Auf der Suche nach meinem Großonkel Hermann Steinberg

Inzwischen ist das Jahr 2016 in vollen Zügen und ich bin 44 Jahre jung, kann mich genau daran erinnern, als meine Eltern uns am 21. April 2014 besuchten. Es war der 7. Pessach-Tag, gemeinsam genossen wir den Tag, noch einmal fragte ich meine Eltern nach der Geschichte unserer Familie. Etwas zurückhaltend fing mein Vater an zu erzählen. Nach 43 Jahren hörte ich erstmalig die Geschichte meiner Familie – eine Geschichte voller Traurigkeit und Stillschweigen. Im Gespräch erwähnte er eine Gedenktafel am Rathaus Jüterbog/Brandenburg, die für ein Familienmitglied angebracht ist. Nach so vielen Jahren erfuhr ich etwas über unseren Großonkel Hermann Steinberg.

Familienbild mit Emma, Herman, Elisabeth, Elsbeth und Hildegard Steinberg (von links)

Familienbild mit Emma, Herman, Elisabeth, Elsbeth und Hildegard Steinberg (von links)

Mein Vater selber teilte mir nur wenig über ihn mit, auch die Fragen, die ich nach dem Besuch bei meinen Verwandten stellte, stießen eher auf Unbehagen. Dieses Unbehagen, die nicht beantworteten Fragen, weckten in mir immer mehr Interesse an Hermann Steinberg. Wer war Hermann Steinberg? Wer und wo ist seine Familie? Leben noch Kinder von ihm? – Alle diese Fragen und viele mehr stellte ich mir. Und somit machte ich mich auf die Suche nach der Geschichte und den Spuren von meinem Großonkel Hermann Steinberg.

Auf der Gedenktafel am Rathaus Jüterbog standen lediglich Geburtsdatum und Todesdatum. Das Wissen nach mehr entbrannte in mir, folglich schrieb ich Gedenkstätten, das Archiv Auschwitz, Yad Vashem, das Bürgeramt/Melderegister in Treuenbrietzen und Jüterbog, das Landesarchiv in Potsdam und viele mehr an. Ich fragte nochmalig bei der Familie nach und hörte immer wieder dieselbe Antwort: „Was willst Du denn damit machen? Warum interessiert Dich das?“ Ja, warum interessiert mich das? Warum bin ich so interessiert an der jüdischen Geschichte und der Lebensgeschichte von jüdischen Zeitzeugen? Diese Fragen stellte ich mir schon ein paar Jahre davor, als ich die Geschichte der Freundin meiner Schwiegermutter, Ruth Grünberg, ans Licht brachte.

Nach den vielen Jahren der Suche wusste ich nun, dass ich auch mit der Geschichte des jüdischen Volkes verbunden bin, nicht nur durch meine Frau, sondern auch durch einen Teil meiner Familie. Ein paar Tage, nachdem ich anfing, per Mail an verschiedene Einrichtungen und Archive zu schreiben, erhielt ich Antworten. Dabei erreichte mich eine Mail von einem Pfarrer. Dieser recherchierte seit über 20 Jahren die Geschichte der Luckenwalder Juden. Er gab mir Antworten auf meine Fragen und endlich hatte ich nicht nur die in Granit gemeißelten Buchstaben von meinem Großonkel, sondern auch ein paar genaue Angaben. Mittlerweile bekam ich auch Antworten von den Archiven und Ämtern und konnte aus diesem kleinen Puzzleteil, das ich von meinen Eltern bekam, ein komplettes Bild machen. Auch meine Tante, die so lange nicht viel erzählt hat, gab mir Informationen.

So erzählte sie mir, dass eine der drei Töchter von Hermann und Emma Steinberg noch lebt und im Krankenhaus in Belzig sei. Ich konnte es kaum erwarten und fing an zu telefonieren. Niemand konnte mir sagen, in welchem Krankenhaus sie lag. Glücklicherweise gab es nur vier Krankenhäuser in Bad Belzig. Soweit ich mich erinnern kann, war es das letzte Krankenhaus auf meiner Liste. Nachdem ich von der Zentrale in viele verschieden Stationen verbunden wurde, hatte ich eine sehr freundliche Stationsschwester am Hörer, die mich gleich fragte, wen ich sprechen möchte. So erzählte ich ihr alles, was ich wusste und auf einmal sagte sie zu mir: „Moment, sie läuft gerade hier vorbei.“ Ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben, das in diesem Augenblick meinen Körper durchzogen hat. Die Stationsschwester gab ihr den Hörer und auf einmal hörte ich eine leise ältere Stimme am anderen Ende des Telefons mich fragen: „Wer sind sie?“ Ich antwortete: „Ich bin André Poser, der Sohn von Dieter und Waltraud Poser.“ „Au ja!“, sagte sie, „Ich habe dich als kleines Kind auf dem Arm gehalten.“ Und sie erzählte noch vieles mehr.

Was für ein wunderbares Gespräch es doch war, nach so vielen Jahren des Nichtwissens. Auf einmal war es so, als hätte man sich gerade gestern erst gesehen.

Ihre kurze Erzählung am Telefon und die vielen Informationen, die sie mir mitgab, haben mir geholfen weiterzusuchen. Der Familie in Jüterbog erzählte ich diese freudige Nachricht und unerwartet erzählten sie mir, dass die drei Töchter von Hermann und Emma Steinberg verheiratet waren und auch Kinder haben, sie nannten mir sogar den Namen von einem Enkel der Steinbergs. Unglaublich, ich hatte diesmal sogar einen vollständigen Namen, das machte das Finden doch viel einfacher und somit fand ich einen Enkel von Hermann und Emma in Falkensee, der mir auch den Kontakt zu seinen Cousinen gab.

Das Operationsbuch aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau

Das Operationsbuch aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau

Eine von ihnen sandte mir Bilder, unter anderem auch ein Familienbild aus den dreißiger Jahren und andere Bilder der drei Kinder der Steinbergs. Nach und nach bekam ich immer mehr detaillierte Informationen. Auch aus Auschwitz erfuhr ich mehr. So auch, dass Hermann am 17. Mai 1943 in das KZ Auschwitz eingeliefert wurde, dort die Häftlingsnummer 122384 bekam, am 20. Juni 1943 im Block 21 und abermals am 12. Oktober 1943 im Block 21 operiert wurde, am 30. Oktober 1943 um 8.40 Uhr ist er aufgrund der operativen Eingriffe gestorben. Ein Operationsbuch der Chirurgischen Abteilung (Block 21) des Häftlingskrankenbaues des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, das mir in einer Mail mitgesandt wurde, machte mich sehr traurig. Ich wurde mit den brutalen Taten der Mörder konfrontiert.

Für mich war es grausam, als ich meinen Großonkel auf den Seiten 148 und 282 mit fortlaufender Nummer fand. Der Gedanke dahinter, dass die brutalen Mörder, die in weißen Kittel auftraten, mehrere Menschen einfach so töteten und zu erfahren, dass der Arzt, der deinen Großonkel ermordet hat, ein Leben nach dem Krieg einfach so unbescholten weiterführte … Ja, auch stellte ich mir die Frage: Gibt es Kinder und Enkelkinder des Arztes, der diese Operationen durchführte? Und möchte ich diese treffen? Ich kann diese Frage heute mit einem klaren ja beantworten. Gerne möchte ich diese Menschen treffen und ihnen Fragen stellen, die ich auf dem Herzen habe.

Es ist etwas Zeit vergangen, ich habe mich etwas zurückgenommen, auch, um das zu verarbeiten, was wir herausgefunden haben. Mit „wir“ meine ich meine Frau und mich. Sie steht mir jederzeit zur Seite und hört meinen Erzählungen zu.

Und mittlerweile habe ich viel Neues erfahren, eine Bekannte gab mir einen Kontakt nach Polen zum „Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute – Jewish Genealogy & Family Heritage Center“. An das Center stellte ich meine Fragen. Es hilft dabei, polnische und jüdischen Wurzeln zu finden, so hat es auch mir geholfen, einen Teil meiner Familie zu finden.

Es sandte mir eine Aufstellung der Geburtsdaten von meinem Großonkel Hermann Steinberg und dessen Familie und stellte mir einen Stammbaum von den Steinbergs (Sztainbergs) zur Verfügung. Die Mitarbeiterin gab mir noch viele weitere Informationen, auch dass ein Familienmitglied, Manny (Hersz Mendel) Steinberg, das Buch „Outcry – Holocaust Memoirs“ über seine Erinnerungen geschrieben hat.

Diese Information war für mich ein wichtiger Punkt, ich konnte mich nun endlich mit einem Cousin von Hermann Steinberg in Verbindung setzen.

Ich fand Manny Steinberg im Internet und schrieb ihn einfach an und nach kurzer Zeit bekam ich eine Antwort. Ich gab ihm alle Informationen zu meiner Familie und der Zugehörigkeit zu der Familienlinie von Hermann Steinberg. Es dauerte nicht lange, da bekam ich von Manny einen Brief mit Fotos von seinen Kindern und seiner Familie, ebenso antwortete er mir auf die E-Mails, die ich schrieb und teilte mir mit, dass wir uns gefunden haben.

Manny Steinberg wurde zu der Zeit, als er mir diese Sachen per Post und E-Mail schrieb, 90 Jahre alt und es machte ihn überaus glücklich, dass wir wieder als Familie verbunden sind. Ich habe ihn nur per E-Mail und Schriftverkehr kennengelernt, leider hatte ich nicht die Möglichkeit ihn zu besuchen.

Auch heute macht mich dieser Gedanke traurig, wenn ich diese Zeilen schreibe, denn Manny Steinberg ist am 21. Dezember 2015 im Alter von 90 Jahren gestorben.

Dank Manny habe ich heute Kontakt zu der Familie Steinberg, die in Israel, Argentinien und in Amerika lebt und weiß, dass ein Teil der Familie den Holocaust überlebt hat und viele Jahre auf der Suche nach dem Rest der Familie war.

Heute, nach den vielen Tagen der Suche, danke ich meinen Eltern, dass sie mir über Hermann Steinberg erzählt haben und freue mich gleichzeitig, dass ich einen Teil meiner Familie wiedergefunden habe.

Und ich kann für mich sagen, „dass die gestohlene jüdische Vielfalt in uns weiterlebt – und wir diese ans Licht bringen.“

André Poser
Chiffre 216102