Drucksache - 0481/3
Die BVV hat am 03.09.2007 beschlossen: Das Bezirksamt wird aufgefordert sich
dafür einzusetzen bzw. Sorge zu tragen, dass ·
wiederholt straffällige Kinder und Jugendliche
grundsätzlich auch weiterhin in offenen pädagogischen Einrichtungen nachhaltig
und verbindlich von ihrer kriminellen Karriere abgebracht werden, ·
evaluiert und dem JHA von den zuständigen Stellen
vorgestellt wird, welchen prozentualen und absoluten Erfolgsgrad die bisherige
Form der vorstehend genannten Unterbringung vorweisen kann bzw. ob und welche
Optimierungserfordernisse bestehen, ·
auf junge Intensivtäter positiv eingewirkt wird, indem
straffällige Kinder und Jugendliche aus ihrem Milieu bzw. Banden und
Clanstrukturen herausgenommen werden und damit die Möglichkeit verstärkt
genutzt wird, delinquente Jugendliche außerhalb
Berlins unterzubringen, sofern dem die entsprechende fachliche Empfehlung aus
pädagogischer bzw. therapeutischer Sicht vorausgeht. Das Bezirksamt teilt dazu mit: Der
Auftrag der Jugendhilfe lautet, - junge Menschen in
ihrer individuellen und sozialen Entwicklung zu fördern und dazu beizutragen, Benachteiligungen
zu vermeiden oder abzubauen, -
Eltern und andere Erziehungsberechtigte in der Erziehung zu beraten und
zu unterstützen, - Kinder und
Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII)
beschreibt insbesondere in
den §§ 27 - 42 die zur Verfügung stehenden Hilfeformen, wenn eine dem Wohl des Kindes
oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Das
Spektrum der Ursachen für die Notwendigkeit der obigen Hilfen ist breit,
häufiger Auslöser ist der Ausfall der Erziehungspersonen aus den
verschiedensten Gründen, bei älteren Kindern und Jugendlichen kommen dann
erhebliche Verhaltensauffälligkeiten in Familie und Schule dazu, die nicht
selten auch Auffälligkeiten im Legalverhalten nach sich ziehen. § 42
SGB VIII (Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen) legt in Absatz 3 fest: „ Freiheitsentziehende
Maßnahmen sind (...) nur zulässig, wenn
und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes
oder Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Freiheitsentziehung ist ohne gerichtliche
Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu
beenden.“ Freiheitsentziehende
Maßnahmen sind zu unterscheiden von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, wie etwa
begrenzte Ausgangszeiten oder Abschluss des Hauses während der Nachtstunden. Bei
strafmündigen Jugendlichen (ab 14 Jahre) kommen darüber hinaus ggf. die
Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) zur Anwendung, d.h.
freiheitsentziehende Maßnahmen sind ggf. aufgrund (jugend-)strafrechtlicher
Entscheidungen möglich, ansonsten ausschließlich aufgrund krankhaften Verhaltens auf der Grundlage des
Landesgesetzes für psychisch kranke Menschen (PsychKG) . Delinquentwerden
von Kindern und Jugendlichen – vornehmlich von Jungen - kann nicht
isoliert gesehen werden von deren gesamter Lebenssituation. Auslösende Faktoren
für bei strafunmündigen Kindern und Straffälligkeit von Jugendlichen können
sein: -
familiäre
Belastungen (Suchtkrankheiten, Arbeitslosigkeit, Überforderung der Eltern u. ä.) -
schulische
Auffälligkeiten, abgebrochene
Schullaufbahn, -
psychische Erkrankungen, massive Verhaltensstörungen, -
gezieltes
Ausnutzen der Strafunmündigkeit. Die
Jugendhilfe setzt deshalb auch nicht nur
an am Symptom Delinquenz, sondern sie muss sich ein
ganzheitliches Bild der Lebenssituation des jungen Menschen verschaffen, um
dann die im Einzelfall geeignete Hilfen zu Verfügung zu stellen. Eine
Abfrage in den fünf Regionen des Bezirkes Charlottenburg-Wilmersdorf hat
ergeben, dass auf das
„Teilsymptom“ Delinquenz bei
Kindern und Jugendlichen auch alle im SGB VIII genannten Hilfen zum
Einsatz kommen. So wird zum Beispiel im Bereich der Sozialen Gruppenarbeit (§
29 SGB VIII) das „Antigewalttraining“ eingesetzt, die
Betreuungshilfe (§ 30 SGB VIII) widmet sich gezielt einzelnen gefährdeten jungen
Menschen, die sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) wirkt auf den
gesamten Familienverband ein. Daneben spielen Maßnahmen der Jugendberufshilfe
nach § 13 SGB VIII eine wichtige Rolle, da die berufliche Perspektivlosigkeit
vor dem Hintergrund der nach wie vor hohen Jugendarbeitslosigkeit und des
Mangels an geeigneten Ausbildungsplätzen ebenfalls einen nicht geringen
Gefährdungsfaktor darstellt. Wenn ambulante Maßnahmen einschließlich ggf.
therapeutischer Hilfen (§ 27,3 SGB VIII) als nicht ausreichend geeignet
erachtet werden bzw. das häusliche Umfeld ebenfalls als Risikofaktor angesehen
werden muss, kommt eine Trennung vom Elternhaus und damit eine
Fremdunterbringung (§ 34 SGB VIII) zum tragen. Das Jugendamt wird in der Regel auf Antrag der
Personensorgeberechtigten nach Prüfung des Hilfebedarfs tätig, mit einzubeziehen ist hier das Umfeld des
Kindes und der Familie, wie Kitas, Schule, Freizeitbereich, aber auch
Fachdienste wie die Erziehungsberatungsstelle, der Kinder- und Jugendpsychiatrische
Dienst sowie Kliniken und niedergelassene Ärzt/innen. Im Einzelfall kann der Antrag
durch gerichtliche Entscheidung ersetzt werden. Auf dieser Grundlage wurden jeweils zum Stichtag 31.12. vom
Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf u. a. folgende Hilfen zur Erziehung
geleistet:
2007 2008 2009 Sozialpädagogische
Gruppenarbeit: 117 115 113 Betreuungshilfe:
56 59 69 Sozialpäd. Familienhilfe: 217 290 350 Päd. Therapeut. Leistungen: 129 222 279 Tagesgruppen:
43 35 41 Betreutes Wohnen
(Jugendliche) 52 44 38 Stationäre
Unterbringungen 251 284 286
Gesamt
865 1049 1176 Wie oben beschrieben ist Delinquenz in den allermeisten
Fällen ein multifaktorielles Geschehen, in dem verschiedene Probleme
zusammenkommen. Insofern kann der Erfolgsgrad der jeweiligen Maßnahmen auch
nicht isoliert auf das Teilsymptom „Delinquenz“ evaluiert werden.
Dies kann nur im Rahmen einer umfangreichen wissenschaftlichen
Längsschnittuntersuchung erfolgen. Diese liegen aus unterschiedlichen Zeiten,
Bundesländern und Zusammenhängen und unterschiedlichen Ergebnissen vor. Der hier vorgelegte Bericht konzentriert sich
schwerpunktmäßig auf die Bedarfslage des Jugendamtes Charlottenburg-Wilmersdorf
und die von diesem stationär untergebrachten Kinder und Jugendlichen, bei denen in der Indikation für die
Unterbringung a u c h Delinquenz
eine mittlere bis maßgebliche Rolle spielt. Er unterscheidet nicht
zwischen „bekannten Mehrfachstraftätern“, „Intensivtätern“
oder „kiezorientierten Mehrfachtätern“. Zwei
Hauptindikatoren, die fast regelmäßig Delinquenz „im Gepäck“ haben,
sind der Betäubungsmittelmissbrauch (BTM) und psychische/psychiatrische
Erkrankungen. Im ersten Fall arbeitet das Jugendamt mit drei Einrichtungen in
Berlin und Brandenburg zusammen, die
sich der Therapie und Wiedereingliederung nach dem Drogenentzug widmen. In den
Jahren 2006/2007 waren 6 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren in der obigen
Form untergebracht. Mit dem Schwerpunkt psychische bzw. psychiatrische
Erkrankung waren in den letzten beiden Jahren 15 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 13 und 20 Jahren in
entsprechenden therapeutischen Spezialeinrichtungen
in Brandenburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein untergebracht. Wegen
massiver Defizite im Legalverhalten waren in den letzten drei Jahren 5 Kinder
und Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren in Berlin und Brandenburg
untergebracht. In diesen Fällen nutzt das Jugendamt die Angebote des
Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes (EJF) in der Uckermark, die speziell
für den Berliner Bedarf entwickelt wurden und die nach dem Konzept
„Menschen statt Mauern“ eine Alternative zu der viel diskutierten
„geschlossenen Unterbringung“ darstellen. Um
Kindern und Jugendlichen mit einer besonderen Problemdichte, insbesondere an
den Schnittstellen Delinquenz und Drogen adäquat und nachhaltig begegnen zu
können, ist das „Berliner Konzept der
verbindlichen Betreuung in
geographischer Distanz“ (Berliner
Linie)[1]
entwickelt worden. In Berlin und in der
Uckermark sind für diesen Personenkreis Spezialeinrichtungen konzipiert und
errichtet worden, die im Einzelfall auch Kinder und Jugendliche auf der Basis
eines richterlichen Beschlusses nach § 1631b oder auf der Basis des JGG aufnehmen. Abgesehen
von einigen Unterbringungen mit psychiatrischer Indikation nach dem PsychKG hat
das Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf seit ca. 15 Jahren lediglich eine
Unterbringung auf der Basis eines richterlichen Beschlusses nach 1631b BGB
durchgeführt. Unterbringungen auf der Basis des JGG dienen in erster Linie der
Abwendung der Untersuchungshaft für
jugendliche Straftäter, auch hier sind in den letzten beiden Jahren
mehrfach junge Menschen aus Charlottenburg-Wilmersdorf untergebracht worden.
Die Erfahrung besagt, dass es unter dem
Eindruck des bevorstehenden Strafverfahrens nicht selten zu einem Sinneswandel
bei den jugendlichen Straftätern kommt, was wiederum Vorraussetzung ist für den
Einsatz einer Jugendhilfemaßnahme anstelle einer Jugendstrafe. In der großen
Mehrzahl der Fälle konnte durch intensive Betreuung und Motivationsarbeit der
betroffenen Kinder- und Jugendlichen
bzw. die erfolgreiche Arbeit der „offenen“ Einrichtungen die
Notwendigkeit einer sogenannten geschlossenen Unterbringung vermieden werden. Die
(Fach-) Diskussion zum Thema „geschlossene Unterbringung“ verläuft
sehr kontrovers und nicht selten emotionsgeladen, wie aktuell am Berliner
Beispiel strafunmündiger Jungen als Drogendealer sichtbar ist. Hierzu ist die
Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung (SenBWF) federführend
beauftragt worden, in einer ressortübergreifenden Arbeitsgruppe nach Lösungsmöglichkeiten
zu suchen. Dies wird vom Bezirksamt ausdrücklich begrüßt, denn der Verlauf
dieser schlimmen Einzelfälle ist geeignet, das Vertrauen in die Rechtsordnung
und das Handeln der verantwortlichen Behörden nachhaltig zu untergraben. Aus
Sicht der Jugendhilfe muss zwingend eine Orientierung am Wohl des strafunmündigen
Kindes erfolgen und die fachliche Diskussion über die aktuellen Einzelfälle
hinaus im Sinne des BVV-Beschlusses breiter angelegt und geführt werden. Insbesondere
drei Ansatzpunkte zu der Frage, ob und welche Optimierungserfordernisse
bestehen, erscheinen aus hiesiger Sicht wichtig, in der weiteren Diskussion
beachtet zu werden: Erstens:
Das ist zum einen der Bereich des Jugendamtes selbst, in dem der Schwerpunkt
der Betreuungsarbeit dieser jungen Menschen
im Vorfeld einer Unterbringung liegt, die immer nur ultima ratio sei
kann. Diese Arbeit ist sehr zeitaufwändig und erfordert großen persönlichen
Einsatz, was aber auch die entsprechenden Personalkapazitäten voraussetzt. Weiterer Personalabbau wirkt sich in dieser
sehr „beziehungsorientierten“ Arbeit außerordentlich negativ
aus. Zweitens: Alle oben genannten Spezialeinrichtungen der
Drogentherapie, mit therapeutischer Ausrichtung
oder die „teilgeschlossenen“ des EJF fallen in das kostenintensive
Segment der Jugendhilfe, da diese Arbeit nur mit einer hohen
Personalausstattung geleistet werden kann. Sie stellen also eine erhebliche
Belastung des Budgets für die Hilfen zur Erziehung dar.[2] Drittens:
Eine Optimierungsmöglichkeit wäre tatsächlich eine Erweiterung des bisher
vorhandenen Angebotes im Bereich der Berliner Jugendhilfe, nicht um eine
geschlossene Einrichtung mit hohen Mauern und Zäunen, sondern um eine kleine
mischfinanzierte Einrichtung, die sich an der Schnittstelle zwischen
Psychiatrie, Drogentherapie und Jugendhilfe verortet, denn nicht selten sind
die schwierigen Falleskalationen Folge des häufigen Wechsels zwischen den
verschiedenen Einrichtungen mit ihren abgegrenzten Zuständigkeiten und nicht
zuletzt verschiedenen Kostenträgern. Hier
kann beispielhaft eine Einrichtung in Bayern genannt werden, und zwar die
„Clearingstelle Würzburg“ der Evangelischen Kinder-, Jugend- und
Familienhilfe Würzburg, die im Auftrag
der Bayerischen Staatsregierung im Jahre
2003 eröffnet wurde mit der Zielvorgabe „Herstellen
einer Situationsveränderung, Aufdecken der Hintergründe des dissozialen und
delinquenten Verhaltens der Kinder- und Jugendlichen, Reflexion der veränderten
Lebenssituation und vor allem die Einleitung einer Entwicklungskorrektur“.[3]
Die umfassende Diagnostik erfolgt multidisziplinär, „insbesondere unter Beteiligung der Fachbereiche Psychologie,
Pädagogik, Schule und Medizin/Kinder- und Jugendpsychiatrie“[4].
Diese Kleinsteinrichtung bietet drei offene und drei zeitlich begrenzt schließbar
Plätze an. So sehr
fallbezogen eine Unterbringung außerhalb der Großstadtstrukturen Berlins
erforderlich sein kann, so gilt dies keineswegs in jedem Fall. Deshalb wird die
vom EJF in Berlin realisierte Einrichtung mit interner Beschulung für „besonders
erziehungsschwierige“ Kinder- und Jugendliche begrüßt. Negativkarrieren
beginnen nach hiesiger Erfahrung häufig mit der Ausschulung aus dem regulären
Schulbetrieb und der Verleihung des
Stigmas „Unbeschulbarkeit“. Gerade an dieser Stelle ist das Fehlen
eines geeignetes Angebotes in Berlin immer wieder Ursache für die nicht in
jedem Fall erforderliche Verlegung der betroffenen Kinder und Jugendlichen in
Einrichtungen in andere Bundesländer, die sonst ggf. auch in Berlin bleiben
könnten. Hier wird darauf zu achten sein, den Bereich Schule zumindest mit
Lehrerkapazitäten einzubeziehen. Monika
Thiemen Reinhard
Naumann Bezirksbürgermeisterin Bezirksstadtrat
2
Der Tagessatz der oben
beschriebenen Spezialeinrichtungen liegt zwischen 150 und 200 € , der
Tagessatz für geschlossene Einrichtungen liegt in der Regel um 300
€ 3 „Drei Jahre
Erfahrungen in der Clearingstelle der
Ev. Kinder-, Jugend - und Familienhilfe Würzburg“, in EREV Schriftenreihe 4/2006 4
ebenda [1] Grundsatzpapier SenBWF : Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen v. 23.11.2006 [2]
Der Tagessatz der oben
beschriebenen Spezialeinrichtungen liegt zwischen 150 und 200 € , der
Tagessatz für geschlossene Einrichtungen liegt in der Regel um 300 € [3] „Drei Jahre Erfahrungen in der Clearingstelle der Ev. Kinder-, Jugend - und Familienhilfe Würzburg“, in EREV Schriftenreihe 4/2006 [4] ebenda |
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