SFZ-Schwerpunkt: Das Prinzip der aufbauenden Sprache: Das Lernen im Dialog.

1. Aufbauende Sprache als Grundidee jeder Bildungsarbeit

Die sprachliche Situation in Kitas und Grundschulen vieler sozialer Brennpunktgebiete, der Fachkräftemangel und der hohe Anteil von Kindern mit hohem bis sehr hohem Sprachförderbedarf und der hohe Anteil von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern stellt das Bildungssystem aktuell vor große Herausforderungen. Die Corona-Pandemie hat die Situation weiter verschärft: monatelang waren die Bildungseinrichtungen geschlossen, Kinder wurden aus angeleiteten Bildungsprozessen herausgerissen und der Selbstbildung überlassen. Der Fachkräftemangel hat sich weiter verschärft.
Das sogenannte „Sprachbad“, das für eine gute Sprachentwicklung und allgemeine Bildung nötig wäre, gibt es nicht mehr, wenn weit mehr als die Hälfte der Kinder gar keine oder nur sehr geringe Sprachkenntnisse im Deutschen haben. Wenn es schon für deutschsprachige Eltern eine große Herausforderung ist, das Lernen der Kinder zu Hause zu begleiten, stellt es für Familien nicht deutscher Herkunftssprache eine nicht mehr leistbare Aufgabe dar. Deswegen ist effektives Arbeiten in der frühkindlichen Bildung und Sprachförderung dringender als je zuvor. Allen Kindern soll die Gelegenheit gegeben werden, sich an Gemeinschaftsaktivitäten und Bildungsangeboten zu beteiligen und dabei ihre Sprachfähigkeiten im Deutschen so auszubauen, damit eine erfolgreiche Schulbildung möglich wird.
Im vorliegenden Artikel soll das Prinzip der aufbauenden Sprache erläutert werden, das in dieser Situation greift. Es ist eine pädagogische Grundhaltung, bei der das Kind in allen Bereichen entlang seiner natürlichen Entwicklung begleitet und gefördert wird.

1.2 Potential der nächsthöheren Entwicklungszone

Der russische Psychologe Wygotski hat bereits in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts festgestellt, dass für die optimale Bildung und Entwicklung der Kinder die individuelle Zone der nächsten Entwicklung am wichtigsten ist. Das gilt für alle Entwicklungsbereiche, wobei die Sprachentwicklung einen besonderen Stellenwert hat. Sprache und Denken ist untrennbar miteinander verbunden. Sprache ist ein Werkzeug des Denkens. Erfahrungen, die versprachlicht werden, können besser verarbeitet und erinnert werden, als Erfahrungen, für die uns die Worte fehlen. Über die Sprache kann man sich mit der Gemeinschaft über alle Entwicklungsbereiche verständigen, Erfahrungen austauschen und gemeinsam etwas gestalten.

Für eine optimale Begleitung der kindlichen Entwicklung und Förderung muss das Kind ganzheitlich betrachtet und beobachtet werden. So kann man den jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes in den verschiedenen Entwicklungsbereichen (Sprache, Kognition, Motorik, soziale und emotionale Entwicklung) ermitteln und dem Kind eine geeignete herausfordernde Umgebung anbieten, in der sich das Kind frei entfalten und sich in der jeweils nächsthöheren Stufe erproben kann.

Bietet man Kindern Aktivitäten auf zu niedrigem oder zu hohem Niveau an, kann man sie nicht für die Aktivität gewinnen. Sie sind entweder unterfordert und gelangweilt oder überfordert und frustriert. Es hat sich herausgestellt, dass gezieltes Training auf einem zu hohen Niveau, nur scheinbare Erfolge bringt. Ein kleines Kind kann sich vielleicht die Zahlwörter bis 20 kurzfristig merken, solange es aber keinen entsprechenden Zahlenbegriff hat, ist es eine reine Gedächtnisleistung, die verlorengeht, wenn keine Verbindung zu anderem Wissen hergestellt wird. Das Überspringen von Erwerbsphasen scheint nicht möglich zu sein. Die Überforderung kann aber auch kontraproduktive Ergebnisse bringen, weil unter Umständen falsche Inhalte oder falsche Herangehensweisen immer wiederholt und memoriert und so falsche Lösungsstrategien verinnerlicht werden 1.
Das Anbieten von neuen Informationen und Herausforderungen zum richtigen Zeitpunkt, auf der richtigen Niveaustufe, führt zu langfristigem Erwerb von Wissen und Kompetenzen, wenn auch der sprachliche Situationsansatz angewendet wird.
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1 So kam ein Kind, das den Zahlenraum bis 20 noch nicht beherrschte, aber bereits bis 100 zählen sollte zu folgendem Ergebnis: zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzig, sechzig, siebzig, achtzig, neunzig, hundert.

1.2 Selbstwirksamkeit spüren

Das Kind lernt am besten, wenn es sich innerhalb von sicheren Rahmenbedingungen ausprobieren und seine Selbstwirksamkeit erleben und spüren kann. Selbstwirksamkeit heißt
  • eigene Erfahrungen zu machen
  • zu spüren, welche eigenen Aktivitäten zu welchem Ergebnis führen
  • sich selbst Aufgaben zu stellen und zu lösen
  • Selbstkorrektur vornehmen, verschiedene Herangehensweise ausprobieren, eigene Wege finden
  • Fremdkorrektur annehmen, Anregungen von der Gemeinschaft aufnehmen

Kinder, die oft genug Gelegenheit bekommen, ihre Selbstwirksamkeit zu spüren, entwickeln auch Selbstwirksamkeitserwartungen. Sie erleben ihre Umwelt nicht mehr als eine Reihe von Zufällen, sondern als eine durch eigene, planbare Handlungen beeinflussbare Welt. Sowohl für die eigene Planung, aber noch viel mehr für die Planung in Gesellschaft ist die Sprache ein wichtiger Faktor.

2. Aufbau der Bildung: die Stufen der wichtigsten Bereiche

Das Prinzip der aufbauenden Sprache begleitet und fördert das Kind in allen Bereichen entlang seiner natürlichen Entwicklung. Die pädagogische Fachkraft hat die Gesamtentwicklung des Kindes in allen Bildungsbereichen im Blick und sieht die sprachliche Entwicklung in einer Schlüsselposition. Zum einen ist die Sprache für das Kind der Schlüssel zur Welt, über die Sprache kann es sich alle anderen Bildungsbereiche erschließen. Zum anderen ist die sprachliche Entwicklungsstufe des Kindes für die pädagogische Fachkraft der Schlüssel zum Kind. Wenn die pädagogische Fachkraft den Sprachstand des Kindes kennt, kann sie in jedem Moment mit den geeigneten sprachlichen Mitteln den Selbstbildungsprozess des Kindes in allen anderen Bildungsbereichen anregen und dem Kind auf sprachlicher Ebene die geeigneten Mittel zur Verfügung stellen, die es braucht, um sich selbst auszudrücken. Die pädagogische Fachkraft muss dazu wissen, welche sprachlichen Bereiche sich stufenförmig entwickeln und welche Entwicklungsstufen aufeinander folgen. Dann kann sie erkennen, auf welcher Stufe sich ein Kind gerade befindet und es auf die nächsthöhere Stufe bringen. Aufbauende Sprache holt das einzelne Kind dort ab, wo es steht und begleitet es beim nächsten Schritt.

Die stufenförmige Vorgehensweise kann als Gerüst jeder pädagogischen Aktivität zugrunde gelegt werden. Neben den Stufen der sprachlichen Entwicklung werden die Stufen der Abstraktion, die Stufen der Interaktion sowie die Stufen weiterer in der jeweiligen Situation relevanter Bildungsbereiche berücksichtigt, beispielsweise Stufen der Mathematik, Stufen im Bereich Darstellen und Gestalten, Stufen der sozial-emotionalen Entwicklung.

Modell Stufen der Abstraktion

2.1 Stufen der Abstraktion: EIS-Prinzip

Die aufbauende Sprache begleitet das Kind bei jedem neuen Thema oder Sachinhalt durch verschiedene Phasen der Abstraktion, beginnend mit dem ganz Konkreten. Wenn zum Beispiel Raum-Lage-Beziehungen wie auf, unter, neben behandelt werden, dann lässt man die Kinder erst einmal am eigenen Körper spüren, wie es sich anfühlt, auf einem Tisch, unter einem Tisch, neben einem Tisch, auf einer Matte, unter einer Matte, neben einer Matte zu sein. Erst wenn das Kind die Lagewörter auf, unter, neben usw. beim konkreten Handeln versteht, geht man zur bildlichen Darstellung über. Und erst wenn die bildliche Darstellung und die Verbindung zum konkreten Handeln klar ist, wird die symbolische Darstellung eingeführt. Wenn bei einem Thema dem Kind alle drei Ebenen geläufig sind, erst dann kann spielerisch von Ebene zu Ebene übersetzt werden, dann kann ein Transfer aller Darstellungsformen untereinander erfolgen. Die Stufen der Abstraktion folgen im Wesentlichen dem EIS-Prinzip von Jerome Bruner, der für den Mathematikunterricht enaktive, ikonische und symbolische Repräsentationen vorschlägt, beispielsweise die enaktive Darstellung von Zahlen mit Fingern oder Stäbchen, die ikonische Darstellung durch Punkte auf Papier oder einem Würfel und die symbolische Darstellung durch Ziffern 2.
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2 Nach Bruner et al. (1971) werden enaktive, ikonische und symbolische Repräsentationen unterschieden. Enaktive Repräsentationen umfassen die Darstellung durch konkrete oder vorgestellte Handlungen, ikonische Repräsentationen sind eine Darstellung von Sachverhalten durch bildliche Formen und symbolische Repräsentationen eine Darstellung durch Zeichen und Sprache. Im Sinne nachhaltigen Lernens sollten im Unterricht möglichst alle drei Formen genutzt werden, da sie kohärente mentale Repräsentationen ermöglichen, die auch transferfähig sind. Quelle: http://lexikon.stangl.eu/12401/eis-prinzip/ © Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.

2.2 Stufen der Interaktion: die Drei-Stufen-Lektion von Maria Montessori

Die Stufen der Interaktion zeigen, wie die pädagogische Fachkraft bei der Einführung neuer Materialien, Aktivitäten, Inhalte und der dazugehörigen sprachlichen Begriffe vorgehen kann. Beide Seiten, pädagogische Fachkraft und Kind sind in jeder Stufe aktiv, aber während die pädagogische Fachkraft ihre Aktivitäten langsam zurückfährt, motiviert sie das Kind von Stufe zu Stufe zu immer komplexeren (sprachlichen) Handlungen, bis das Kind ohne Hilfe eigenständig (sprachlich) handeln kann. Interaktion ist dabei weiter gefasst, als Dialog. Während der Dialog ein sprachlicher Austausch zwischen zwei Gesprächspartnern ist, stellt die Interaktion ein gemeinsames, aufeinander abgestimmtes sprachliches oder nichtsprachliches Handeln dar. Von Seiten der pädagogischen Fachkraft bedeutet das immer ein Handeln und Sprechen. Das Kind soll aber zunächst etwas erleben, Erfahrungen machen, handeln und erst auf der dritten Stufe zum Sprechen animiert werden.

Die Stufen der Interaktion orientieren sich an der Drei-Stufen-Lektion von Montessori 3. Diese Methode begleitet das Kind Schritt für Schritt in seinem Lernprozess und zeigt der pädagogischen Fachkraft, wie weit das Kind sprachlich und inhaltlich folgen kann. Die pädagogische Fachkraft führt das Kind allmählich vom Konkreten zum Abstrakten, vom Einfachen zum Komplexen.
Auf der ersten Stufe darf das Kind einfach nur Erfahrungen machen, neue Dinge kennenlernen, begreifen und sprachliche Eindrücke sammeln. Auch dabei ist das Kind aktiv. Es ist entscheidend von der pädagogischen Fachkraft abhängig, ob es ihr gelingt, die Aufmerksamkeit der Kinder auf das Geschehen zu lenken und das Kind zur Teilnahme an Bewegungen und Aufnahmen von Eindrücken zu motivieren. Manche Kinder bleiben in dieser Phase scheinbar passiv, sind so mit dem Beobachten und Verarbeiten der Eindrücke beschäftigt, dass sie sich nicht aktiv beteiligen. Die pädagogische Fachkraft muss für jedes Kind einzeln abwägen, wann es bereit für die zweite Stufe ist.
Auf der zweiten Stufe wird das Kind von der pädagogischen Fachkraft aufgefordert, eigenständig und aktiv mitzumachen und durch Handlungen zu zeigen, in wie weit es die Sprache zum Thema versteht.
Erst ab der dritten Stufe soll das Kind sprachlich reagieren und durch geeignete Impulse der pädagogischen Fachkraft sprachlich selbst immer geschickter mit dem Thema umgehen. Die pädagogische Fachkraft gibt sprachliche Impulse, die das Kind allmählich zu immer schwierigeren sprachlichen Handlungen leiten.
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3 Waldschmidt Seite 94, Klein-Landeck Seite 85;
Interaktion Modell

Typische „Lehrerfragen“, wie „Wie nennt man dieses Tier?“, bei denen die pädagogische Fachkraft die Antwort selbst (besser) kennt, sind zu vermeiden. Impulse in Form von echten, persönlichen Fragen, wie „Welches Tier magst du am liebsten? Welches Tier möchtest du haben (malen/darstellen)?“ dagegen motivieren das einzelne Kind, denn auf diese Fragen weiß nur das Kind selbst die Antwort. So können die Kinder durch ihre Antwort etwas bewirken. Sie drücken ihre Wünsche und Bedürfnisse aus, werden verstanden und bekommen eine Reaktion auf ihre sprachlichen Äußerungen, spüren die Selbstwirksamkeit von Sprache. Wichtig dabei ist, dass die Kinder stufenweise zu immer längeren Antworten ermuntert werden. Die Kinder sollen nicht zum Sprechen gezwungen werden. Auch eine stumme Geste oder ein Blick sind ein Zeichen dafür, dass ein Kind die Frage verstanden hat. Auf die Reaktionen des Kindes antwortet die pädagogische Fachkraft immer in Form des korrektiven Feedbacks.

  • Beispiel:
    Pädagogische Fachkraft: „Welches Tier magst du am liebsten?“

    Kind 1: „Ich mage die Hase lieb“

  • Pädagogische Fachkraft: „Ach so, Du magst den Hasen am liebsten. Ich mag den Hasen auch am liebsten. Soll ich dir den Hasen geben?“

  • Je nachdem, wie die Kinder auf die Impulse reagieren, kann man den Schwierigkeitsgrad nach oben oder unten anpassen, oder auch wieder zurück auf eine der ersten beiden Stufen der Drei-Stufen-Lektion zurückkehren.

  • Zum Beispiel
    Pädagogische Fachkraft: „Welches Tier magst du am liebsten?“

    Kind 2 zeigt auf den Hasen

  • Pädagogische Fachkraft: „Ach so, Du magst den Hasen am liebsten. Ich mag den Igel am liebsten. Kannst du mir den Hasen und den Igel bringen, dann erzähl ich dir etwas.“

  • Die Handlungen und sprachlichen Reaktionen des Kindes werden von der pädagogischen Fachkraft immer gewürdigt und wenn nötig im korrektiven Feedback beantwortet. Kann ein Kind auf der von der pädagogischen Fachkraft gewählten Stufe noch nicht reagieren, dann wird es auf der vorherigen Stufe zum Spielen und Erleben eingeladen.

  • Zum Beispiel:
    Pädagogische Fachkraft: “Bringst du mir bitte den roten Ball.“ (Stufe 2)

    Kind 3 bringt einen blauen Ball.

  • Pädagogische Fachkraft: „Danke für den Ball. Das ist der blaue Ball. Schau mal, der ist so blau wie mein T-Shirt.“ (Stufe 1)
    „Bringst du mir jetzt noch den roten Ball?“ (Stufe 2)
    „Der rote Ball liegt dort. Schau mal, der Ball ist rot, wie deine Hose und wie Hassans Socken.“ (Stufe 1)
    „Was ist noch alles rot?“ (Stufe 2)

  • Weiteres Beispiel:
    Pädagogische Fachkraft: Welches ist deine Lieblingsfarbe? (Stufe 3, geschlossene Frage)

    Kind 4: Keine Antwort.

  • Pädagogische Fachkraft: „Du hast eine blaue Hose und ein gelbes T-Shirt an. Ist deine Lieblingsfarbe blau oder gelb?“ (Stufe 3, Entweder-Oder-Frage)

2.3 Stufen der sprachlichen Entwicklung

Die Sprache hat verschiedene Bereiche, in denen man beim Spracherwerb Fortschritte macht: Phonetik/Phonologie, Grammatik (Formenbildung und Satzbau), Wortschatz, Sprachhandeln …. Es ist deswegen sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich, den Sprachstand eines Kindes in allen Bereichen gleichzeitig zu bestimmen. Deswegen ist es sinnvoll, eine Vorunterscheidung in Bereiche zu machen, die systematisch erworben werden und solche die unsystematische erworben werden. Unsystematische Bereiche zeichnen sich durch viele Einzelfälle aus, die ein Kind in individuell variierender Weise erwirbt. Kinder machen mal hier mal da Fortschritte, die nicht zwingend aufeinander aufbauen. Demgegenüber stehen systematische Bereiche, die sich durch invariante Erwerbssequenzen auszeichnen. Das heißt, die Lernenden durchlaufen alle dieselben Erwerbsstufen in derselben Reihenfolge. Erst auf der Basis der einen Stufe, kann die nächste erworben werden. Erst wenn sich die Lernenden sicher auf einer Stufe bewegen, haben sie Kapazitäten für den Erwerb der nächsten Stufe frei. So ist in allen Sprachen die Äußerungslänge unumstritten eine solche invariante Erwerbssequenz. Jedes Kind beginnt mit Einwortäußerungen, dann kommen die Zweiwortäußerungen und dann die Dreiwortäußerungen usw. Zu den individuell variierenden, unsystematischen Bereichen gehört zum Beispiel der Wortschatz. Welche Wörter ein Kind nacheinander erwirbt, hängt vom Interesse und Umfeld ab. Es gibt keine zwingende Reihenfolge in der ein Kind den Wortschatz einer Sprache erlernen muss.

Was die Grammatik betrifft, kann man nur Aussagen für jede einzelne Sprache treffen, da es da große Unterschiede gibt. Unsystematische Bereich im Deutschen sind z.B.
  • das grammatische Geschlecht: der Löffel, die Gabel, das Messer
  • die Pluralendungen: Haus – Häuser, Maus – Mäuse
  • der Kasus nach einer Präposition: mit dem Löffel, ohne den Löffel, wegen des Löffels

Lernende brauchen viel Input und viele Angebote entsprechend ihrer Interessen und ihres Niveaus, um ein Sprachgefühl in diesen Bereichen zu entwickeln. Auch Personen, die sich sprachlich auf hohem Niveau ausdrücken können, machen immer noch Fehler in diesen unsystematischen Bereichen, weswegen daran kein Niveau ablesbar ist.

Zu den systematischen Bereichen des Spracherwerbs im Deutschen gehören der Satzbau, die Konjugation und der vom Verb abhängige Kasus (Diehl 1999). Nach der Profilanalyse von Grießhaber ist es in erster Linie der Satzbau, genauer gesagt, die Stellung des Verbs, an der das gesamte Sprachniveau einer Person ablesbar ist. Seine Profilanalyse geht davon aus, dass man im Deutschen an der Stellung des finiten Verbs ablesen kann, wie weit ein Sprecher die gesamte Äußerung im Voraus planen kann (Grießhaber/Heilmann 2012: 20).

Die Satzbaustufen werden von jedem Sprechenden von Stufe 0 bis zum eigenen persönlichen höchsten Niveau passend verwendet. Hat jemand Niveaustufe 2, dann wählt er oder sie aus den Stufen 0-2 die jeweils passende aus. Auch kompetente Sprecherinnen mit Satzbaustufe 6 oder höher verwenden Satzbaustufe 0, wenn der Kontext oder die Situation es erfordern 4. Deswegen nenne ich die Stufe 0 nicht, wie Grießhaber „bruchstückhafte Äußerungen“, sondern „Äußerungen unterhalb der Satzgrenze“.
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4 So halte ich gerade eine Notiz mit einem Rezept in den Händen, das vollkommen angemessen und verständlich, komplett auf Satzbaustufe 0 formuliert ist: Kokostörtchen (ca. 15 Stück): 200 g Kokosraspel, 150 Zucker, 150 g Butter (zerlassen), 3 Eier, 1 Vanillezucker, alles verrühren, in Förmchen füllen und bei 180 ° ca. 10-15 Minuten backen.
Tabelle Satzbaustufen und Beispiele
Für die Sprachbildung und Sprachförderung bedeutet dies dreierlei:
  1. Zunächst muss man die Niveaustufe jedes Kindes genau erfassen.
  2. dann muss man einerseits jedem Kind geeignete Impulse bieten, damit es Antworten bis zu seiner Satzbaustufe geben kann
  3. und andererseits auf der nächsthöheren Stufe gezielt Modelle bieten sowie Impulse und Fragen stellten, damit das Kind auch die nächste Stufe erreichen kann.

Für alle anderen Bildungsangebote und Betreuungssituationen bedeutet dies, dass man neue Informationen, Materialien und Aktivitäten so mit dem Kind bespricht, dass es auf seiner Satzbaustufe antworten kann.

In der Sprachförderpraxis hat sich herausgestellt, dass es sehr auf die Situation, das Thema und die Verfassung des Kindes ankommt, auf welchem Niveau es sprechen kann. Es gilt also in jeder Situation das Niveau neu zu bestimmen, um dem Kind immer die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen. Das gelingt nur durch Interaktion und Dialog.
Es gibt noch weitere Stufen der sprachlichen und allgemeinen Entwicklung, die in der jeweiligen Situation eine Rolle spielen, dazu an anderer Stelle mehr 5.
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5 Stufen der Konjugation, Stufen der Deklination, Stufen der Erzählung, Stufen im Bereich Gestalten und darstellendes Spiel, Stufen in der Mathematik. Man kann hier aber auch auf Publikationen wie die Bellertabelle, Bostelmanns Stufenblätter oder andere Entwicklungsdokumentationen zurückgreifen.

3. Aufbau eines Bildungsangebots, einer Fördereinheit

Wie gelingt alltagsintegrierte Sprachbildung? Wie eingangs beschrieben, stehen die pädagogischen Fachkräfte in Kita und Schule derzeit vor großen Herausforderungen.

Um während eines Bildungsangebots alle genannten Stufen zu berücksichtigen, empfiehlt sich ein Aufbau, der sich an den Stufen der Interaktion und der Abstraktion orientiert. Ein solches Angebot lässt sich als additive Kleingruppenarbeit von 30-45 Minuten organisieren 6. Eingebettet in ein Bewegungsritual am Anfang und am Ende der Einheit kann man drei Phasen unterscheiden.
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6 Anstelle von additiver Kleingruppenarbeit kann man auch nur die erste Phase von ca. 10 Minuten in größerer Runde, z.B. im Morgenkreis und über den Tag verteilt die Phasen 2 und 3 einzelnen Kindern in individueller Förderung anbieten.
Tabelle 3-Phasen-Modell Aufbau Förderheit

In der Praxis hat es sich bewährt, den Kindern den immer gleichbleibenden Ablauf anhand von Bildkarten zu verdeutlichen. Anstelle der Bildkarte für Phase 3 legt man sich am besten gleich den Notizblock bereit.

Phase 1: Interaktives Darstellen

Die pädagogische Fachkraft bietet den Kindern ein neues Thema mit konkreten Materialien und grobmotorischen Aktivitäten an, zum Beispiel:
  • Einführung eines neuen Themas mit konkreten Gegenständen und Bewegungsspielen im Stuhlkreis oder Raum (leerer Stuhl, Platztausch, Laufmemory)
  • Einführung eines neuen Wortfeldes mit konkreten Gegenständen und Kimspielen (Ich sehe was / ich habe was, was du nicht hast, Kofferpacken, Suppekochen)
  • interaktive Bilderbuchbetrachtung mit Handpuppen und Requisiten in Form des Mitmachtheaters
    Die Kinder werden in grobmotorische Tätigkeiten eingebunden, dürfen Sprache, Wortschatz, Geschichten anhand konkreter Dinge und Aktivitäten erleben, während die pädagogische Fachkraft spricht und handelt.

Phase 2: Kreative Vertiefungsaktivitäten

Die pädagogische Fachkraft bietet den Kindern zu dem eben eingeführten Thema feinmotorische Aktivitäten an. Die konkreten Gegenstände / Requisiten aus Phase 1 stehen dabei weiter zur Verfügung.
  • malen
  • schneiden, ausschneiden, aufkleben
  • mit Knete modellieren
  • Minibuch gestalten
  • Sprechzeichnen
  • Spiele gestalten und spielen: Kimspiele am Tisch

Die pädagogische Fachkraft ist in dieser Phase sprachliches und kreatives Modell. D.h. sie versprachlicht ihre eigenen Pläne, Ausführungen und Ergebnisse und erkundigt sich nach den Plänen, Ideen und Lösungsstrategien der Kinder.

“Wir malen jetzt ein Bild zur Geschichte. Ich möchte am liebsten alle Figuren malen. Welche male ich zuerst? Ich fange mit dem Hasen an. Ali gibst du mir bitte den Hasen? Ich brauche einen braunen Stift. Lea, gibst du mir bitte den braunen Stift? Erst male ich den Kopf und dann die langen Ohren. Can, was willst du malen? Was brauchst du dafür? …”

In dieser Phase kommt es darauf an, dass die Kinder kreativ tätig sind und dabei den neuen Sprachschatz (Wortschatz und Strukturen) vertiefen. Nebenbei üben sie ihre Feinmotorik und ihre darstellenden und gestalterischen Fähigkeiten.
Während der Kreativphase kann auch mit den Kreationen gespielt werden. So kann ich zum Beispiel Teile eines gemalten Bildes mit bunten Karten belegen und fragen, was sich darunter versteckt. Oder ein gemaltes Bild abdecken und langsam aufdecken und die anderen raten lassen, was man gemalt hat.

Phase 3: wertschätzendes Feedback

In dieser abschließenden Phase präsentiert die pädagogische Fachkraft ihre eigene kreative Arbeit, ist dabei sprachliches Vorbild, gibt aber auch Hinweise, wie sie gestalterisch tätig war.
Dann dürfen die Kinder ihre kreativen Arbeiten präsentieren. Die pädagogische Fachkraft gibt zuerst mündlich interessiertes, positives konstruktives Feedback und macht sich dann Notizen.

Kinderbild

Das schriftliche korrektive Feedback enthält eine wichtige Förderkomponente, denn es wird die Zone der nächsten Entwicklung (Wygotski) ausgenutzt. Die Äußerungen des Kindes werden knapp über dem tatsächlichen Sprachniveau des Kindes notiert. Es wird die (bald) erreichte Satzbaustufe notiert, ggf. mit Unterstreichungen, die die Ergänzungen der pädagogischen Fachkraft verdeutlichen. Die Kinder erhalten so Feedback in der Entwicklungszone, in der sie am besten profitieren können. Das schriftliche korrektive Feedback ist gleichzeitig Dokumentation und Fördermaterial für das Kind.

Pädagogische Fachkraft: Was soll ich für dich, Can, aufschreiben?
Kind: Ich bin gemalen ein Igel.
Pädagogische Fachkraft: Schön! Ich habe auch einen Igel gemalt und Ali hat auch einen Igel gemalt. Also wie schreibe ich das für dich, Can, auf: „Ich habe …

Die pädagogische Fachkraft schreibt den korrekten Satz lautierend auf: „Ich habe / einen Igel / gemalt“ liest ihn dabei mehrfach vor, stellt Rückfragen und würdigt inhaltlich und sprachlich das Geschaffene.

Auch aus dieser Phase kann man ein Spiel machen.
Die pädagogische Fachkraft liest am Ende ihre Notizen mit falscher Namenszuordnung vor und die Kinder korrigieren. Pädagogische Fachkraft: „Lea hat gesagt: ‚Ich habe einen Igel gemalt‘, stimmt das?“
So schafft man Situationen, in denen die Kinder echte Kommunikationsbedürfnisse haben und das gerade erstellte Fördermaterial einsetzen.

4. Dialogisches Vorgehen: Impuls- und Fragetechnik

In allen drei Phasen des Bildungsangebotes ist die pädagogische Fachkraft in ständiger Interaktion mit dem Kind. Nur so kann sie herausfinden, auf welchem Niveau sich ein Kind befindet und wie es sprachlich und in Bezug auf den jeweiligen Bildungsschwerpunkt am besten gefördert werden kann. Wie die pädagogische Fachkraft sprachlich und inhaltlich den besten Rahmen bietet.
Die Interaktion mit den Kindern gleicht einer aufsteigenden Spirale. Durch viele Variationen und Wiederholungen erreicht das Kind langsam aber sicher ein höheres Niveau.
Die pädagogische Fachkraft kann zu jedem Thema verschiedene Fragen und Impulse unterschiedlicher Struktur vorbereiten, so dass die Impulse inhaltlich anregend sind, formal aber genau auf das jeweilige sprachliche Niveau des Kindes abzielen.

Der Dialog folgt folgendem Muster:
  1. allgemeiner Impuls mit beliebiger Niveaustufe als Ziel
  2. Abwarten der kindlichen Reaktion/Äußerung
  3. Einschätzung: Was war korrekt? Auf welcher Satzbaustufe bewegen sich die korrekten Äußerungsteile
  4. Korrektives Feedback: Äußerung inhaltlich positiv bestätigen, formal die Satzbaustufe des korrekten Äußerungsteils aufgreifen und in geeigneten Kontext einbetten
  5. inhaltlich auf derselben oder höheren Satzbaustufe erweitern
  6. neuer Impuls mit bestimmtem Satzbau als Ziel

Dieses Gesprächsmuster lässt sich sowohl bei Sprachstandserhebungen als auch bei Angeboten einsetzen. Es sind keine isolierten Tests mehr nötig. Das Ergebnis einer solchen Sprachstandserhebung fließt noch in derselben Situation in die Förderung mit ein und erfüllt somit die Voraussetzungen für den auf Sprache bezogenen Situationsansatz.

Im SprachFörderZentrum Berlin Mitte (SFZ) arbeiten wir seit 2016 nach diesem Prinzip und haben vielfältige Einsatzmöglichkeiten dafür gefunden. So ist eine Sprachstandserhebung im Rahmen der Lernausgangslage für Schulanfänger*innen (Laube Mini) entstanden. Auch die Sprachstandserhebungen im Rahmen des Antrags auf vorzeitige Einschulung folgen diesem Prinzip. Die Anfangserhebung im Rahmen des Sprachförderprogramms MITsprache beruht inzwischen auf einem so gestalteten Kennenlerngespräch. Kinder und pädagogische Fachkräfte profitieren enorm davon. Es geht keine Zeit durch reines Testen verloren, die Förderung kann sofort beginnen.

Im SFZ existieren bereits Ausarbeitungen nach dem Prinzip der aufbauenden Sprache. Sie wurden in Fortbildungen für die Übergangsbegleitung und im Rahmen der Themenreihe für die Kita vorgestellt (Zum Beispiel Ernährung, Musik, geplant Mathematik). Zu zahlreichen Bilderbüchern existieren Ausarbeitungen, die in Handreichungen zur Interaktiven Bilderbuchbetrachtung zusammengefasst worden sind (Volkmann 2016).

Sprachstandserhebung, Sprachbildung und Sprachförderung erfolgen nach demselben Prinzip der aufbauenden Sprache. So kann die pädagogische Fachkraft sich immer wieder neu an den Bedarfen und Interessen der Kinder orientieren und optimal darauf eingehen.
So gelingt Sprachbildung!

5. Literatur

Bruner, Jerome; Oliver, Rose; Greenfield, Patricia (1971): Studien zur kognitiven Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer.
Diehl, Erika (1999): „Schulischer Grammatikerwerb unter der Lupe. Das Genfer DiGS-Projekt.“ VALS 1999, Nr. 70.
Grießhaber, Wilhelm (Hrsg.); Heilmann, Beatrix (2012): Diagnostik und Förderung – leicht gemacht. Stuttgart: Ernst Klett Sprachen.
Klein-Landeck, Michael (2009): Freie Arbeit bei Maria Montessori und Peter Petersen. Münster LIT Verlag. (Dreistufenlektion S. 84-85)
Pausewang, Freya (2014): „Der Situationsansatz – Ein pädagogisches Konzept, das in die Zukunft weist oder: Der Situationsansatz gehört wieder in alle Kitas!“ Institut für den Situationsansatz / Internationale Akademie gGmbH www.situationsansatz.de
Preissing, Christa; Hautumm-Grünberg, Annette (2014): Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege. Hrsg. von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Weimar, Berlin, Verlag das Netz.
(https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/bildungswege/fruehkindliche-bildung/)
Riemer, Claudia (2017): „Diehl, Erika; Christen, Helen; Leuenberger, Sandra; Pelvat, Isabelle; Studer, Thérèse: Grammatikunterricht: Alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb Deutsch.“ Rezension Informationen Deutsch als Fremdsprache Band 29: Heft 2-3. DOI: https://doi.org/10.1515/infodaf-2002-2-318.
Ruf, Urs; Keller, Stefan; Winter, Felix (Hrsg.) (2008): Besser lernen im Dialog. Dialogisches Lernen in der Unterrichtspraxis. Kallmeyer in Verbindung mit Klett.
Shelton-Cornish, Susan (2015): Förderung der kindlichen Erzählfähigkeit. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag.
Textor, Martin R. (1999): Lew Wygotski – entdeckt für die Kindergartenpädagogik. klein & groß, 1999, Heft 11/12, S. 36-40. (https://kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/paedagogische-ansaetze/moderne-paedagogische-ansaetze/19)
Volkmann, Gesina (2016): Sprachbildung mit Büchern in der Kita. Unter Mitarbeit von Angelika Geffert, Heike Schimkus und Ilona Vogt (SFZ Berlin‐Mitte). Berlin: gss Schulpartner GmbH.
Volkmann, Gesina (2017): Netzwerk Sprachbildung. Abschlussbericht. Hrsg. von gss Schulpartner GmbH. (https://www.berlin.de/ba-mitte/politik-und-verwaltung/sprachfoerderzentrum/materialien/#bericht)
Volkmann, Gesina; Sachse, Susanne; Mahssasse, Kerstin; Lehmann (2018): So funktioniert alltagsintegrierte Sprachbildung. Mühlheim: Verlag an der Ruhr.
Waldschmidt, Ingeborg (2001): Maria Montessori. Leben und Werk. CH Beck. (Drei-Stufen-Lektion S. 94).

© Dr. Gesina Volkmann
gss Schulpartner GmbH
in Zusammenarbeit mit dem SFZ Berlin-Mitte
Stand 09.07.2020

  • Gesina Volkmann: Das Prinzip der aufbauenden Sprache: Das Lernen im Dialog

    Der Gesamttext im Download.

    PDF-Dokument (3.3 MB) - Stand: 01/2024

Zitierhinweis:
Volkmann, Gesina: “Das Prinzip der aufbauenden Sprache. Das Lernen im Dialog.” Zum Fachtag “10 Jahre SFZ Berlin-Mitte”. Berlin gss Schulpartner GmbH, 2020. https://www.berlin.de/ba-mitte/politik-und-verwaltung/sprachfoerderzentrum/materialien/aufbauende-sprache-redigiert.pdf

Weiterführende Information:

  • Netzwerk Sprachbildung

    Ein Projekt des SFZ in Kooperation mit GSS Schulpartner
    September 2015 – Dezember 2017

    PDF-Dokument (1.6 MB)