Drucksache - 0481/3  

 
 
Betreff: Junge Intensivtäter - pädagogische Handlungserfordernisse
Status:öffentlich  
 Ursprungaktuell
Initiator:Jugendhilfeausschuss 
   
Drucksache-Art:BeschlussvorschlagVorlage zur Kenntnisnahme
Beratungsfolge:
Jugendhilfeausschuss Beratung
03.09.2007 
16. Öffentliche Sitzung des Jugendhilfeausschusses erledigt   
Bezirksverordnetenversammlung Beratung
20.09.2007 
12. Öffentliche Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin ohne Änderungen in der BVV beschlossen   

Sachverhalt
Anlage/n
Anlagen:
Beschluss
Vorlge zur Kenntnisnahme

Der Jugendhilfeausschuss

Die BVV hat am 03.09.2007 beschlossen:

 

Das Bezirksamt wird aufgefordert sich dafür einzusetzen bzw. Sorge zu tragen, dass

 

·        wiederholt straffällige Kinder und Jugendliche grundsätzlich auch weiterhin in offenen pädagogischen Einrichtungen nachhaltig und verbindlich von ihrer kriminellen Karriere abgebracht werden,

·        evaluiert und dem JHA von den zuständigen Stellen vorgestellt wird, welchen prozentualen und absoluten Erfolgsgrad die bisherige Form der vorstehend genannten Unterbringung vorweisen kann bzw. ob und welche Optimierungserfordernisse bestehen,

·        auf junge Intensivtäter positiv eingewirkt wird, indem straffällige Kinder und Jugendliche aus ihrem Milieu bzw. Banden und Clanstrukturen herausgenommen werden und damit die Möglichkeit verstärkt genutzt wird,  delinquente Jugendliche außerhalb Berlins unterzubringen, sofern dem die entsprechende fachliche Empfehlung aus pädagogischer bzw. therapeutischer Sicht vorausgeht.

 

Das Bezirksamt teilt dazu mit:

 

Der Auftrag der Jugendhilfe lautet,

 

-   junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern und dazu beizutragen,

    Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,

 -   Eltern und andere Erziehungsberechtigte in der Erziehung zu beraten und zu unterstützen,

-   Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen.

 

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz  (SGB VIII)  beschreibt  insbesondere in den  §§ 27 - 42  die zur Verfügung stehenden  Hilfeformen, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist.

 

Das Spektrum der Ursachen für die Notwendigkeit der obigen Hilfen ist breit, häufiger Auslöser ist der Ausfall der Erziehungspersonen aus den verschiedensten Gründen, bei älteren Kindern und Jugendlichen kommen dann erhebliche Verhaltensauffälligkeiten in Familie und Schule dazu, die nicht selten auch Auffälligkeiten im Legalverhalten nach sich ziehen.

 

§ 42 SGB VIII (Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen) legt in Absatz 3 fest:

„ Freiheitsentziehende Maßnahmen sind (...) nur zulässig,  wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden.  Die Freiheitsentziehung ist ohne gerichtliche Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden.“

 

Freiheitsentziehende Maßnahmen sind zu unterscheiden von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, wie etwa begrenzte Ausgangszeiten oder Abschluss des Hauses während der Nachtstunden.

 

Bei strafmündigen Jugendlichen (ab 14 Jahre) kommen darüber hinaus ggf. die Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) zur Anwendung, d.h. freiheitsentziehende Maßnahmen sind ggf. aufgrund (jugend-)strafrechtlicher Entscheidungen möglich, ansonsten ausschließlich aufgrund  krankhaften Verhaltens auf der Grundlage des Landesgesetzes für psychisch kranke Menschen (PsychKG) .

 

Delinquentwerden von Kindern und Jugendlichen – vornehmlich von Jungen - kann nicht isoliert gesehen werden von deren gesamter Lebenssituation. Auslösende Faktoren für bei strafunmündigen Kindern und Straffälligkeit von Jugendlichen können sein:

-          familiäre Belastungen (Suchtkrankheiten, Arbeitslosigkeit,  Überforderung der Eltern  u. ä.)

-          schulische Auffälligkeiten,  abgebrochene Schullaufbahn,

-          psychische  Erkrankungen, massive Verhaltensstörungen,

-          gezieltes Ausnutzen der Strafunmündigkeit.

 

Die Jugendhilfe setzt deshalb auch nicht  nur an  am Symptom  Delinquenz, sondern sie muss sich ein ganzheitliches Bild der Lebenssituation des jungen Menschen verschaffen, um dann die im Einzelfall geeignete Hilfen zu Verfügung zu stellen.  

 

Eine Abfrage in den fünf Regionen des Bezirkes Charlottenburg-Wilmersdorf hat ergeben,  dass auf

das „Teilsymptom“  Delinquenz bei Kindern und Jugendlichen  auch alle im SGB VIII genannten Hilfen zum Einsatz kommen. So wird zum Beispiel im Bereich der Sozialen Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII) das „Antigewalttraining“ eingesetzt, die Betreuungshilfe (§ 30 SGB VIII) widmet sich gezielt einzelnen gefährdeten jungen Menschen, die sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) wirkt auf den gesamten Familienverband ein. Daneben spielen Maßnahmen der Jugendberufshilfe nach § 13 SGB VIII eine wichtige Rolle, da die berufliche Perspektivlosigkeit vor dem Hintergrund der nach wie vor hohen Jugendarbeitslosigkeit und des Mangels an geeigneten Ausbildungsplätzen ebenfalls einen nicht geringen Gefährdungsfaktor darstellt. Wenn ambulante Maßnahmen einschließlich ggf. therapeutischer Hilfen (§ 27,3 SGB VIII) als nicht ausreichend geeignet erachtet werden bzw. das häusliche Umfeld ebenfalls als Risikofaktor angesehen werden muss, kommt eine Trennung vom Elternhaus und damit eine Fremdunterbringung (§ 34 SGB VIII) zum tragen.

 

Das Jugendamt wird in der Regel auf Antrag der Personensorgeberechtigten nach Prüfung des Hilfebedarfs tätig,  mit einzubeziehen ist hier das Umfeld des Kindes und der Familie, wie Kitas, Schule, Freizeitbereich, aber auch Fachdienste wie die Erziehungsberatungsstelle, der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst sowie Kliniken und niedergelassene Ärzt/innen. Im Einzelfall kann der Antrag durch gerichtliche Entscheidung ersetzt werden.

 

Auf dieser Grundlage wurden jeweils zum Stichtag 31.12. vom Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf u. a. folgende Hilfen zur Erziehung geleistet:

 

                                                               2007                2008                 2009

Sozialpädagogische Gruppenarbeit:        117                  115                   113

Betreuungshilfe:                                         56                    59                     69

Sozialpäd. Familienhilfe:                          217                  290                   350

Päd. Therapeut. Leistungen:                   129                   222                   279

Tagesgruppen:                                          43                     35                     41

Betreutes Wohnen   (Jugendliche)            52                     44                     38

Stationäre Unterbringungen                 251                   284                   286 

Gesamt                                                    865                 1049                 1176

 

 

Wie oben beschrieben ist Delinquenz in den allermeisten Fällen ein multifaktorielles Geschehen, in dem verschiedene Probleme zusammenkommen. Insofern kann der Erfolgsgrad der jeweiligen Maßnahmen auch nicht isoliert auf das Teilsymptom „Delinquenz“ evaluiert werden. Dies kann nur im Rahmen einer umfangreichen wissenschaftlichen Längsschnittuntersuchung erfolgen. Diese liegen aus unterschiedlichen Zeiten, Bundesländern und Zusammenhängen und unterschiedlichen Ergebnissen vor.

 

Der hier vorgelegte Bericht konzentriert sich schwerpunktmäßig auf die Bedarfslage des Jugendamtes Charlottenburg-Wilmersdorf und die von diesem stationär  untergebrachten Kinder und Jugendlichen,  bei denen in der Indikation für die Unterbringung  a u c h  Delinquenz  eine mittlere bis maßgebliche Rolle spielt. Er unterscheidet nicht zwischen „bekannten Mehrfachstraftätern“, „Intensivtätern“ oder „kiezorientierten Mehrfachtätern“.

 

Zwei Hauptindikatoren, die fast regelmäßig Delinquenz „im Gepäck“ haben, sind der Betäubungsmittelmissbrauch (BTM) und psychische/psychiatrische Erkrankungen. Im ersten Fall arbeitet das Jugendamt mit drei Einrichtungen in Berlin und  Brandenburg zusammen, die sich der Therapie und Wiedereingliederung nach dem Drogenentzug widmen. In den Jahren 2006/2007 waren 6 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren  in der obigen  Form untergebracht. Mit dem Schwerpunkt psychische bzw. psychiatrische Erkrankung waren in den letzten beiden Jahren 15 Kinder, Jugendliche  und junge Erwachsene  zwischen 13 und 20 Jahren in entsprechenden  therapeutischen Spezialeinrichtungen in Brandenburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein untergebracht.

 

Wegen massiver Defizite im Legalverhalten waren in den letzten drei Jahren 5 Kinder und Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren in Berlin und Brandenburg untergebracht. In diesen Fällen nutzt das Jugendamt die Angebote des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes (EJF) in der Uckermark,  die speziell  für den Berliner Bedarf entwickelt wurden und die nach dem Konzept „Menschen statt Mauern“ eine Alternative zu der viel diskutierten „geschlossenen Unterbringung“ darstellen.

 

Um Kindern und Jugendlichen mit einer besonderen Problemdichte, insbesondere an den Schnittstellen Delinquenz und Drogen adäquat und nachhaltig begegnen zu können, ist das „Berliner Konzept der  verbindlichen   Betreuung in geographischer  Distanz“ (Berliner Linie)[1] entwickelt worden.  In Berlin und in der Uckermark sind für diesen Personenkreis Spezialeinrichtungen konzipiert und errichtet worden, die im Einzelfall auch Kinder und Jugendliche auf der Basis eines richterlichen Beschlusses nach § 1631b oder auf der Basis des JGG aufnehmen.

 

Abgesehen von einigen Unterbringungen mit psychiatrischer Indikation nach dem PsychKG hat das Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf seit ca. 15 Jahren lediglich eine Unterbringung auf der Basis eines richterlichen Beschlusses nach 1631b BGB durchgeführt. Unterbringungen auf der Basis des JGG dienen in erster Linie der Abwendung der Untersuchungshaft für  jugendliche Straftäter, auch hier sind in den letzten beiden Jahren mehrfach junge Menschen aus Charlottenburg-Wilmersdorf untergebracht worden. Die Erfahrung besagt, dass  es unter dem Eindruck des bevorstehenden Strafverfahrens nicht selten zu einem Sinneswandel bei den jugendlichen Straftätern kommt, was wiederum Vorraussetzung ist für den Einsatz einer Jugendhilfemaßnahme anstelle einer Jugendstrafe. In der großen Mehrzahl der Fälle konnte durch intensive Betreuung und Motivationsarbeit der betroffenen Kinder- und Jugendlichen  bzw. die erfolgreiche Arbeit der „offenen“ Einrichtungen die Notwendigkeit einer sogenannten geschlossenen Unterbringung vermieden werden.

 

Die (Fach-) Diskussion zum Thema „geschlossene Unterbringung“ verläuft sehr kontrovers und nicht selten emotionsgeladen, wie aktuell am Berliner Beispiel strafunmündiger Jungen als Drogendealer sichtbar ist. Hierzu ist die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung (SenBWF) federführend beauftragt worden, in einer ressortübergreifenden Arbeitsgruppe nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Dies wird vom Bezirksamt ausdrücklich begrüßt, denn der Verlauf dieser schlimmen Einzelfälle ist geeignet, das Vertrauen in die Rechtsordnung und das Handeln der verantwortlichen Behörden nachhaltig zu untergraben. Aus Sicht der Jugendhilfe muss zwingend eine Orientierung am Wohl des strafunmündigen Kindes erfolgen und die fachliche Diskussion über die aktuellen Einzelfälle hinaus im Sinne des BVV-Beschlusses breiter angelegt und geführt werden.

 

Insbesondere drei Ansatzpunkte zu der Frage, ob und welche Optimierungserfordernisse bestehen, erscheinen aus hiesiger Sicht wichtig, in der weiteren Diskussion beachtet zu werden:

 

Erstens: Das ist zum einen der Bereich des Jugendamtes selbst, in dem der Schwerpunkt der Betreuungsarbeit dieser jungen Menschen  im Vorfeld einer Unterbringung liegt, die immer nur ultima ratio sei kann. Diese Arbeit ist sehr zeitaufwändig und erfordert großen persönlichen Einsatz, was aber auch die entsprechenden Personalkapazitäten voraussetzt.  Weiterer Personalabbau wirkt sich in dieser sehr „beziehungsorientierten“ Arbeit außerordentlich negativ aus. 

 

Zweitens:  Alle oben genannten Spezialeinrichtungen der Drogentherapie, mit  therapeutischer Ausrichtung oder die „teilgeschlossenen“ des EJF fallen in das kostenintensive Segment der Jugendhilfe, da diese Arbeit nur mit einer hohen Personalausstattung geleistet werden kann. Sie stellen also eine erhebliche Belastung des Budgets für die Hilfen zur Erziehung dar.[2]

 

Drittens: Eine Optimierungsmöglichkeit wäre tatsächlich eine Erweiterung des bisher vorhandenen Angebotes im Bereich der Berliner Jugendhilfe, nicht um eine geschlossene Einrichtung mit hohen Mauern und Zäunen, sondern um eine kleine mischfinanzierte Einrichtung, die sich an der Schnittstelle zwischen Psychiatrie, Drogentherapie und Jugendhilfe verortet, denn nicht selten sind die schwierigen Falleskalationen Folge des häufigen Wechsels zwischen den verschiedenen Einrichtungen mit ihren abgegrenzten Zuständigkeiten und nicht zuletzt verschiedenen Kostenträgern.

 

Hier kann beispielhaft eine Einrichtung in Bayern genannt werden, und zwar die „Clearingstelle Würzburg“ der Evangelischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe  Würzburg, die im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung  im Jahre 2003 eröffnet wurde mit der Zielvorgabe „Herstellen einer Situationsveränderung, Aufdecken der Hintergründe des dissozialen und delinquenten Verhaltens der Kinder- und Jugendlichen, Reflexion der veränderten Lebenssituation und vor allem die Einleitung einer Entwicklungskorrektur“.[3] Die umfassende Diagnostik erfolgt multidisziplinär, „insbesondere unter Beteiligung der Fachbereiche Psychologie, Pädagogik, Schule und Medizin/Kinder- und Jugendpsychiatrie“[4]. Diese Kleinsteinrichtung bietet drei offene und drei zeitlich begrenzt schließbar Plätze an.

 

So sehr fallbezogen eine Unterbringung außerhalb der Großstadtstrukturen Berlins erforderlich sein kann, so gilt dies keineswegs in jedem Fall. Deshalb wird die vom EJF in Berlin realisierte Einrichtung mit interner Beschulung für „besonders erziehungsschwierige“ Kinder- und Jugendliche begrüßt. Negativkarrieren beginnen nach hiesiger Erfahrung häufig mit der Ausschulung aus dem regulären Schulbetrieb und  der Verleihung des Stigmas „Unbeschulbarkeit“. Gerade an dieser Stelle ist das Fehlen eines geeignetes Angebotes in Berlin immer wieder Ursache für die nicht in jedem Fall erforderliche Verlegung der betroffenen Kinder und Jugendlichen in Einrichtungen in andere Bundesländer, die sonst ggf. auch in Berlin bleiben könnten. Hier wird darauf zu achten sein, den Bereich Schule zumindest mit Lehrerkapazitäten einzubeziehen.

 

 

Monika Thiemen                                                                      Reinhard Naumann

Bezirksbürgermeisterin                                                         Bezirksstadtrat

 

 

 

 

 

 

 

2 Der Tagessatz der oben beschriebenen Spezialeinrichtungen liegt zwischen 150 und 200 € , der Tagessatz für geschlossene

   Einrichtungen liegt in der Regel um 300 €

3 „Drei Jahre Erfahrungen in der Clearingstelle der  Ev. Kinder-, Jugend - und Familienhilfe Würzburg“, in  EREV Schriftenreihe 4/2006

4 ebenda

 



[1] Grundsatzpapier SenBWF :  Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen v. 23.11.2006

[2] Der Tagessatz der oben beschriebenen Spezialeinrichtungen liegt zwischen 150 und 200 € , der Tagessatz für geschlossene

   Einrichtungen liegt in der Regel um 300 €

[3] „Drei Jahre Erfahrungen in der Clearingstelle der  Ev. Kinder-, Jugend - und Familienhilfe Würzburg“, in  EREV Schriftenreihe 4/2006

[4] ebenda


 

 
 

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