Vor siebzig Jahren

Da ist November und ich hatte es ganz vergessen, aber jemand erinnerte mich daran: Vor siebzig Jahren, im November 1938, verließ ich Deutschland und emigrierte nach Palästina. „An was erinnerst du dich noch?“ fragt man mich. Und ich erinnere mich, wie kann ich mich nicht erinnern?

Man sagte uns: „Ihr fahrt mit der Bahn nach Italien, am Bahnhof in Triest wird man euch erwarten.“ „Wie wird man uns erkennen?“ fragten wir besorgt. „Keine Bange“, war die Antwort, „bleibt mit euren Koffern zusammen und so wird man euch erkennen.“ Und so trafen wir uns am Bahnhof in Berlin, vier 15-jährige Kinder, Mitglieder des Jugendbundes Haschomer Hazair, die im Rahmen der Jugendalijah nach Palästina auswandern.

Wir stehen am Bahnsteig neben dem wartenden Zug. Die Zeiger der großen Uhr rücken unbarmherzig vorwärts. Wir müssen Abschied nehmen. Die Eltern weinen. Wir halten die Tränen zurück, um stark zu erscheinen. Wir steigen ein und lehnen uns an die Wagenfenster. Die Uhr zeigt die genaue Zeit. Ein Pfiff der Lokomotive und mit deutscher Pünktlichkeit rückt der Zug an. Ein letztes Winken und die Bahnstation mit unseren Eltern versinkt im Schatten der Nacht. Wir bleiben alleine mit dem dunklen Gefühl, dass es ein Abschied für immer ist. Früh am Morgen hält der Zug in München. Der Lautsprecher verkündet: „Eine halbe Stunde Aufenthalt.“ Wir gehen auf den Bahnsteig und treffen noch zwei Mädchen unserer Gruppe, die aus Dresden angekommen sind. Wir kennen sie aus dem
Vorbereitungslager in Rüdnitz, das vom Haschomer Hazair organisiert wurde und in dem wir im Frühling 1938 einen Monat verbrachten.

Wir schlendern langsam den Bahnsteig entlang, kommen zu einem Zeitungskiosk und bleiben erschrocken stehen. Auf der ersten Seite aller Zeitungen riesige Schlagzeilen: „Attentat in der Deutschen Botschaft in Paris, von einem Juden verübt. Der deutsche Diplomat Ernst von Rath ringt mit dem Tod.“ Es wird uns dunkel vor den Augen. Unsere Lebensjahre in Deutschland haben uns gelehrt, dass so etwas nicht ruhig verlaufen kann, obwohl wir uns die Größe des kommenden Unheils, das die Juden Deutschlands am nächsten Tag erwartete, gar nicht vorstellen konnten.

Die Bahn fährt weiter südwärts. Wir sind jetzt sechs verängstigte Kinder in einem Abteil, die einander ratlos anschauen. Nach einigen Stunden hält der Zug an der Grenzstation. Zwei Beamte kommen in unser Abteil. Sie tragen keine Uniform, nur das Abzeichen der Nazionalsozialistischen Partei steckt am Rockaufschlag. „Pässe!“ Wir reichen die Pässe. Auf der ersten Seite ist ein großes rotes „J“ gestempelt, um zu betonen, dass der Besitzer des Passes Jude ist. Im Oktober 1938 wurden wir gezwungen zum Passamt zu gehen, damit das rote „J“ in unseren Pass gestempelt wird (gegen Bezahlung). Die Beamten blättern in unseren Pässen und kommen zur letzten Seite. Sie finden das Zertifikat, die Einwanderungserlaubnis nach Palästina, die wir vom Britischen Konsulat erhielten. Sie geben uns die Pässe wortlos zurück und verlassen das Abteil. Warum wurden die Koffer nicht kontrolliert? Man verlässt doch Deutschland nicht ohne Gepäckkontrolle. Also ist es uns klar, dass man nicht beabsichtigt, uns über die Grenze zu lassen. Wir zittern vor Furcht. An der Bahnstation in Triest wird man umsonst auf uns warten. Unsere Eltern werden glauben, wir wären auf dem Wege nach Palästina, und statt dessen werden wir im Konzentrationslager sitzen. Kein Transportleiter und kein Erwachsener ist mit uns. Sechs 15-jährige Kinder sitzen im Eisenbahnwagen von Furcht ergriffen und erwarten ihr Schicksal.

Plötzlich rückt der Zug an, fährt ungefähr fünfzig Meter und hält wieder an. Wir sind sicher – jetzt holt man uns raus. Stille, machtlos blicken wir einer auf den anderen, auf die kommenden Schritte wartend. Schließlich nähert sich einer von uns zögernd dem Fenster und blickt heraus. „Seht euch mal diese Uniformen an“, sagt er, „das sind doch nicht unsere Uniformen!“ In diesem Moment dachte er gar nicht daran, was es heißt „unsere“. Wir drängeln uns zum Fenster und sehen ein großes Schild mit dem Namen der Station. Man kann den Namen überhaupt nicht entziffern, bis jemand schreit: „Wir sind in Jugoslawien!“ Ein Stein fällt uns vom Herzen, wir befinden uns nicht mehr auf deutschem Boden. In ausgelassener Laune erreichen wir Italien und schiffen uns für unsere Reise nach Palästina ein. Es gilt eine neue Lebenslage zu bewältigen. Und in derselben Nacht brennen hunderte Synagogen in ganz Deutschland, und tausende Juden werden in Konzentrationslager eingesperrt: Die Kristallnacht.


Seev Jacob
Chiffre 109103