Drucksache - 0498/3  

 
 
Betreff: Untersuchungen von Erstklässlern
Status:öffentlich  
 Ursprungaktuell
Initiator:FDP-Fraktion 
Verfasser:Prof. Dr. Dittberner/Dr. Fest 
Drucksache-Art:Große AnfrageGroße Anfrage
Beratungsfolge:
Bezirksverordnetenversammlung Beratung
20.09.2007 
12. Öffentliche Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin überwiesen   

Sachverhalt
Anlage/n
Anlagen:
Große Anfrage

Wir fragen das Bezirksamt:

 

1.                 Wie viele der Erstklässler im Bezirk werden vom Kinder- und Jugendgesund­heitsdienst untersucht?

 

Für das Einschulungsjahr 2007 wurden im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst Charlot­tenburg-Wilmersdorf 2048 Kinder untersucht. Im Jahr 2004 belief sich die Zahl auf 2680 Kinder (noch mit Vorschulkindern); 2005 auf 1681 (nur noch 1. Klasse) und 2006 auf 2115 Kinder.

 

2.                 Warum ist es dem Bezirk nicht möglich, sämtliche Erstklässler auch durch niedergelassene Kinderärzte zu untersuchen?

 

Mit der für alle Kinder im Schulgesetz (§55, Abs. 5) des Landes Berlin vorgeschriebenen Einschulungsuntersuchung wird überprüft, ob gesundheitliche und/oder entwicklungsbe­zogene Einschränkungen bestehen, die für den Schulbesuch von Bedeutung sind und möglicherweise Förderbedarf begründen. Von Interesse sind aber nicht nur Befunde zum individuellen Zustand eines Kindes, sondern auch Merkmale, die die Gesundheit der Kin­der im Kontext wesentlicher sozialer, familiärer und persönlicher  Einflussgrößen be­schreiben. Auf umfangreichen Dokumentationsbögen werden Daten zu präventionsrele­vanten Bereichen wie motorische, kognitive und sprachliche Entwicklung, Unter- und Übergewicht, Impfstatus, Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen, Zustand des Gebisses erfasst. Daneben werden soziale Kenndaten der Familie, wie Bildung und Erwerbsstatus der Eltern, Informationen über Fa­milienstruktur sowie Rauchverhalten der Eltern, vorschulischer Einrichtungsbesuch, Merkmale der  Staatsangehörigkeit und  Deutschkenntnisse des Kindes dokumentiert. Bei der Einschulungsuntersuchung  findet die Untersuchung eines kompletten Jahrganges statt. Dies gibt es in keinem anderen Lebensalter und ist die beste Grundlage für epide­miologische Erfassungen.

 

Diese sehr zeitintensive Untersuchung und Befragung bei der Einschulungsuntersuchung liefert den Akteuren im Land Berlin und im Bezirk eine solide Datengrundlage, um im Sinne von Public Health zielgruppenspezifische Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention durchzuführen.

 

Die Aufgabe von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten für Kinder- und Jugendmedizin ist im wesentlichen die individuelle kurative Versorgung von Kindern und Jugendlichen, selbstredend auch im Kontext des sozialen Umfeldes. Die Erhebung von Daten i.S. von Public Health ist nicht Inhalt des Sicherstellungsauftrages der medizinischen Versorgung der Bevölkerung durch niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte.

 

Die Einschulungsuntersuchung wurde im Rahmen der ÖGD-Reform als Erfüllungsaufgabe des Staates und nicht als Gewährleistungsaufgabe festgeschrieben. Darüber hinaus wird von den niedergelassenen Ärzten/innen selbst diese Aufgabe nicht für machbar und leist­bar gehalten. Im Rahmen der ÖGD-Reform wurde ein Kostenvergleich erstellt, der zu dem Ergebnis kam, dass die Auslagerung an niedergelassene Ärztinnen und Ärzten auch keine Einsparung erbringen würde, da die Untersuchungen sehr zeitaufwändig sind. Zudem gäbe es ganz erhebliche Organisationsprobleme, da die Untersuchungen nicht über das Jahr verteilt, sondern in der Zeit von Mitte November bis Anfang Mai erfolgen. Mit einem normalen Praxisbetrieb wäre dies schwer in den Praxisablauf zu integrieren. Das ist übri­gens auch die Zeit, in der in Kinderarztpraxen der größte Ansturm stattfindet, da Kinder in der kalten Jahreszeit häufig unter Infektionskrankheiten leiden.

Die Einschulungsuntersuchung stellt eine gute Chance dar, bei allen Kindern dieses Jahr­ganges auf die Versorgung und Betreuung durch das Elternhaus zu achten, bzw. evt. Hinweise auf Gefährdung des Kindeswohls festzustellen und ggf.  notwendige Schritte einzuleiten. Dies erfolgt jeweils in enger Kooperation mit dem Jugendamt.

 

 

3.                 Wie ist der Personalstand bei Kinderärzten und Schulpsychologen im Bezirk derzeit, und welche Prognose gibt das Bezirksamt für die kommenden Jahre?

 

Es gibt im Fachbereich 8,95 Planstellen für die Untersuchung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen, davon sind derzeit leider 3 ½ Stellen nicht besetzt. 2,5 Ärztinnen sind in der Freistellungsphase der Altersteilzeit, 1 Stelle ist frei und besetzbar. Da 3 Ärztinnen (mit insgesamt 1,5 Stellen) für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und Behinderungen zu­ständig sind, stehen faktisch nur 4 Ärztinnen mit insgesamt 3,95 Planstellen im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst für Einschulungsuntersuchungen zur Verfügung.

 

Von der Beratungsstelle für Kinder mit Behinderungen werden Kinder in sechs Sonder­schulen betreut. Diese Sonderschulen werden von körperlich, geistig, sowie von schwerst mehrfach behinderten Kindern auch aus Nachbarbezirken besucht. In unserem Bezirk gibt es besonders viele Sonderschulen und entsprechend einen besonders hohen Betreu­ungsbedarf. Eine Ärztin dieser Beratungsstelle, die eine 0,75 Stelle innehat, scheidet zum Ende 2007 aus, so dass ihre Aufgaben dann zunächst auch noch von den Ärzten des Kin­der- und Jugendgesundheitsdienstes mit erfüllt werden müssen.

 

2,5 Planstellen für Ärzte des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes sind mit Mitarbeite­rinnen besetzt, die sich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit befinden und deshalb aktuell keine Dienstaufgaben wahrnehmen, ihre Planstellen aber noch nicht frei sind. Diese Stellen können während der Freistellungsphase nur mit Ärztinnen/Ärzten aus dem Zentralen Stellenpool besetzt werden. Dort gibt es jedoch keine Kinderärzte oder andere geeignete Ärztinnen oder Ärzte. Das bedeutet, dass wir diese in unserem Stellenplan ver­ankerten Stellen auch auf Jahre hin nicht mit Ärzten besetzt haben, die Dienstaufgaben wahrnehmen.

 

Eine Planstelle ist frei. Für diese läuft derzeit das Stellenbesetzungsverfahren, ich möchte Ihnen kurz skizzieren, wie aufwändig und zum Teil kabarettfähig das vor sich geht:

Nach Freiwerden einer Planstelle muss die Meldung “freie Stelle” an den zentralen Stel­lenpool erfolgen. Danach müssen wir warten, bis dieser uns mitteilt, dass es geeignete Fachkräfte für diese Tätigkeit nicht gibt – auch wenn wir dies längst wissen, weil alle ande­ren Gesundheitsämter auch angefragt haben und der “Markt” dieser Fachkräfte absolut übersichtlich ist. Dann erst kann die Stelle ausgeschrieben werden. Es gibt Ausschrei­bungsfristen, die Zustimmung des Personalrates und der Frauenvertreterin muss abge­wartet werden. Dann gibt es Bewerbungsfristen. Eingestellt werden können aber nur Be­werberinnen und Bewerber des Landes Berlin mit einem unbefristeten Beschäftigungsver­hältnis. Glücklicherweise sind wir als Bezirk (oder Amt/Abtl.) so beliebt, dass wir Bewer­bungen aus anderen Gesundheitsämtern erhalten, dann stellen wir dann Beendigung der Auswahlgespräche einen Versetzungsantrag an das bisherige Bezirksamt gestellt. Dieses Anliegen stößt verständlicherweise auf, in Abhängigkeit von der Persönlichkeitsstruktur der jeweiligen Leitungen, helle Empörung oder stumme Verzweiflung, auf jeden Fall dauert es viele Monate, bis der oder die neue Beschäftigte bei uns anfängt und dann im bisheri­gen Bezirk eine Lücke hinterlässt. Zu Recht wird hier von “Stellenkannibalismus” gespro­chen.  

 

Gibt es keine Bewerbung aus dem Land Berlin, muss eine Genehmigung von SenFin zur Außeneinstellung eingeholt werden. Für 2007 hat die Verwaltung von Herrn Sarrazin bis­her für den gesamten öffentlichen Gesundheitsdienst des Landes Berlin - einschließlich der Tierärzte – lediglich 17 Außeneinstellungen bewilligt.

Das gesamte Verfahren ist ungemein zeitaufwendig. Nach unseren Erfahrung vergeht meistens über ein Jahr, bis eine Stelle wieder besetzt werden kann - wenn dies denn ge­lingt.

 

Aufgrund der dann nicht in Anspruch genommenen Personalkosten wird die Zuweisung in den Folgejahren automatisch abgesenkt!

 

Ich habe dies so ausführlich geschildert, weil ich Ihnen die Fallstricke aufzeigen möchte, die immer mehr verhindern, dass wir unsere Aufgaben ordentlich erledigen. Bei der Neu­besetzung von Stellen im Verwaltungsbereich mag es – theoretisch – möglich sein, sich in eine ganz neue Materie einzuarbeiten, wenn langjährige Erfahrungen mit Verwaltungsauf­gaben vorliegen. Bei Stellen von Fachärztinnen und –ärzten gibt es definitiv keinen Spiel­raum für eine fachfremde Besetzung.

 

Dem Gesundheitsamt liegen qualifizierte Bewerbungen von Fachärzten/innen für Kinder- und Jugendmedizin vor, die hervorragend zur Beschäftigung geeignet wären. Leider ha­ben die Bewerber/innen jedoch keine unbefristete Arbeitsstelle im Land Berlin.

 

Zum Personalstand von Kinderärzten kann prognostisch – beispielsweise über die nächs­ten fünf Jahre – festgestellt werden, dass 2 Ärztinnen in diesem Zeitraum das 65. Le­bensjahr erreichen werden; beide sind bereits in der Altersteilzeit, ihre Stellen könnten nur aus dem Zentralen Personalmanagement neu besetzt werden.

Der Altersdurchschnitt unserer Ärzte liegt 56 Jahren. Gerade die jüngeren Ärzte/innen bemühen sich um eine Anstellung außerhalb der Trägerschaft des Landes Berlin. Denn durch den Anwendungstarifvertrag des Landes Berlin beziehen Ärzte/innen ein um 12 % verringertes Gehalt. Hinzu kommt, dass Krankenhausärzte/innen durch die von der  Ärzte­gewerkschaft ausgehandelten Tarifverträge weitere Einkommensverbesserungen haben. So gibt es zwischen einem/r im Land Berlin beschäftigten Arzt/Ärztin und einem/r bei ei­nem konfessionellen Krankenhausträger beschäftigten Arzt/Ärztin ein erhebliches Ein­kommensgefälle.

 

Durch die geschilderten Schwierigkeiten bei den Einstellungen gibt es nicht nur in unse­rem Bezirk, sondern  im gesamten ÖGD des Landes Berlin einen erheblichen Mangel an Ärzten/Ärztinnen und wird es wahrscheinlich auch auf absehbare Zeit geben. Die Lösung dieses Problem kann –  wie oben ausführlich dargelegt - jedoch nicht darin liegen, die Ein­schulungsuntersuchungen durch niedergelassene Ärzte durchführen zu lassen.

 

Auf die Frage nach der Zahl der beschäftigten Schulpsychologen teilte uns die Außen­stellen Charl-Wilm der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung mit:

Es gibt 6 Schulpsychologen auf 5,5 Planstellen, darunter eine mit der Aufgabe der der Gewalt- und Krisenintervention. Rechnerisch stünden 7 Vollbeschäftigte dem Bezirk zu. Die Umsetzung einer weiteren Schulpsychologin sei geplant.

 

 

4.                 Welche Folgen für die Kinder kann es haben, wenn nur ein Teil der Erstkläss­ler untersucht werden?

 

Die Einschulungsuntersuchung soll sicher stellen, dass für ein Kind individuell keine Nachteile durch den gesetzlich vorgeschriebenen Schulbesuch entstehen. Körperliche, motorische, kognitive und sprachliche Defizite werden mit entsprechenden Hilfsangeboten aufgezeigt, damit durch Einleitung von Fördermaßnahmen Entwicklungsschwächen mögli­cherweise kompensiert werden können.

 

Die vor Schulbeginn nicht untersuchten Kinder könnten erhebliche Nachteile erleiden, wenn Entwicklungsverzögerungen nicht rechtzeitig erkannt und therapiert würden. För­dermaßnahmen in der Schule könnten erst mit einjähriger Verspätung eingeleitet werden. Mögliche Impflücken würden u.U. nicht geschlossen.

 

 

5.                 Teilt das Bezirksamt die Klagen anderer Bezirke über die Sparpolitik des Se­nats bei der gesundheitlichen und psychologischen Betreuung, und was wird das Bezirksamt tun, damit eine fachlich vertretbare Betreuung der Kinder stattfindet?

 

Natürlich. Wir kämpften seit Monaten – wenn nicht seit Jahren – mit uns möglichen Mitteln  für das Recht auf Außeneinstellung. Wir wollen nicht mehr Personal, wir wollen auch nicht mehr Geld, wir wollen nur die vorhandenen und finanzierten Stellen besetzen dürfen! Aus Bezirken mit schlechten sozialen Strukturen gibt es Horrormeldungen in der Tagespresse, der RdB hat eindeutige Forderungen gestellt, die Senatsverwaltung für Gesundheit kämpft engagiert an unserer Seite für die Außenbesetzung. Frau Senatorin Lombscher gibt sich verhalten optimistisch, dass bei Finanzen Einsicht einkehren wird. Auch wir werden mit unserem Druck nicht nachlassen.

 

M. Schmiedhofer

Bezirksstadträtin

 


 

 
 

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