck. Ruth und das Kind sind sehr tapfer. Der Junge schläft fast den ganzen Tag. Aber ich muss einmal doch ein Opfer bringen und mein Frühstück erscheint wieder und landet auf Deck. Dann ist mir besser und nachdem wir auf das Mittag verzichtet haben und den ganzen Nachmittag durch Wogen und Sturm auf Deck aushalten, wird es gegen Abend ruhiger.
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