Stolpersteine vor der Freien Waldorfschule Berlin-Mitte

Ein Brückenschlag

von Sönke Bohn, Freie Waldorfschule Berlin-Mitte

Die Stolpersteine vor der Freien Waldorfschule Berlin-Mitte

Im Rahmen des Besuchsprogramms des Berliner Senats für Holocaustüberlebende besuchte der 1936 in Berlin geborene Henry Haas gemeinsam mit seiner Ehefrau Kate im Jahre 2009 Berlin. Sie erfuhren vom Projekt Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig. Bald reifte in ihnen der Wunsch, dort, wo einst das Zuhause der Familie gewesen war, Gedenksteine für die deportierten und ermordeten Angehörigen verlegen zu lassen.

Verschollene und verstreute Zeugnisse des Lebens von Paula und Meir Max Buchheim sowie von Herbert Haas konnten vor allem mit Barbara Boehm-Tettelbachs Hilfe recherchiert und zusammengetragen werden. Sie ist seit Jahren ehrenamtlich für das Berliner Emigrantenprogramm tätig und knüpfte den Kontakt zur Freien Waldorfschule Berlin-Mitte. Denn diese Schule befindet sich heute am ehemaligen Wohn- und Geschäftsort der Familien Haas und Buchheim in der Gormannstraße 1.

Der Klassenlehrer der achten Klasse, Sönke Bohn, konnte die dreizehn- bis vierzehnjährigen Schülerinnen und Schüler für die Stolpersteinverlegung vor der Schule in Erinnerung an Henry Haas’ Angehörige gewinnen. Henry Haas stellte nun die Erinnerungen seiner Mutter Gerda, der Tochter von Paula und Max Buchheim, zur Verfügung. Die auf Englisch verfassten Berichte über Gerdas Erlebnisse im Nazi-Deutschland der dreißiger Jahre und die Flucht- Odyssee bis nach Shanghai, den dortigen, mehrjährigen Aufenthalt und die Ankunft in der neuen Heimat USA wurden von den Jugendlichen ins Deutsche übersetzt. Das war eine ganz konkrete und das tiefere Verständnis der Schülerinnen und Schüler anregende Aufgabe. Zudem wurde in der Schule als künstlerischer Beitrag das Lied „Eliyahu Hanawi“ in der Fassung von Victor Ullmann einstudiert.

Kate (im blauen Kleid) und Henry Haas (rechts neben ihr) nach der Verlegung der Stolpersteine

Kate (im blauen Kleid) und Henry Haas (rechts neben ihr) nach der Verlegung der Stolpersteine

Am 3. Juli 2015 konnten die Stolpersteine dann in einer sehr emotionalen Zeremonie unter Beteiligung der Kantorin Mimi Sheffer verlegt werden. Diese wurde von einem Elternteil der Klasse filmisch dokumentiert und ist unter http://youtu.be/N3xjNYa7P0s (watchgofilm) abrufbar. Dass diese Gedenksteine nun nicht nur etwas für die vergangene Geschichte, sondern auch etwas für die zukünftige werden sollten, war schon in der Zeremonie erhofft worden.

Im Herbst 2015 kamen nun Tausende, meist Arabisch oder Farsi sprechende, geflüchtete Menschen nach Berlin, die meisten mit muslimischem Hintergrund. Ihre Schicksale ähneln dem der Familien Haas und Buchheim: Flucht und Vertreibung mit all ihrer Not, Gefährdung, Entwurzelung und Wohnen in provisorischen Unterkünften.

In ihren Herkunftsländern gab es früher noch eine Kultur des Zusammenlebens der verschiedenen Ethnien und Religionen. Der Freitag, der Schabbat, der Sonntag als Ruhe- und Begegnungstage der Muslime, der Juden, der Christen wurden allseits akzeptiert. In Damaskus oder Aleppo fanden sich bis vor kurzem noch viele Zeugnisse eines jahrhundertelangen Zusammenlebens von Juden, Muslimen und Christen. Diese alte Kultur ist heute vollständig zerstört.

In Deutschland mehrten sich inzwischen Medienberichte und besorgte Stimmen aus den jüdischen Gemeinden, dass mit den Flüchtlingen anti-jüdische Ressentiments zunähmen. Im Sommer 2015 richteten wir eine Willkommens-/ Deutschlernklasse ein, in der Mehrzahl mit Kindern aus Albanien, dem Kosovo, Syrien, dem Irak, Iran und Afghanistan, eben muslimisch geprägten Ländern.

Welche Schicksalswege! Statt aus Deutschland flüchten Menschen nun nach Deutschland.

Unbeschwert spielen die Kinder der Willkommensklasse

Unbeschwert spielen die Kinder der Willkommensklasse

Kate und Henry Haas nahmen – wieder in den USA – an diesem Geschehen innigen Anteil. Sie besprachen alles in ihrer Gemeinde, dem Temple Beth El in Tacoma, Washington. Sie selbst und andere Gemeindemitglieder spendeten für unsere Arbeit mit den Flüchtlingskindern für außerschulische Aktivitäten 1.000 $.

Diese wunderbare, Brücken schlagende Geste in einer Zeit, in der sich nicht nur Juden besorgt über die große Zahl antijüdisch sozialisierter Zuwandererinnen und Zuwanderer zeigen, motiviert uns, hier, mit geflüchteten Kindern/Familien, ein von gegenseitigem Verständnis und Empathie getragenes Verhalten zu fördern.

Aktuell bemühen wir uns um eine Übersetzung der Geschichte von Gerda Haas ins Arabische. Das könnte ein weiterer Beitrag sowohl zum Gedenken an Paula und Max Buchheim und Herbert Haas als auch zum Brückenschlag zu antijüdisch sozialisierten Flüchtlingen werden. Diese Kinder, elf- bis dreizehnjährig, haben bereits dank der Unterstützung aus den USA schöne Ausflüge machen können und auch manches über die golden schimmernden Steine vor ihrer Schule gehört – und sie schon voller Hingabe poliert. Die Stolpersteine sollen glänzen!

Freie Waldorfschule Berlin-Mitte
Sönke Bohn
Weinmeisterstraße 16
10178 Berlin
Tel.: +49 30 80097580
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