100 Jahre soziales Lehren und Lernen

Von der Sozialen Frauenschule zur Alice Salomon Hochschule Berlin

_von Adriane Feustel, Leiterin des Alice Salomon Archivs_

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Das Gebäude der Alice Salomon Hochschule. Hier lernen heute 1.889 Studierende.

1908 wurde die erste interkonfessionelle Schule mit einer zweijährigen Ausbildung von Sozialarbeiterinnen in Deutschland gegründet, die Soziale Frauenschule und heutige Alice Salomon Hochschule Berlin. Damals hatte die Soziale Arbeit als ein moderner Beruf für Frauen bereits erste Konturen gewonnen. Im selben Jahr wurde den Frauen nach langen Auseinandersetzungen die politische Versammlungs- und Vereinsfreiheit zugebilligt ebenso wie das Recht einer zum Abitur führenden höheren Schulbildung und die Zulassung zum Universitätsstudium. Während ihnen das allgemeine politische Wahlrecht noch vorenthalten wurde, hatten sie sich doch den Zugang zu öffentlichen Ämtern, z.B. in der Armen- und Waisenpflege oder der Fabrikaufsicht, erkämpfen können.

Die Schule konnte auf ein Ausbildungskonzept zurückgreifen, das sich in einer 15-jährigen Experimentier- und Pilotphase seit 1893 in den „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ entwickelt hatte. Sie gaben unter Leitung von Jeannette Schwerin und ihrer Schülerin und Nachfolgerin Alice Salomon den Anstoß zum Projekt der sozialen Frauenarbeit. In ihm verbanden sich individuelle Emanzipationswünsche der Frauen auf eine eigenständige Perspektive außerhalb der beengenden Familienverhältnisse mit der sozialen Perspektive, durch praktische Betätigung, die Not der Hilfebedürftigen zu lindern und den Gegensatz zwischen den sozialen Klassen überbrücken zu helfen. In der Definition von Alice Salomon verstand sich soziale Arbeit um die Jahrhundertwende als Mitarbeit an der sozialen Reform und als Versuch, sozialen Zusammenhalt neu herzustellen, der angesichts der verhärteten sozialen und politischen Auseinandersetzungen und der zunehmenden Vereinzelung infrage gestellt und bedroht war. Angesichts der gegenwärtigen Probleme, der auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich und der internationalen Ungleichheit und Konflikte, ist Alice Salomons sozialpolitischer Ansatz von anhaltender Bedeutung. Er beruht auf der jüdisch-christlichen Tradition und der Aufklärung und ist auf Gerechtigkeit und internationale Zusammenarbeit orientiert.

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Die Namensgeberin der Schule: Alice Salomon um 1908.

Zur selben Zeit wie die soziale Arbeit entwickelte sich auch die Soziologie als eine eigenständige Wissenschaft. Aus unterschiedlichen Perspektiven setzten sich Sozialarbeiterinnen und Soziologen mit der Frage auseinander „Wie ist Gesellschaft möglich?“. Dabei mussten die theoretischen Grundlagen ebenso erarbeitet werden wie die praktischen.

Die Ausbildung war nicht nur auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt, sie basierte auch auf einer internationalen Orientierung. Die moderne soziale Arbeit hatte sich in einem internationalen Zusammenhang entwickelt, der durch die internationalen Organisationen der Frauenbewegung, durch internationale Kongresse zu Arbeiterschutz und Armenpflege, durch die Weltausstellungen sowie durch individuelle Studienreisen und -aufenthalte vermittelt wurde.

Ein Großteil der Dozentinnen und Dozenten und der Schülerinnen dieser ältesten interkonfessionellen Schule war aus dem jüdischen Bürgertum gekommen und sie hatten die Schule mitgeprägt. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten blieb die »Soziale Frauenschule« zwar erhalten, doch wurden bis 1934 mehr als die Hälfte aller Lehrkräfte entlassen, darunter alle Jüdinnen, und im Frühjahr 1934 war keine jüdische Schülerin mehr auf der Schule. Alice Salomon durfte die Schule nicht mehr betreten. Sie wurde 1937 von der Gestapo zur Emigration gezwungen, ihr „Vermögen“ wurde beschlagnahmt und sie wurde 1939 ausgebürgert. Die Ausbildung wurde neu orientiert nach den nationalsozialistischen Vorstellungen von »Volkspflege« und »Volkserziehung«, die von der Politik der „Rassenpflege“ und der Unterscheidung zwischen „lebenswertem und lebensunwertem Leben“ nicht getrennt werden konnte. Die Schule wurde in »Schule für Volkspflege« umbenannt.

Nach 1945 öffnete sich die Schule zunächst zögernd dem demokratischen Ansatz sozialer Arbeit, wie er mit dem Reeducation Programm der US-Militärregierung vertreten wurde. Jetzt wurden auch männliche Studierende zugelassen. 1954 nahm die Schule den Namen Alice Salomons an, den sie schon einmal 1932 – jedoch nur für wenige Monate – getragen hatte. Zusammen mit anderen Institutionen privater und staatlicher Ausbildung in der Sozialarbeit wurde sie schließlich 1971 als Fachhochschule neu konstituiert und bekam den Status einer akademischen Ausbildungsstätte „Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik“.

Seit 1991 trägt die Fachhochschule erneut den Namen Alice Salomons und ist zu einer der größten sozialpädagogischen Ausbildungsstätten in Deutschland geworden.

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Arbeiterinnenclub um 1900

In der Gründungsphase hatte Alice Salomon die Grundlagen für die Ausbildung gelegt, die sich bis heute als tragfähig erwiesen haben: wissenschaftliche Fundierung der Ausbildung, Interdisziplinarität, eine enge Verbindung zwischen Theorie und Praxis sowie die internationale Orientierung und Interkonfessionalität.

Zum Jubiläum erscheint eine umfangreiche Darstellung der Hochschulgeschichte ebenso wie die Lebenserinnerungen Alice Salomons in einer neuen ungekürzten Ausgabe und es wird eine Dokumentation über die jüdischen Schülerinnen und DozentInnen geben.


Alice Salomon Hochschule Berlin
Alice-Salomon-Platz 5
12627 Berlin
Tel.: 49 30 992450
www.asfh-berlin.de