Das universale Museum

Europa und die Welt – vom Betenden Knaben über Nofretete zum Humboldt-Forum

von Peter-Klaus Schuster
Mit freundlicher Genehmigung des Tagesspiegels (12. August 2005)

Das Museum ist immer auch sein Gegenteil. Was immer ein Museum sein mag, was immer auch ein Museum begründen mag, das Gegenteil davon ist ebenso zutreffend. Das zeigt sich besonders deutlich auch am Gründungsmythos der Staatlichen Museen zu Berlin, die in diesem Jahr ihr 175-jähriges Jubiläum feiern. Am Beginn der Staatlichen Museen zu Berlin, der vormals König-lich Preußischen Museen, steht der Gedanke der Menschheit. Schinkels 1823 entworfenes und am 3. August 1830, also vor 175 Jahren eröffnetes Museum am Lustgarten ist mit seiner monumentalen Säulenvorhalle und der Rotunde als Zentralraum geradezu zum Inbegriff eines klassizistischen Bildungstempels geworden, welcher nicht einer einzelnen Nation, sondern der ganzen Menschheit gewidmet ist.

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Das Alte Museum von Karl Friedrich Schinkel mit seiner Säulenfassade.

Als Ort für diese so kühne wie umfassende Bildungsutopie war einzig die Mitte Berlins angemessen. Schinkels Plan für den Neubau des Museums am Lustgarten genau gegenüber dem Schloss verrät unschwer, wie sehr damit bereits ein Masterplan für alle zukünftigen Museumsbauten vorgegeben war, die nötig wurden, um diesem universalen Sammlungsauftrag zu entsprechen. Antithetisch zur politischen Macht im Schloss, antithetisch auch zum Dom als Sitz des Glaubens und zum Zeughaus als Ort der militärischen Gewalt ist Schinkels weit geöffnetes Museum ein jedermann zugänglicher Tempel bürgerlicher Bildung. Es war mithin der selbstbewusste Bürger, der von der offenen Vorhalle des Schinkelschen Museums seinem königlichen Souverän auf der anderen Seite auf gleicher Augenhöhe gegenüber trat. In dem klassizistischen modernen Gebäude als Gegensatz zum Schloss im höfischen Barockstil hatte der Bürger nun einen ganz ihm eigenen Bereich des ästhetischen Genusses, der Bildung und Gelehrsamkeit zum ausschließlichen Zweck seiner Selbstvervollkommnung gewonnen.

Diesen entscheidenden Gedanken, der die Berliner Museen als Bildungsort der Menschheit so sehr auszeichnet, zelebrierte Schinkel im ästhetischen Andachtsraum seiner Rotunde. Mit dieser, dem Pantheon in Rom nachgebildeten Rotunde im Zentrum, ist Schinkels Museum ganz offensichtlich das Architektur gewordene Zeugnis jener Kunstreligion Goethes und des Weimarer Idealismus, wonach die Betrachtung der Kunst – insbesondere die der Antike – den Menschen zu jener Vollkommenheit erhebt, die er als ein gesellschaftlich bedingtes Wesen auf anderem Weg kaum je erreichen kann. So wird in Schillers berühmten Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795 klar unterschieden zwischen dem Reich der Kunst und den gesellschaftlichen Zwängen, denen der Mensch unterliegt und die er auch durch Revolutionen letztlich nicht zu ändern vermag. Im entscheidenden Unterschied zum Louvre sind die Berliner Museen in ihrer Gründungsidee also gerade kein Museumsmonument der nationalen Größe eines Zentralstaates. Vielmehr verstehen sie sich ausdrücklich und von Anfang an als Ort der Menschheitsbildung durch die Verehrung aller Künste und Kulturen der Welt.

Der Betende Knabe, jene schon damals legendäre antike Bronzestatue eines nackten Jünglings mit himmelwärts erhobenen Armen, wurde nach dem Sieg über Preußen von den Napoleonischen Truppen nach Paris entführt. Er bildete dort seit 1806 den viel bewunderten Mittelpunkt im Saal der Diana im Erdgeschoss des Louvre. Die von Napoleons Truppen aus ganz Europa zusammengetragenen Kunstwerke bleiben im so genannten Musée Napoléon in den Räumen des Louvre nicht mehr in den höfischen Sammlungen verborgen. Erstmals wird die Kunst im Musée Napoléon in Paris der gebildeten Öffentlichkeit aus aller Welt zugänglich. Man sammelt die Kunst der Welt und gibt sie der Welt zurück – geordnet nach den wissenschaftlichen Kriterien des Museums.

Mit der 1815 endlich erlangten Rückkehr der geraubten Kunstwerke aus Paris konnte man in Berlin nicht mehr hinter diese Nobilitierung zurückgehen. Schinkels Museum, obschon doch eigentlich der Menschheit gewidmet, entspricht völlig dieser patriotischen Perspektive. Denn nicht nur hat er absichtsvoll die Säulenfront seines Museums reihenweise mit preußischen Adlern bekrönt und die Kunst somit unter staatlichen Schutz gestellt.

Alte Nationalgalerie

Die Alte Nationalgalerie wurde 2001 wiedereröffnet.

Weit bemerkenswerter im Hinblick auf die Verteidigung der Kunst als nationaler Besitz ist aber, dass Schinkel sein Museum mit strategischem Kalkül vis-à-vis vom Schloss und zugleich auch am Ende der via triumphalis Unter den Linden positioniert hat. Diese beginnt militärisch am Brandenburger Tor und endet militärisch mit Schinkels Schlossbrücke und dem von ihm bereits 1819 als Schmuck für die Brücke entworfenen Skulpturenprogramm auf den Befreiungskrieg der Deutschen gegen Napoleon. Diese acht Skulpturen, die auch Schinkels Zeichnung seines Museums von 1823 bereits als vollendet darstellt, sie thematisieren auf dem öffentlichen Wege zum Museum das im Befreiungskrieg vollbrachte Heldenopfer der Bürger für den Staat, für die Errettung Preußens und ganz Deutschlands aus der napoleonischen Gefangenschaft. Die siegreichen Befreiungskriege der Bürger enden im Museumstempel für die Bürger. Mit seinem Pantheon als Zentralraum und dem genau in der Blickachse jedes eintretenden Besuchers aufgestellten himmelwärts betenden Knaben, gerahmt von zwei Viktorien, verwandelt sich Schinkels Museum geradezu in eine Befreiungshalle der Deutschen im Geist der Antike.

Das Museum ist immer auch sein Gegenteil – Aufklärung und ästhetische Religion, Menschheitspathos und patriotische Gesinnung, national und universal, das sind um 1830 offensichtlich keineswegs Gegensätze, die sich ausschließen, sondern die komplementären Leitbilder der Berliner Museen sowohl ihrer geistigen wie auch ihrer gebauten Architektur von Anbeginn. Der Mensch ist frei einzig in der Kunst und nur in den Künsten und nur als künstlerisches Wesen ist er wirklich ein Mensch. Diese ästhetische Grundüberzeugung der Weimarer Klassik reicht von Schinkels Museum durch den fortdauernden Einfluss der Bildungswelt der beiden Humboldts über die gesamte Museumsinsel. Ja, wir dürfen sogar annehmen, dass es der Einfluss des weltkundigen Alexander von Humboldt war, der den jungen König Friedrich Wilhelm IV. 1841 davon überzeugte, das gesamte Gelände hinter Schinkels Museum als „Freistätte für Kunst und Wissenschaft“ ausschließlich den Museen zur Verfügung zu stellen als Ort für zukünftig weitere vier Museumstempel.

Der erste Erweiterungsbau für die rapide anwachsenden Sammlungen war unmittelbar hinter Schinkels Museumstempel das Neue Museum. Erbaut von dem Schinkel-Schüler Friedrich August Stüler und eröffnet 1855 als ein im Inneren kostbar dekorierter Tempel der Geschichtswissenschaften, wird dessen vom Krieg in großen Teilen verschonter Reichtum der Innendekoration bei der Wiedereröffnung 2009 alle verzaubern und begeistern. Der im Neuen Museum vollzogenen Verwissenschaftlichung der Kunsterfahrung durch die genaue Kenntnis der Geschichte entspricht der erstmals hier beginnende Einzug der außereuropäischen Kunst Ägyptens und der ethnologischen Sammlungen sowie der Vor- und Frühgeschichte auf die Museumsinsel.

Die Nationalgalerie als drittes Haus, ebenfalls von Stüler entworfen, vervollständigt den Blick der Museumsinsel und wendet ihn von der Vergangenheit nun auch auf die Kunst der Moderne. Die Kunst der Alten Meister hingegen, die Malerei und Skulpturen von der Spätantike über Mittelalter, Renaissance und Barock bis um 1800 beziehen seit 1904 das ganz im Wasser stehende Traumschloss des BodeMuseums. Dieses vierte Gebäude auf der Museumsinsel wird uns generalsaniert am Ende dieses Jahres übergeben und in seiner Verbindung der Kunstgattungen Bodes ästhetische Inszenierung des Museums als Gesamtkunstwerk von Epochen und Stilen wieder aufleben lassen. Die großen Grabungen der Berliner Museen in Ägypten, Kleinasien, im Zweistromland und Griechenland haben unter strenger Beachtung der Fundteilung schließlich zum Erwerb großartiger Werke der Weltkunstgeschichte auf der Museumsinsel geführt. Nofretete zog mitsamt ihrem archäologischen Umfeld aus Amarna ins Neue Museum. Großarchitekturen aus Babylon, Pergamon und Milet von gigantischem Ausmaß bilden gemeinsam mit der Kunst der islamischen Welt das Pergamonmuseum. Dieser jüngste Tempel der Museumsinsel wurde 1930 eröffnet. So feiern die Staatlichen Museen zu Berlin in diesem Jahr nicht nur das 175. Jubiläum ihrer Gründung, sondern ebenso das 75. Jubiläum der Vollendung der Museumsinsel nach einhundertjähriger Bauzeit.

Museumsinsel

Weltkulturerbe Museumsinsel: Der imposante Dom und das Alte Museum umrahmen den Lustgarten. Zwischen Neuem Museum und Bodemuseum, die beide grundlegend saniert werden, beherbergt das Pergamonmuseum Schätze der Antike. Die Alte Nationalgalerie zeigt Gemälde und Skulpturen des 19. Jahrhunderts.

Die Museumsinsel verwirklicht die besten Traditionen der deutschen Bildungsgeschichte, nämlich die Künste und Kulturen der Welt zum Vergnügen und Nutzen möglichst vieler Besucher zu erhalten, zu erforschen und zugänglich zu machen. Im Hinblick auf die enge Verknüpfung der Berliner Museumsgeschichte mit der deutschen Geschichte hat die Museumsinsel mithin ein Doppeltes bewirkt: Sie stiftete den Deutschen nicht zuletzt dank der seit 1865 bereits geplanten Nationalgalerie ein anschauliches Bewusstsein ihrer nationalen Einheit im Bereich der Kultur, Jahre bevor diese Einheit 1871 im politischen Leben Wirklichkeit wurde. Und weiterhin durften sich die Deutschen auf der Museumsinsel als wirkliche Kosmopoliten im Reich der Kunst, als die Begründer, die Hüter und die Bewohner eines einzigartigen Kosmos der Künste und Kulturen der Welt empfinden.

Mit ihren insgesamt 17 Museen, ihren vier Forschungsinstituten und ihrem unverändert universalen Anspruch, die Kunst und Kultur der ganzen Welt zu sammeln, dürfen die Staatlichen Museen zu Berlin als die umfangreichste Sammlung in Deutschland gelten und als das umfassendste der fünf großen Universalmuseen weltweit. Es versteht sich von selbst, dass für dieses so universale Sammlungskonzept der Staatlichen Museen zu Berlin selbst die von 1830 bis 1930 erbauten Museumstempel der Museumsinsel zu klein wurden. Deshalb haben sich die Staatlichen Museen über die Museumsinsel als den Ort für die europäische Kunst und ihre Vorläufer bis 1900 merklich ausgedehnt.

Das Kulturforum am Potsdamer Platz entwickelt sich zu einer zweiten Museumsinsel, einer zukünftigen Insel der Moderne für die Künste des 20. und 21. Jahrhunderts in der modernen Mitte Berlins. Dazu gehören auch der Hamburger Bahnhof als Museum für Gegenwart sowie die Sammlungen der klassischen Moderne in den beiden Stüler-Pavillons vis-à-vis vom Schloss Charlottenburg, das Museum Berggruen und ihm gegenüber demnächst auch das Museum Scharf-Gerstenberg für die Kunst von der französischen Romantik bis zum Surrealismus.

Die außereuropäischen Sammlungen in Dahlem, wo im Jubiläumsjahr kurz nach Nofretetes Einzug ins Alte Museum die Kunst Afrikas ihre Neupräsentation eröffnet, werden nach einem Beschluss des deutschen Parlaments zukünftig ihren Platz gegenüber der Museumsinsel auf dem Schlossplatz finden. Dann werden die europäischen Sammlungen auf der Museumsinsel mit den außereuropäischen Sammlungen auf dem Schloss-Areal im Herzen Berlins wie nirgendwo sonst in einen einzigartig engen Dialog treten können.

Mit diesem Dialog kehren die Berliner Museen dann höchst folgenreich genau an jenen Ort zurück, aus dem sie einst hervorgegangen sind, als sie noch keine öffentlichen Museen waren: die königliche Kunstkammer im Schloss. Sie hat sich unter der Obhut von Leibniz, dem ersten Philosophen der Aufklärung in Deutschland, zu einem ersten weithin gepriesenen und gerühmten Universalmuseum entwickelt, in dem die Antikensammlung mit der ägyptischen Sammlung und den Ethnologica aus Afrika, Amerika und Asien bereits seit langem vereint waren. Diese so universal ausgerichtete Kunstkammer im Berliner Schloss galt bereits damals als der führende Ort anschaulich aufgeklärter Weltkenntnis und Weltkompetenz.

Nichts anderes ist mit dieser Doppelkomposition Museumsinsel – Schlossareal, mit dem Dialog Europa – Außereuropa, als Ziel das Humboldt-Forum: Wilhelm für Europa – Alexander für Außereuropa, nichts anderes ist mit dieser nur in Berlin und nur mit den riesigen Berliner Sammlungen anschaulich darstellbaren Doppelkomposition gemeint als eben die Erfüllung genau dessen, was in der Nachfolge der königlichen Kunstkammer mit gleichem Aufklärungspathos bereits seit 175 Jahren auf dem Architrav von Schinkels Museum am Lustgarten inschriftlich zum Programm der Berliner Museen gemacht wurde: „Studio antiquitatis omnigenae et artium liberalium.“

Mit dem vorläufigen Einzug der Nofretete und der ägyptischen Sammlung ins Obergeschoss von Schinkels Museum, von wo sie in vier Jahren dann endgültig an ihren angestammten Platz im wiederhergestellten Neuen Museum zurückkehren wird, mit diesem Einzug Ägyptens über der Antikensammlung ist die Inschrift für Schinkels Museum wahrer geworden als je zuvor. Nicht nur die europäische Antike, sondern ebenso ihre Voraussetzungen in Ägypten – ex oriente lux – sowie die Bezüge des alten Ägyptens zur Skulptur Afrikas bis hin zur Kunst der Moderne, zu Giacometti oder Francis Bacon, all das macht die weit mehr auf die Kunst als auf die Kulturgeschichte ausgerichtete Neupräsentation der Ägyptischen Sammlung anschaulich deutlich. Schinkels Museum am Lustgarten verwandelt sich unter der zusätzlichen neuen Inschrift des italienischen Lichtkünstlers Maurizio Nannucci „All art has been contemporary“ plötzlich in jenes Universalmuseum der Weltkunst, von dem Schinkel, Goethe und die kosmopolitischen Brüder Humboldt bereits geträumt haben, in einen einzigartigen Ort der Aufklärung und der Selbstaufklärung durch die Wahrnehmung, den Genuss und die Erforschung von Kunst.

Mit dem Einzug der Nofretete und der ägyptischen Sammlung in Schinkels Museum ist somit bereits eine wesentliche Etappe auf dem Weg zum Ziel der Staatlichen Museen zu Berlin erreicht: die Kunst und Kultur der ganzen Welt in der Mitte Berlins zu vereinen. Die Mitte Berlins als Ort universaler Aufklärung, als Ort der Weltkunst und der Weltkompetenz durch die Staatlichen Museen zu Berlin als dem größten existierenden Universalmuseum – nicht mehr, aber auch nicht weniger wünschen wir uns für Berlin, für diese so großartige und einzigartige Stadt und zum 175. Jubiläum der Staatlichen Museen zu Berlin.

Dass wir mit dem Einzug der Nofretete in Schinkels Museum den entscheidenden Schritt zum großen Ziel bereits jetzt vollziehen konnten, verdanken wir ganz der finanziellen Unterstützung durch unser Kuratorium Museumsinsel. Dafür sei dem Kuratorium unter seinem Vorsitzenden Henning Schulte-Noelle nochmals sehr herzlich gedankt!


Der Autor ist Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin und zugleich Direktor der Nationalgalerie.

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