Von Berlin nach Brasilien

Ich weiß wirklich nicht, wie ich beginnen soll, kaum mit „lieber oder liebes aktuell “! Ich wurde 1923 in Berlin-Köpenick als Ingelore Lewy geboren und bin in der dritten Generation Berlinerin. Außerdem bin ich, wie die meisten Juden meiner Zeit, „Deutsche jüdischen Glaubens“, also eine Art Dinosaurus. Wir betrachteten jüdisch sein genau wie katholisch oder evangelisch, erst Hitler betrachtete es als „Rassenfrage“. Zwar sagten wir automatisch bei einer religiösen Feier: „Das nächste Jahr in Jerusalem“, aber dachten niemals daran, dass man uns eines Tages beim Worte nehmen könnte. 1933, ich war zehn Jahre alt, kam Hitler an die Macht, aber da mein Vater Frontkämpfer (I. Weltkrieg) und im Besitz des Eisernen Kreuzes war, durfte ich das Gymnasium besuchen und wurde, wie meine Klassenkameradinnen, als fanatische Deutsche erzogen.

Mein Großvater besaß damals in der Grünstraße 15 das größte Schuhhaus am Platz. Als mein Vater, schwer verwundet 1918 aus dem Krieg kam, hieß es: „Der Dank des Vaterlandes sei Euch gewiss“. Dieser „Dank“ bestand darin, dass mein Vater aus dem Vaterland 1936 nach Brasilien fliehen musste. Meine Mutter verkaufte unsere Möbel, befestigte an der Ladentür ein Schild „Wegen Trauerfalls geschlossen“ (was der Wahrheit entsprach, denn es war bestimmt ein „Trauerfall“) und wir, meine Großmutter, meine Mutter und ich, folgten meinem Vater nach Saõ Paulo. Auf dem Schiff befanden sich fast nur Flüchtlinge und als die Küste entschwand, spielte ein Immigrant „Nun ade Du mein lieb Heimatland“. Ich, die fanatische Deutsche, befand mich in gleichgesinnter Gesellschaft! Ich feierte meinen 13. Geburtstag auf dem Schiff. Die Fahrt dauerte damals 23 Tage. Da ich felsenfest überzeugt war, nach Berlin zurückzukehren, machte ich mir nicht die Mühe, portugiesisch zu lernen, wozu denn auch, in Deutschland würde ich die Sprache ja nicht brauchen.

1944 heiratete ich und 1945 wurde mein ältester brasilianischer Sohn geboren. Als der Krieg zu Ende war und die Zeiten wieder normal waren, hätte ich in die Heimat zurückkehren können, aber inzwischen hatte ich zwei brasilianische Söhne und nicht das Recht, ihnen die Heimat zu nehmen. Ich hatte erlebt, wie schwer es ist, die Heimat zu verlieren. Außerdem gibt es in Brasilien weder Rassen- noch Religionsprobleme (Hitler wäre verzweifelt!).

1986 bekam ich eine Einladung vom Senat nach Berlin. Es war wunderbar. Hotel, Theater und Operette und sogar ein Tagesgeld, alles wurde vom Senat bezahlt, aber Berlin hatte sich verändert, ich erkannte nur die Straßennamen. Köpenick lag jenseits der Mauer und das Haus in dem wir gewohnt hatten, existierte nicht mehr. Auch der Berliner hatte sich verändert. Der humorvolle laute Berliner gehörte der Vergangenheit an, nur ein Taxifahrer sprach noch im Berliner Dialekt. Sonst wurde nur auf hochdeutsch geflüstert. Das Berlin, das ich gekannt hatte, war im Krieg gefallen. Heute, wenn ich im Fernsehen die „Deutsche Welle“ sehe, ist es natürlich anders. Berlin ist wieder zum Leben erwacht, nur mir ist es fremd geworden. Aber schließlich ist viel Zeit vergangen. Weihnachten habe ich mit meiner gemischten Familie verbracht, mit meinen jüdischen Söhnen, meinen katholischen brasilianischen Schwiegertöchtern, meiner jüdischen und meiner christlichen Enkelin. Der reine Religionssalat!


I. Ina Hirsch
Chiffre 109104