Ein unglaublicher Brief aus Berlin

Kürzlich bekam ich eine E-Mail von Frau Ulrike Neuwirth, Archivistin im Jüdischen Museum Berlin. Sie bekam einen Anruf von einem älteren Herrn, der schon jahrelang einem kleinem Nachbarmädchen, mit dem er einst spielte, nachgrübelte. Eines Tages waren sie und ihre Mutter weg. Nun wendete er sich an das Museum, ob dort irgendetwas herauszufinden wäre.

Er erinnerte sich nicht an den Namen des Mädchens, gab Frau Neuwirth aber die Adresse. Sie schrieb mir und ich wäre fast vom Stuhl gefallen. Um diese lange Geschichte zu verkürzen: Ich bin das kleine Mädchen. Ich kann mich zwar an die Familie erinnern, aber nicht an diesen „kleinen Jungen“, der etwa drei Jahre jünger war als ich.

Nun kam folgender Brief von ihm, der fast erschütternd ist, da er sich jahrelang Gedanken machte, was aus meiner Mutter und mir geworden sei, und dass er nun beruhigt sei.

Sehr geehrte Frau Beasley,
Sie werden sich wundern, von einem Ihnen unbekannten Menschen einen Brief zu bekommen. Das möchte ich Ihnen hiermit gerne erklären. Dazu muss ich bis in die Kriegsjahre gedanklich zurückgehen.

Mit meinen Eltern wohnte ich damals in Berlin-Neukölln, Tellstraße 11. Sie und Ihre Mutter wohnten im selben Haus, Vorderhaus-Erdgeschoss-rechts, eine ehemalige Ladenwohnung. Wir beide haben sicher auch öfter zusammen gespielt. Sehr geehrte Frau Beasley, in den vielen Jahren, die vergangen sind, musste ich immer an Sie und Ihre Mutter denken. Denn es gab damals einen Tag, da waren Sie beide nicht mehr da.

Aus den Unterlagen habe ich alles erfahren, auch das Schicksal Ihres Vaters, dass Sie beide nach der Todesmeldung Ihres Vaters schon eine Woche später abgeholt worden sind. Zum Kriegsende war ich sieben Jahre alt und in diesem Alter macht man sich darüber auch nicht so viele Gedanken. Aber mit dem Älterwerden stellte ich mir oft die Frage, wo sind Sie geblieben. Ich stand öfter vor dem Hause Tellstraße 11 und konnte meine Gedanken nicht abschalten.

Jetzt, mit 74 Jahren, wollte ich Klarheit haben und wendete mich an das Jüdische Museum Berlin. Ich habe dort eine sehr nette junge Mitarbeiterin getroffen: Frau Ulrike Neuwirth. Ich erklärte ihr meine Fragen zur Tellstraße 11. Sie war sofort bereit, die Unterlagen aus dem Archiv zu besorgen. Eine Woche später konnten wir beide Ihre Unterlagen durchsehen. Meine Freude war sehr groß, als ich aus den Unterlagen feststellten konnte, dass Sie beide das Vernichtungslager lebend überstanden haben. Wäre es anders gekommen, liebe Frau Beasley, hätte ich jetzt zwei Stolpersteine setzten lassen.

Ich bin sehr froh, dass Sie leben. Ich habe diese Gedanken nach dem Wenn und Aber 67 Jahre mit mir herumgetragen. Nunmehr mit der Gewissheit, eines guten Ausgangs, habe ich meinen Frieden gefunden.


Janet Beasley
Chiffre 132104