„Im Reich der Nummern, wo die Männer keine Namen haben“

Von Dr. Astrid Ley, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen

Eine Ausstellung beleuchtet Haft und Exil der Novemberpogrom-Gefangenen im KZ Sachsenhausen aus der Perspektive von Angehörigen der zweiten und dritten Generation.

Jüdische November-Porgrom-Häftlinge im KZ Sachsenhausen, 19.12.1938

Jüdische November-Porgrom-Häftlinge im KZ Sachsenhausen, 19.12.1938

Am 9. November 2018 jährte sich zum 80. Mal die Pogromnacht von 1938, als Schlägertrupps der NSDAP und SA vor aller Augen reichsweit Synagogen in Brand setzten, jüdische Bürgerinnen und Bürger misshandelten und ihre Geschäfte und Wohnungen zertrümmerten. 27.000 jüdische Männer wurden nach den Ausschreitungen in ganz Deutschland verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt, über 6.300 von ihnen in das KZ Sachsenhausen. Ihr Schicksal steht im Zentrum einer Sonderausstellung, die am 8. November 2018 im Berliner Abgeordnetenhaus eröffnet wurde und die ab dem 27. Januar 2019 in der Gedenkstätte Sachsenhausen in Oranienburg zu sehen ist. Parallel wird die Ausstellung bis zum 30. April 2019 im Holocaust Museum Houston (USA) gezeigt. Ziel der Massenverhaftungen vom November 1938 war es, den Auswanderungsdruck auf die deutschen Juden massiv zu erhöhen. Tatsächlich wurde die große Mehrheit nach einigen Wochen unter der Auflage wieder entlassen, sofort aus Deutschland zu emigrieren. Viele von ihnen überlebten in der Folge das NS-Regime und den Krieg. Ihre Kinder und Enkel kommen heute aus aller Welt in die Gedenkstätte Sachsenhausen, um sich den Leidensort ihrer Verwandten anzusehen.

Zeitzeugen der zweiten und dritten Generation

Die Begegnung mit den Angehörigen der zweiten und dritten Generation stand am Anfang der Ausstellung. Wie wurde das Leben dieser Familien durch die erzwungene Emigration der (Groß-) Eltern beeinflusst, die zuvor ihr Eigentum meist weit unter Wert hatten verkaufen müssen? Welche Schwierigkeiten waren bei der Beschaffung der nötigen Auswanderungspapiere zu überwinden? Was erwartete die Emigranten in ihren Zufluchtsländern, deren Sprachen viele anfangs nicht verstanden? Gelang es den Vertriebenen, sich im Exil eine Existenz aufzubauen, die dem in Deutschland Erreichten halbwegs entsprach? Fanden sie eine neue Heimat?
Diesen Fragen geht die Ausstellung aus der Perspektive von Angehörigen der zweiten und dritten Generation nach, also von Kindern und Enkeln der in Sachsenhausen Inhaftierten. Sie kamen als Besucher in die Gedenkstätte und waren bereit, vor der Kamera zu berichten.

Häftlingsbrief von Georg Prager an seine Frau

Berlin − Shanghai − Melbourne: Die Geschichte der Familie Prager

Einer der Interviewten ist Lothar Prager (aktuell- Leser, Anm. d. Red.) aus Melbourne, geboren 1938 in Berlin, der im Juni 2017 mit Frau und Töchtern in die Gedenkstätte kam. Dabei übergab er einen Brief, den sein Vater 1938 aus dem Konzentrationslager an seine Mutter geschrieben hatte. Pragers Vater, Georg Prager (1904-1960), der im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg eine kleine Buchdruckerei betrieb, war am Abend des 9. November in Berlin verhaftet und nach Sachsenhausen überstellt worden. Hier wurde er im Block 41 der „jüdischen Baracken“ untergebracht und musste im Außenkommando „Klinkerwerk“ schwere körperliche Arbeit leisten. Am 26. November 1938 durfte er sich erstmals bei seiner Familie melden. In einem Brief auf KZ-Vordruck riet er seiner Frau, sofort den Betrieb und die Wohnung aufzulösen und alles für die Emigration vorzubereiten. Als Fluchtziele kamen aus Visumsgründen nur Südamerika oder Shanghai in Betracht. Für letzteres konnte Pragers Frau tatsächlich Schiffskarten ergattern. Im Januar 1939 – nach Haftentlassung und hastigem Verkauf der Druckerei – brach das Paar mit Säugling Lothar nach Südostasien auf.

Im Bezirk Hongkou fanden sie eine kleine Wohnung, doch als Drucker konnte Prager in der chinesischen Stadt nicht arbeiten. Mühsam schlug sich die Familie durch Gelegenheitsjobs und den Verkauf mitgebrachter Haushaltsgegenstände durch. Nach Kriegsende konnte eine Cousine Einreisepapiere für Australien beschaffen. 1946, nach acht Jahren in Shanghai, siedelten die Pragers nach Melbourne über. Als Mitarbeiter einer jüdischen Druckerei brachte es Georg Prager wieder zu bescheidenem Wohlstand. Anfang 1960 starb er im Alter von gerade mal 56 Jahren. Die Pragers waren tief in Deutschland verwurzelt. In der Kleinfamilie wurde stets Deutsch gesprochen; noch heute hat der Sohn Lothar einen Berliner Zungenschlag. Dennoch: Die Vertreibung aus der Heimat hat das Ehepaar Prager tief gekränkt. Vor allem Lothars Mutter wollte nie wieder deutschen Boden betreten.

Lothar Prager mit Familie in der Gedenkstätte Sachsenhausen

Lothar Prager mit Familie in der Gedenkstätte Sachsenhausen

Familiennarrative zu Deportation, Gewalterfahrung, Flucht und Exil

Beim Interview in der Gedenkstätte Sachsenhausen sprach Lothar Prager ausführlich über die Erzählungen seiner Eltern von Deportation und Gewalterfahrung und über seine eigenen Erinnerungen an Flucht und Exil. Sein Bericht wird in der Ausstellung in „Familienbiographie“ über die Pragers eingebettet, die mit Fotos und Dokumenten aus dem Familienbesitz – darunter auch der oben erwähnte Lager-Brief – illustriert ist.

Zwölf solcher „Familienbiographien“ mit Interviews werden in der Ausstellung präsentiert. Die zwölf Geschichten, die mit den wichtigsten Zufluchtsländern in Beziehung stehen, nahmen ihren Ausgang im KZ Sachsenhausen, das der Anfang 1939 nach Argentinien geflohene Gerhard Nassau später als „Reich der Nummern“ beschrieb, „wo die Zeit stillsteht und die Männer keine Namen haben“. In der Ausstellung werden – über die „Überlebensgeschichten“ hinaus – auch jene Männer in den Blick genommen, die nicht überlebten. Die Ausstellung wurde als Wanderausstellung in einer deutsch-englischen und einer rein englischen Fassung konzipiert. Sie kann ausgeliehen werden.

Informationen zur Ausstellung und zum Rahmenprogramm in Deutschland: www.stiftung-bg.de/gums/de
Informationen zur Ausstellung und zum Rahmenprogramm in Texas: www.hmh.org