HIER WOHNTE
MORITZ SILBERBLATT
JG 1864
DEPORTIERT 10.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 16.2.1943
Moritz Mendel Silberblatt wurde als Mendel Moritz Silberblat am 6. März 1864 in Białystok im Gouvernement Grodno im russischen Kaiserreich (heute Polen) geboren. Für seine Eltern, den Privatgelehrten Moses Wolf Silberblat und Ente Chaja Silberblat geborene Simipiazni, war er das jüngste von zwei Kindern. Seine Schwester Sophie Sara Ryfke (*20. März 1859) war fünf Jahre älter als er.
Über seine Kindheit und Jugend konnte nichts recherchiert werden. 1880, als Moritz 16 Jahre alt war, heirateten seine 21-jährige Schwester Sophie und Louis Ludwig Bukofzer (*1857) in Bromberg (Bydgoszcz, Polen).
Mendel Moritz wurde Kaufmann von Beruf und ging in die deutsche Reichshauptstadt Berlin. Wann und wo er seine spätere Ehefrau, die aus Posen stammende Rosalie, genannt Rosa, Scherek (*20. November 1868), kennenlernte, ist nicht bekannt. Rosas Mutter, die Witwe Pauline Scherek geborene Stern, gab am 1. Mai 1889 die Verlobung ihrer jüngsten Tochter Rosa mit Herrn Moritz Silberblatt bekannt. Das Paar heiratete am 10. Oktober 1889 in Berlin. Auf der Heiratsurkunde wurde die Namensänderung in „Silberblatt“ mit „tt“ vermerkt.
Moritz und Rosa wurden Eltern dreier Töchter. Ihre Älteste, Betti, wurde am 16. September 1891 geboren und die mittlere Tochter Anna ein Jahr später am 27. September 1892. Die jüngste Tochter Elly kam am 11. März 1899 auf die Welt. Sie wohnten seit den 1890er Jahren in der Oranienstraße 120 in Berlin-Kreuzberg.
Am 23. Dezember 1912 heiratete ihre älteste Tochter Betti mit 21 Jahren den 34-jährigen Kaufmann Siegbert Bruck (*6. Mai 1878). Sie wurden am 13. November 1913 Eltern ihrer Tochter Ruth Cäcilie. Siegbert Bruck war Mitinhaber der Schuhfabrik C. Leiser & Co. Die Familie wohnte in der Neuen Friedrichstraße 1.
1914 gründete Moritz Silberblatt eine Knopffabrik in der Alexandrinenstraße 95/96 und beschäftigte auf zwei Etagen etwa 100 Arbeiter. Sein Großhandelsunternehmen belieferte die Berliner Konfektionsbranche. Besonders gefragt waren seine Spezialitäten, die Perlmuttschnallen und -knöpfe nach Pariser Vorbild. Moritz Silberblatt arbeitete sich zu einem der führenden Knopfhersteller des Deutschen Reiches hoch. Einmal im Jahr fuhr er zur Kur nach Karlsbad oder Marienbad. Zusätzlich machte er einmal im Jahr Urlaub, wobei er diesen regelmäßig mit einer Geschäftsreise nach Paris zu verbinden pflegte. Ihm und seiner Familie ging es gut.
Moritz mittlere Tochter, die 27-jährige Anna, und sein Neffe, der 33-jährige Abraham Adolf Bukofzer (*23. Februar 1886), der jüngste Sohn seiner Schwester Sophie, heirateten am 15. Oktober 1919. Am 27. September 1920 wurden sie Eltern ihrer Tochter Alice, die sie Liesel nannten. Aufgrund der geistigen Behinderung ihrer Tochter, die sie als Erbkrankheit aufgrund ihrer Verwandtenehe deuteten, bekamen sie keine weiteren Kinder. Seit wann Liesel in der Heil- und Pflegeanstalt in Wunstorf in der Nähe von Hannover untergebracht war, ist unbekannt.
Die jüngste Tochter Elly verlobte sich am 4. Januar 1925 mit Carl Weil (*12. November 1891) aus Frankfurt am Main. Das Paar heiratete am 2. April 1925 in Berlin. Moritz Silberblatt und Siegbert Bruck waren die Trauzeugen. Ihre Ehe blieb kinderlos.
Siegbert Bruck, Betti Bruck und ihre Tochter Ruth wohnten seit 1919 in Charlottenburg in der Wielandstraße 33, bis Siegbert Bruck Anfang der 20er Jahre eine Villa mit zwölf Zimmern am Kleinen Wannsee in der Bismarckstraße 10 erbauen ließ. Als Betti 1927 erkrankte, vermieteten sie die Villa und zogen in eine Stadtwohnung in der Bayernallee 47 in Berlin-Charlottenburg. Hier starb Betti Bruck geborene Silberblatt am 10. Oktober 1929 mit 38 Jahren. Ihre Tochter Ruth war damals 15 Jahre alt. Siegbert und Ruth Bruck zogen daraufhin in eine kleinere Wohnung in der Sybelstr. 43.
Zwei Jahre und fünf Monate nach ihrer Tochter starb am 7. März 1932 mit 63 Jahren Rosa Silberblatt geborene Scherek. Moritz Silberblatt wurde einen Tag nach seinem 68. Geburtstag Witwer.
Ein halbes Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten starb am 31. Juli 1933 Moritz’ verwitweter Schwiegersohn Siegbert Bruck an einem Herzschlag. Seine Enkelin Ruth sah als Ursache des Todes die vielen Aufregungen durch die neue Regierung. Im April 1933 musste Ruth ihre Ausbildung als Bühnenbildnerin aufgeben, weil ihr Professor an der Deutschen Staatsoper vor den Nazis nach Prag geflohen war und es Juden verboten war, die Oper zu betreten. Die 19-jährige Ruth zog nach dem Tod ihres Vaters zu ihrem Großvater Moritz Silberblatt in die Oranienstraße 120 und arbeitete in seiner Firma als Sekretärin.
Moritz Silberblatt nahm seine Schwiegersöhne Abraham Bukofzer und Carl Weil als zwei gleichberechtigte Teilhaber in sein Unternehmen, eine offene Handelsgesellschaft, auf. Er selbst arbeitete weiterhin täglich in der Firma, bestellte die Rohmaterialien, nahm die Arbeitsverteilung vor und war zuständig für den Versand. Abraham Bukofzer und Carl Weil besuchten als Vertreter der Firma die Kundschaft in der Konfektion und im Export.
Am 31. Oktober 1933 heiratete Moritz Silberblatt mit 69 Jahren in zweiter Ehe die in Riga geborene 52-jährige Bianka Fanny Ehrlich (*1881). Ihr Vater war der Rabbi Adolf Abraham Ehrlich. Fanny war die jüngste von insgesamt sechs Kindern. Sie betrieb Schreibbüros im Columbiahaus am Potsdamer Platz 1, in der Elßholzstraße 11 in Berlin-Schöneberg und in der Potsdamer Straße 122c. Sie wohnte bei der Heirat 1933 in der Trautenaustraße 17.
Gemeinsam zogen sie am 1. Januar 1936 in die Trautenaustraße 18 in eine komfortable, großzügige 6-Zimmer-Wohnung im 1. Stock, die sie neu einrichteten. Als Moritz hier wohnte, pflegte er regelmäßig eine Taxe nach Kreuzberg in die Firma zu nehmen. Auch seine 22-jährige Enkelin Ruth zog mit in die neue Wohnung. Freitag abends luden sie Annie Bukofzer und Elly Weill mit ihren Ehemännern regelmäßig zur Schabbatfeier ein. Annie und Abraham Bukofzer wohnten schon seit 1933 in der Trautenaustraße 12. Elly und Carl Weil lebten ganz in der Nähe in der Güntzelstraße 34. Im April 1936 emigrierte Moritz’ Enkelin Ruth über England nach São Paulo in Brasilien.
Trotz der zunehmenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten konnte Moritz Silberblatt die Knopffabrik bis April 1939 halten. Dann wurde auch dieser Betrieb Opfer der rassistischen „Arisierungspolitik“.
Bei der „Minderheiten-Volkszählung“ am 17. Mai 1939 waren Annie und Abraham Bukofzer bei Moritz Silberblatt in der Trautenaustraße 18 gemeldet. Moritz Ehefrau Bianka Silberblatt geborene Ehrlich war zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon verstorben, denn sie wurde nicht registriert.
Seine Tochter Elly und deren Ehemann Carl Weil waren im Mai 1939 noch in der Güntzelstraße 34 gemeldet. Kurz danach gelang ihnen gerade noch rechtzeitig die Flucht nach New York, USA.
Die in einer Anstalt untergebrachte, geistig behinderte Tochter Liesel des Ehepaares Bukofzer wurde im Zuge der nationalsozialistischen Euthanasie-Politik am 27. September 1940 in der Tötungsanstalt in Brandenburg an der Havel ermordet.
Seit September 1941 wurde Moritz verpflichtet, den gelben Stern zu tragen. Ab Oktober 1941 wurden Juden in den Osten deportiert und damit kam die große Angst, selbst deportiert zu werden. Nun war eine Ausreise aus Deutschland verboten. In der Zwischenzeit musste Moritz weitere Zimmer seiner Wohnung zwangsweise untervermieten. Der aus Thüringen stammende Max Spittel (*29. März 1879) mietete für 115 RM zwei Zimmer und Max Freund mietete ein Zimmer für 60 RM. Anna und Abraham Bukofzer zahlten für ein Zimmer 50 RM.
Moritz Silberblatt war der zweite Mieter, der aus der Trautenaustraße 18 deportiert wurde. Ende Juli 1942 brachte ihn die Gestapo in das Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 und verpflichtete ihn, eine Vermögenserklärung auszufüllen, die er am 27. Juli 1942 unterschrieb. Am 10. August 1942 wurde er dann mit dem 40. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert. Seine Schwester Sophie Bukofzer deportierte die Gestapo am 31. August 1942 ebenfalls nach Theresienstadt. Am 29. September 1942 erfolgte der Transport in das Vernichtungslager Treblinka, wo sie ermordet wurde.
Im Ghetto traf Moritz außerdem seine Schwägerin Fanny Schwerin, Schwester seiner ersten Frau Rosa, und Alma Wilk, Schwester seiner zweiten Frau Bianka. Beide starben vor ihm an einer im Ghetto weit verbreiteten Krankheit, der Enteritis, einer durch Viren oder Bakterien hervorgerufenen Darmentzündung. Moritz überlebte das Ghetto ein halbes Jahr. Am 16. Februar 1943 – kurz vor seinem 79. Geburtstag – starb Moritz Mendel Silberblatt aufgrund der unmenschlichen Lebensbedingungen im Lager. Auf der Todesanzeige war als Todesursache ebenfalls Enteritis vermerkt. Ob sein Neffe Joseph Bukofzer, der aufgrund seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg Mitte November 1942 auch nach Theresienstadt deportiert worden war, bei seinem Tod anwesend war, wird unbeantwortet bleiben. Joseph Bukofzer starb mit 59 Jahren am 23. März 1944 im Ghetto.
In der Oranienstraße 120 in Berlin-Kreuzberg, wo Moritz Mendel Silberblatt vor 1936 wohnte, wurde schon am 2. Mai 1996 ein Stolperstein für ihn verlegt.
Recherche und Text: Gundula Meiering, April 2025
Quellen:
Mapping the lives; Berliner Adressbücher; Amtliche Fernsprechbücher Berlin; Arolsen Archives; Landesarchiv Berlin – WGA-Datenbank, Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen / über ancestry; My Heritage; Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Potsdam – Vermögenserklärungen, Reg. 36A (II) 35632 Moritz Silberblatt; Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Entschädigungsbehörde (LABO) Reg. Nr. 170 355 Moritz Silberblatt Antragstellerin: Ruth Bruck, Elly Weill und Charles Weill (ehemals Carl Weil); Recherchen im Rahmen der Ausstellung „Juden in Kreuzberg“ (1991) am Kreuzberg Museum, Biographische Zusammenstellung für Moritz Mendel Silberblatt in der Oranienstraße 120 von Lorraine Bluche