Stolpersteine Kaiserdamm 103/104

Hausansicht Kaiserdamm 103-104

Hausansicht Kaiserdamm 103-104

Die Stolpersteine für Charles und Margarete Leon, Dr. Hans-Leopold und Brigitte Türk wurden am 15. November 2023 verlegt und von Gina Webel gespendet.

Stolperstein Charles Leon

Stolperstein Charles Leon

HIER WOHNTE
CHARLES LEON
JG. 1871
DEPORTIERT 3.10.1942
THERESIENSTADT
1944 AUSCHWITZ
ERMORDET

Charles Leon wird am 26. März 1871 in Hannover geboren. Über sein Leben in Hannover und seine späteren Anfänge in Berlin ist nichts bekannt.
Ab 1913 ist Charles in Charlottenburg in der Joachimsthalerstraße 43-49 gemeldet.
Von 1928 bis 1938 ist sein Name als Sachverständiger für Futterstoffe in Berlin-Mitte, Molkenmarkt 11 in den Berliner Adressbüchern verzeichnet.
Charles ist Teilhaber und Mitdirektor der Firma M. Hiller Nachfolger am Molkenmarkt 11. Die Firma wurde 1842 gegründet und stellt Futterstoffe für die Herrenkonfektion her. Ihr Betriebssitz befindet sich in der Großen Frankfurter Straße 27/28.

ca. 1910 Reklamemarke der Fa. M. Hiller für die Werbung

ca. 1910 Reklamemarke der Fa. M. Hiller für die Werbung

1938 wird die Firma M. Hiller Nachfolger arisiert und an neue Firmeninhaber übergeben. Damit wird Charles seine Existenzgrundlage genommen.
Schon Mitte/Ende der 30er Jahren hat der Junggeselle Charles Bekanntschaft mit der Witwe Margarete Türk gemacht. Mitte Mai 1939 beziehen Margarete und er eine Wohnung am Kaiserdamm 103/104, die für beide der letzte freiwillig gewählte Wohnort ist.
Charles ist im jüdischen Gemeindeleben der Synagoge in der Joachimsthaler Straße aktiv. Margarete begleitet ihn häufig in die Synagoge.
Nachdem Margaretes Sohn Hans 1940 nach Afghanistan emigriert war, planen er und Margarete ebenfalls die Auswanderung zu Hans nach Kabul und von dort aus weiter nach Australien zu Verwandten.
Auch um eine größere Sicherheit zu haben zukünftig nicht getrennt zu werden, planen beide zu heiraten.
Am 4. März 1941 ist es soweit: nach der standesamtlichen Trauung mit zwei Trauzeugen aus der Familie findet in der Wohnung der beiden eine feierliche religiöse Trauung statt. Anschließend werden alle zu Tisch geladen, die Trauzeugen, beide Juristen, halten wunderschöne, zu Herzen gehende Ansprachen. Die Zahl der Glückwünsche und Blumengrüße ist sehr groß.
Charles beschreibt die Eheschließung in einem Brief an Stiefsohn Hans: „Lieber Hans! Deine letzten Worte bei unserem damaligen Abschied lauteten Meine Mutter lege ich Ihnen ans Herz – ich habe Deinen Wunsch nun erfüllt.“ Er zeichnet humorvoll mit „Dein Stief“.
Am 26. März 1941 steht das nächste Familienereignis bei den Leons an: Charles 70. Geburtstag wird gefeiert. Er empfängt 80 Gratulanten im Kaiserdamm, erhält über 100 Glückwunschbriefe, Geschenke und viele Blumengrüße. In sechs Reden wird er – seiner Ansicht nach – über Gebühr gefeiert. Unter anderem erscheint die Oberin des Säuglingsheims in Niederschönhausen, dessen Mitbegründer Charles ist, mit zwei Kindern und einer Torte, die die Kinder ihm mit einem reizenden Gedicht überreichen. Der Tag verlief wunderschön.
Am darauffolgenden Samstag wird Charles auch in der Synagoge gefeiert: unter Orgelklang wird er feierlich in den Gottesdienst eingeführt und darf auf einem geschmückten Sessel Platz nehmen. Der Rabbiner hält eine Ansprache, der Oberkantor spricht den Segen auch für die „junge Frau“ an Charles‘ Seite. Es war für alle ein wundervolles und feierliches Ereignis.
1941 kommt die Auswanderung immer noch nicht voran, auch im Folgejahr erhalten sie keine Genehmigungen.
Ende September 1942 muss Charles, wie Margarete auch, die „Vermögenserklärung“ ausfüllen, ein Formular, das den Finanzbehörden erleichtern soll, den Besitz von Menschen, die zur Deportation bestimmt sind, zu enteignen. Dazu zählen Barguthaben, Reichsschatzanweisungen, Gold, Silber, Schmuck und Mobiliar. Mit dem sog. Heimeinkaufsvertrag soll angeblich in Theresienstadt ein Heimplatz für einen ruhigen und umsorgten Lebensabend finanziert werden. Der blanke Hohn, wenn man die unmenschlichen Lebensbedingungen im Ghetto Theresienstadt bedenkt.
Am 1. Oktober 1942 wird Charles‘ Vermögen tatsächlich zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen, was ihm am 2. Oktober per Zustellungsurkunde mitgeteilt wird. Da sind Charles und Margarete schon gezwungen worden, sich in das Sammellager Große Hamburger Straße zu begeben.
Von da werden sie am 3. Oktober 1942 mit Lastwagen zum Bahnhof Berlin-Moabit gebracht zur Deportation in das Altersghetto Theresienstadt. Erst am Abend fährt der Zug ab und kommt einen Tag später in Theresienstadt an. Es ist der dritte „große Alterstransport“ aus Berlin, er umfasst über 1000 Menschen. Das Durchschnittalter der Deportierten beträgt 67 Jahre. Sie dürfen nur einen Koffer mit wenig Kleidung, Bettzeug, Essbesteck und Verpflegung mitnehmen und höchstens 50 RM Bargeld. Charles und Margarete werden zwei Jahre im Ghetto verbringen müssen.

Am 6. Mai 1943 wird Charles‘ und Margaretes Wohnung am Kaiserdamm 103/104 geräumt. Das ganze verbliebene Inventar wird von der Oberfinanzdirektion eingezogen.

Am 26. Oktober 1944 erhalten sie im Ghetto Theresienstadt eine Transportaufforderung, die ihnen vorschreibt, sich in der Nacht in der Abgangshalle einzufinden. Es wird nur wenig Gepäck erlaubt.
Zwei Tage später, am 28. Oktober 1944, verlässt Transport Ev mit über 2000 Menschen das Ghetto. Auf der grauenhaften Fahrt ins Ungewisse ohne Luft, Wasser und Licht in den völlig überfüllten Güterwagen sterben schon viele Menschen vor der Ankunft. Es ist der letzte Transport, der von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau fährt.
Nach der Ankunft in Auschwitz am 30. Oktober 1944 werden Männer und Frauen getrennt und einige wenige als „arbeitsfähig“ durch den Lagerarzt selektiert. Alle anderen Juden, 1689 Männer, Frauen und Kinder, werden zu den Gaskammern geführt und dort ermordet.
Am 31. Oktober 1944 werden auch Charles und Margarete in Auschwitz ermordet.
Charles stirbt im Alter von 73 Jahren.

Stolperstein Margarete Leon

Stolperstein Margarete Leon

HIER WOHNTE
MARGARETE LEON
GEB. KATZ
VERW. TÜRK
JG. 1880
DEPORTIERT 3.10.1942
THERESIENSTADT
1944 AUSCHWITZ
ERMORDET

Margarete Dora wird am 12. August 1880 als Tochter von Hedwig Katz geb. Hanau und Dr. Jacob Katz in Berlin geboren. Sie lebt mit ihren Eltern in Berlin in der Luisenstraße 31a, dann ab 1895, ab dem Alter von 15 Jahren, in der Potsdamerstr. 29. Ihr Vater, Sanitätsrat Dr. med. Jacob Katz (1838 – 1912), ist ein renommierter Augenarzt, bis heute ist seine Publikation „Wie erhält man seine Sehkraft?“ erhältlich.

Verlag Th. Grieben, Berlin 1876 und Die Wohlfahrtseinrichtungen von Groß-Berlin, Berlin/Heidelberg 1910 S. 198

Als niedergelassener Augenarzt ist er zusätzlich in der gemeinnützigen Klinik Albert-Charlottenheim in der Potsdamer Straße tätig, einer Heilanstalt für arme Augenkranke aus der Stadt und dem Umland. Ihm obliegt die ärztliche Leitung, gemeinsam mit Herrn Dr. Türk.
Margarete wächst in gesicherten wirtschaftlichen und familiären Verhältnissen auf, soweit bekannt als einzige Tochter. Der ärztliche Kollege ihres Vaters, Dr. Siegmund Türk, ist öfter zu Gast bei der Familie, er lernt die junge Margarete kennen und lieben. Die Eltern stimmen der Verbindung zu und geben im August 1903 die Verlobung von Margarete und Siegmund bekannt. Margarete ist gerade 23 Jahre alt geworden, ihr Verlobter ist bereits 36 Jahre alt.

Berliner Tageblatt 21.8.1903

Dr. Siegmund Türk wurde am 14. Januar 1867 in Posen an der Warthe in einer Kaufmannsfamilie geboren. Die Familie stammte ursprünglich aus der Stadt Turek, 130 km südwestlich von Posen gelegen, woher sich die Herkunft des Familiennamens ableitete. Siegmund studiert Medizin in Berlin und Zürich, wird 1889 zum Dr. med. promoviert, erhält 1890 seine Approbation. Bis 1896 arbeitet er als Assistent an der Universitäts-Augenklinik in Zürich, danach praktiziert er als Augenarzt in Berlin, wo er in der Königgrätzerstraße 39 in Kreuzberg wohnt. Seine vielbeachteten Veröffentlichungen betreffen Retraktionsbewegungen der Augen, die Entstehung des physiologischen Netzhautvenenimpulses und vieles mehr.
Dr. Siegmund Türk und Margarete Katz heiraten am 12. November 1903. Das junge Paar lässt sich in der Kurfürstenstraße 83 nieder. Am 2. Dezember 1904 wird Sohn Hans geboren, ein Jahr und einen Tag später, am 3. Januar 1906, kommt Tochter Brigitte zur Welt.

Berliner Tageblatt 3.12.1904 und Berliner Tageblatt 4.1.1906

Berliner Tageblatt 3.12.1904 und Berliner Tageblatt 4.1.1906

1907 Brigitte (1½) und Hans (2 ½) in den Ferien in Göhren auf Rügen.

1907 Brigitte (1½) und Hans (2 ½) in den Ferien in Göhren auf Rügen.

In der Familie wird erzählt, dass Margarete nach den Entbindungen schnell wohlauf war. Eine Woche nach der Geburt von Tochter Brigitte soll sie sogar schon wieder einen Ball besucht haben! Die Familie ist gesellschaftlich etabliert. Man erzählt sich, dass bei den Türks sogar der Kaiser zum Frühstück geladen war.
Margarete lässt ihre Kinder evangelisch taufen, hingegen sind sie und Siegmund jüdischen Glaubens. Die Kinder werden in einem bürgerlichen Haushalt mit vielen Annehmlichkeiten groß, sie erhalten eine gute Schul- und Ausbildung.

Berliner Tageblatt 4.11.1922

In der Folge zieht die Familie nach Charlottenburg in die Berliner Straße 158 (heute Otto-Suhr-Allee) um. Sie überstehen weitgehend unbeschadet die Wirren des 1. Weltkriegs. Aber plötzlich erkrankt Siegmund und stirbt nach kurzer, schwerer Krankheit am 1. November 1922 im Alter von nur 55 Jahren.

Mit 42 Jahren ist Margarete Witwe, Sohn Hans ist 17 Jahre alt, Tochter Brigitte 16. Der frühe Tod von Ehemann und Vater bringt Veränderungen mit sich, auch wirtschaftlicher Art. Margarete wird ab jetzt finanziell von der Familie ihrer Schwägerin Grete Türk und deren Sohn Ernst unterstützt. Mitte der 30er Jahre zieht sie innerhalb von Charlottenburg in den Kaiserdamm 89 um.
Mitte/Ende der 30er Jahren macht sie Bekanntschaft mit dem neun Jahre älteren Junggesellen Charles Leon, einem Kaufmann aus der Textilbranche aus Berlin-Mitte, Molkenmarkt 11. Seine Firma M. Hiller Nachf. wird 1938 arisiert, die Existenzgrundlage wird ihm damit genommen.
Mitte Mai 1939 beziehen Margarete und er eine Wohnung im Kaiserdamm 103/104. Für beide wird dies der letzte freiwillig gewählte Wohnort.
Im Februar 1939 flieht Tochter Brigitte nach England, im Juni 1940 folgt Sohn Hans nach Afghanistan.
Ab Juni 1940 bis Herbst 1941 ist ihre Korrespondenz mit Sohn Hans erhalten, aus der sich ihr Leben in dieser Zeit ableiten lässt.
Ihre Briefe sind von der Fürsorge und Liebe für ihren erwachsenen Sohn Hans gezeichnet, der ohne Familie in der Fremde lebt. Ihm beschreibt sie oft mit Humor ihr aktives gesellschaftliches Leben mit vielen Besuchen und Einladungen und charakterisiert augenzwinkernd die Familie und den großen Freundeskreis. Zentrales Thema ist jedoch die Auswanderung: einmal in ihrem Umfeld, wessen Gesuche auf den Weg gebracht wurden, welche angenommen oder abgelehnt wurden, und zum anderen ihre eigene und Charles‘ Emigration.

Margarete will mit Charles zusammenbleiben, beide wollen ebenfalls nach Afghanistan zu Hans kommen. Dort wollen sie Hans nicht auf der Tasche liegen, sondern planen, weiter nach Australien auszuwandern, wo Charles entfernte Verwandte hat. „Wir kommen beide – je eher, je lieber“ schreibt sie an Hans am 4. August 1940, und „… kann ich meine Möbel mitbringen?“
Ende August 1940 feiert Margarete ihren 60. Geburtstag mit vielen Gästen, sie hat auch Neuigkeiten von Brigitte, der es gut geht.
Ende September 1940 freut sie sich auf ein baldiges Wiedersehen in Kabul.
Im Oktober 1940 berichtet sie von ihren neuen, häufigeren Besuchen in der Synagoge in der Joachimsthaler Straße, gemeinsam mit Charles. Es treibt sie um, was sie alles in Kabul benötigt: „Habt Ihr Daunendecken dort?“ Sie berichtet weiter von Brigitte, die mit Max Leon, dem nach England emigrierten Bruder von Charles, und dessen Cousin Paul Heinemann dort in Kontakt steht.
Im November 1940 schreibt sie, dass Ernst Türk seine Zahlungen an sie einstellen muss, er hat keine Mittel mehr, um sie weiter zu unterstützen. Man muss sich weiter einschränken. Ob man die Haushaltshilfe noch bezahlen kann?
Ende November 1940 wird ihr Telefon abgestellt. Es wird höchste Zeit für ihre Auswanderung! Die Visa für Afghanistan sollen in allernächster Zeit kommen, sodass ein Wiedersehen mit Hans für Anfang 1941 geplant ist.
Es tut sich nichts über Weihnachten und den Jahreswechsel.
Mitte Februar 1941 berichtet sie von einer erneuten schriftlichen Eingabe in der Ahornallee, Zweigstelle der Königlich-Afghanischen Gesandtschaft, für ihre Ausreise. Neu hinzu kommt jetzt das Verbot für sie, Flugzeuge zu benutzen.
Ende Februar 1941 berichtet sie von einem herzlichen Empfang bei Seiner Exzellenz Ngvan Khan in der Ahornallee, der die erforderlichen Maßnahmen für ihre Ausreise und die ihres (zukünftigen) Mannes treffen kann. Dazu braucht er eine Anweisung seiner Regierung, er rechnet in Kürze mit dem Eintreffen des maßgeblichen Herren aus Afghanistan, der sich in Berlin einer Operation unterziehen soll und anschließend weiter in die Vereinigten Staaten reisen wird. Sobald die Genehmigung der afghanischen Regierung vorliegt, wird Seine Exzellenz sich befürwortend einschalten. – Einen Teil der Kosten ihrer Auswanderung kann der „Hilfsverein der Juden in Deutschland“ übernehmen, für Charles gibt es eine Zusage seiner Jüdischen Gemeinde.
Nach dem Besuch in der Ahornallee beschließen Margarete und Charles zu heiraten, sie kündigt es an: „Hansi, falle nicht um, wir heiraten … vor allem möchten wir durch eine Heirat die größere Sicherheit haben, nicht getrennt zu werden, komme, was da wolle“.
Am 4. März 1941 heiraten Margarete und Charles Leon in kleinstem Kreis, sie ist aufgeregt und glücklich zugleich. Obwohl sie ihre Hochzeit nicht publik gemacht haben, ist ihre Wohnung in ein „Blumengeschäft“ nach der Rückkehr von der Trauung aus dem Standesamt verwandelt.
Eine größere Feier findet am 26. März statt, dem 70. Geburtstag von Charles, zu dem sie 80 Gäste empfangen, er erhält über 100 Glückwunschbriefe, Geschenke und viele Blumengrüße.
Zwischenzeitlich ist der angekündigte Herr in der Afghanischen Gesandtschaft eingetroffen, Margarete macht daraufhin erneut eine schriftliche Eingabe für ihr Einwanderungsgesuch, wird zusätzlich telefonisch in der Gesandtschaft vorstellig. Man sichert ihr freundlich die weitere Bearbeitung ihres Gesuchs zu.
Im Mai 1941 kommt die Auswanderung immer noch nicht voran. Sie ist jedoch nicht zu sehr beunruhigt, da die heiße Jahreszeit in Afghanistan ungünstig für ihre geplante Reise sein kann.
Im Juni 1941 tut sich immer noch nichts. „Wir wollen mit Hochdruck zu Dir kommen – aber es geht nicht voran.“ Der Kabuler Herr ist immer noch in Berlin, handelt aber nicht zielführend in ihrer Angelegenheit.
Margarete schlägt vor, dass auch Brigitte nach Kabul kommen soll, „… dann sehen wir uns alle dort wieder“.
Am 3. November 1941 schickt Hans ein Telegramm, dass Brigitte nach Afghanistan kommt, sobald sie einen Schiffsplatz hat. Am 30. Mai 1942 antwortet Margarete, dass sie und Charles wohlauf und miteinander glücklich sind. Sie lässt über Hans Brigitte, Max und Paul in England grüßen.
Hier endet die Korrespondenz mit Hans.
Sie ist noch so voller Hoffnung, dass die Familie bald in Kabul wieder vereint ist. Es sollte anders kommen.

Am 1. Oktober 1942 wird ihr Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen, was ihr am 2. Oktober schriftlich zugestellt wird. Damit wird ein sog. Heimeinkaufsvertrag erfüllt, wodurch der Aufenthalt im Ghetto Theresienstadt finanziert werden soll.
Am 2. Oktober 1942 müssen Margarete und Charles ihre Wohnung verlassen und sich in das Sammellager Große Hamburger Straße begeben.
Am 3. Oktober 1942 werden sie mit Lastwagen zum Bahnhof Berlin-Moabit zur Deportation in das Altersghetto Theresienstadt gebracht. Am Bahnhof müssen sie stundenlang warten, bis jeder gezählt und registriert ist. Erst am Abend fährt der Transport I/71 Zug Da 523 ab und kommt einen Tag später in Theresienstadt an. Er besteht aus 1.021 Juden, das Durchschnittalter der Deportierten beträgt 67 Jahre. Die Deportierten dürfen 50 Reichsmark, einen Koffer, einen zusätzlichen Satz Kleidung, Schuhe, Bettzeug, Essbesteck und Verpflegung für acht Tage mitnehmen. Margarete und Charles werden zwei Jahre im Ghetto verbringen müssen.
Am 6. Mai 1943 wird die Wohnung am Kaiserdamm 103/104 geräumt. Möbel und Wertgegenstände werden von der Oberfinanzdirektion eingezogen.
Am 26. Oktober 1944 erhalten sie im Ghetto Theresienstadt eine Transportaufforderung, die ihnen vorschreibt, sich in der Nacht in der Abgangshalle einzufinden. Es wird nur wenig Gepäck erlaubt.
Am 28. Oktober 1944 verlässt Transport Ev mit 2.038 Männern, Frauen und Kinder das Ghetto. Die Güterwagen werden gleich versiegelt, sie sind völlig überfüllt. Auf der grauenhaften Fahrt ins Ungewisse ohne Luft, Wasser und Licht sterben viele Menschen. Es ist der letzte Transport von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau.
Nach der Ankunft in Auschwitz am 30. Oktober 1944 müssen die Deportierten ihr Gepäck zurücklassen. Männer und Frauen werden getrennt und durch den Lagerarzt selektiert. Die Arbeitsfähigen werden in ein Arbeitslager gebracht, die anderen Juden werden zu den Gaskammern geführt.
Am 31. Oktober 1944 werden Margarete und Charles in Auschwitz ermordet.
Margarete stirbt im Alter von 64 Jahren.

Stolperstein Dr. Hans-Leopold Türk

Stolperstein Dr. Hans-Leopold Türk

HIER WOHNTE
DR. HANS
LEOPOLD TÜRK
JG. 1904
VERHAFTET 24.2.1939
GEFÄNGNIS HAMBURG
KZ FUHLSBÜTTEL
ENTLASSEN 31.7.1939
FLUCHT 1940
AFGHANISTAN

Hans Leopold Türk wird am 2. Dezember 1904 als Sohn von Margarete geb. Katz und Dr. Siegmund Türk in Berlin geboren. Schon bald nach seiner Geburt lassen ihn seine Eltern protestantisch taufen, sie selbst sind jüdischen Glaubens.
Von 1910 bis 1922 besucht Hans das Staatliche Kaiserin-Auguste-Gymnasium in Charlottenburg und legt im März 1922 die Abiturprüfung ab. Anschließend studiert er bis 1925 an den Universitäten Berlin und Rostock Jura und Nationalökonomie. Am 1. November 1922 stirbt sein Vater, dennoch ist es der Familie wirtschaftlich möglich, dass er seine Ausbildung weiterverfolgen kann.
Im Juni 1925 besteht er in Berlin die erste juristische Staatsprüfung, im Dezember 1926 an der Universität Greifswald die juristische Doktor-Prüfung. Nach seinem Referendariat legte er im Februar 1929 in Berlin die zweite juristische Staatsprüfung ab und wird zum Gerichtsassessor ernannt.
Er wohnt in Charlottenburg, Berliner Straße 158 (heute Otto-Suhr-Allee).
Als Gerichtsassessor arbeitet er einige Monate bei Berliner Zivil- und Strafgerichten, auch als Richter, und anschließend bei mehreren Berliner Anwälten. Im Herbst 1930 lässt er sich als Rechtsanwalt am Berliner Kammergericht nieder und betreibt seine eigene Anwaltspraxis.

Dr. Hans Türk, 1932

Dr. Hans Türk, 1932

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wird er im Juni 1933 wegen jüdischer Abstammung aus der Anwaltschaft ausgeschlossen, was den Verlust seiner Existenzgrundlage bedeutet. In den Folgejahren kann er noch als „Hilfsarbeiter“ für jüdische Rechtsanwälte fungieren, später ist er als Grundstücksmakler tätig.
Im Jahr 1936 heiratet er die Jugoslawin Aurelia Kuzman. Mutter Margarete ist von seiner Wahl überhaupt nicht begeistert. Das Ehepaar zieht nach Wilmersdorf in die Kantstr. 18. Ihr Glück hält nicht lange an, schon 1938 reicht Aurelia die Scheidung ein, die im Mai 1940 rechtskräftig wird. Die Ehe ist kinderlos.
Durch die Verschärfungen der Gesetzgebung hat Hans seit 1938 überhaupt keine Betätigungsmöglichkeit mehr in Deutschland. Zudem gerät er am 24. Februar 1939 in Untersuchungshaft „wg.(wegen) Beihilfe z.(zur) Rassenschande, schw.(schwerer) Kuppelei“. Offenbar ist es nicht zu einem Gerichtsverfahren gekommen, da er am 17. Juli 1939 aus der U-Haft wieder in den Kaiserdamm 103/104, der Wohnung seiner Mutter, entlassen wird. Am 19. Juli jedoch wird er vom 23. Kriminalkommissariat der Hamburger Polizei, das u.a. für „Rassenschande“ zuständig war, im KZ Hamburg-Fuhlsbüttel inhaftiert. Dort wird er zwei Wochen später am 31. Juli 1939 entlassen – ein Zeichen, dass die Anklage offenbar gegenstandslos war.
Nun betreibt er aktiv seine Auswanderung. 1940 folgt er einer Einladung des afghanischen Wirtschaftsministeriums, um als Ratgeber in Rechts- und Wirtschaftsangelegenheiten in Kabul zu arbeiten.
Am 15. Juni 1940 unternimmt er mit einer kleinen Gruppe die gefährliche Reise auf dem Landweg über Moskau durch Russland nach Kabul, teilweise auf dem Pferd. Seine Habe in 2 Koffern und 3 Kisten Umzugsgut wird ihm später nach Kabul nachgeschickt.
Nach einigen Jahren wechselt er in die juristische Fakultät der Universität Kabul als Professor für modernes Zivilrecht und internationales Privatrecht, daneben berät er weiterhin öffentliche Regierungsstellen in juristischen und wirtschaftlichen Fragen und erstellt Gutachten.
In diesen Funktionen wird er 11 Jahre lang bis 1951 arbeiten.
1941 wird Hans aus Deutschland ausgebürgert und wird staatenlos. Er erhält 1942 einen Flüchtlingspass, ausgestellt vom afghanischen Außenministerium, der von Jahr zu Jahr erneuert wird.
In Kabul pflegt Hans ein gesellschaftliches Leben, so wie er es aus dem Haus seiner Mutter gewohnt war. Er gibt Gesellschaften, hat seine Bridge-Runde, macht Reisen in die Region. Zudem perfektioniert er seine Sprachkenntnisse: neben Englisch, Französisch und Italienisch spricht er Russisch und lernt Persisch. Er beherrscht die Sprachen in Wort und Schrift und ist Mitverfasser eines per Matrize vervielfältigten Wörterbuchs Deutsch-Persisch mit Persisch in lateinischer Umschrift!
Hans steht in regem Briefkontakt mit seiner Mutter, die ihn über die Geschehnisse zuhause auf dem Laufenden hält. In nur einem Jahr (1940-41) z.B. antwortet er ihr in über 40 Briefen und schickt regelmäßig Pakete – von der Mutter zärtlich „Liebesgaben“ genannt – mit dem Nötigsten in das kriegsgeschüttelte Berlin in den Kaiserdamm und zur Verwandtschaft: Tee, Kaffee, Schokolade, Butter, Hygieneartikel etc.
Trotz all seiner Bemühungen bei den afghanischen Behörden gelingt es nicht, seine Mutter und den Stiefvater nach Afghanistan zu holen und vor der Verfolgung zu schützen. Erst bei Kriegsende erfährt er von Überlebenden des Ghettos Theresienstadt von der Deportation seiner Mutter und des Stiefvaters in das Ghetto und deren Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz zwei Jahre später.

1948 Brigitte und Dr. Hans Türk in Flims

1948 Brigitte und Dr. Hans Türk in Flims

Drei Jahre nach Kriegsende unternimmt er im Frühjahr 1948 eine Europareise und hält sich in der Schweiz auf. Er ist auf der Suche nach einer beruflichen Stellung, wo er seine juristischen und volkswirtschaftlichen Kenntnisse bei seiner möglichen Rückkehr einbringen kann, z.B. bei der UNO. Dazu gibt er seinen Antrag bei der IRO, der International Refugee Organization, in Genf ab. Auf dieser Reise trifft er seine Schwester Brigitte nach über acht Jahren wieder. Sie steht vor ihrer Auswanderung in die USA.

1949 Hochzeit Erika Draeger und Dr. Hans Türk in Pakistan

1949 Hochzeit Erika Draeger und Dr. Hans Türk in Pakistan

1949 geht Hans eine zweite Ehe mit Erika Draeger (geb. 1914) ein, einer Zahnärztin. Gemeinsame Bekannte in Berlin hatten einen Briefkontakt zwischen den beiden ermöglicht. 1948 macht sich Erika auf den Weg nach Pakistan, wo Hans sie in Karatschi trifft. Erika und Hans heiraten am 24. Februar 1949 in Pakistan, anschließend gehen sie nach Kabul. Erika arbeitet dort in einer deutschen Schule, er ist weiterhin an der Universität angestellt. Die Ehe bleibt kinderlos.
Im März 1951 kehrt Hans nach fast 11 Jahren in Afghanistan aus der Emigration gemeinsam mit seiner Frau nach Deutschland zurück. Zuerst arbeitet er für zwei Jahre als Referent beim Entschädigungsamt in Berlin, danach übernimmt er eine Anwaltspraxis in Traben-Trarbach.
Im September 1954 erhält er die deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Er lässt sich in Köln mit eigener Kanzlei nieder, das Ehepaar wohnt in Bensberg. Seinen 60. Geburtstag am 2. Dezember 1964 feiert Hans großzügig mit Familie und Freunden in einem Restaurant in Köln. In der Familie spricht Hans nie über seine Verfolgung oder die seiner Mutter und des Stiefvaters.
Ein Jahr später, Anfang Januar 1965, wird er mit einer Venenentzündung in ein Krankenhaus in Köln eingeliefert. Am 17. Januar 1965 stirbt er im Krankenhaus an einem Sonntagmorgen an den Folgen einer Lungenembolie.
Hans wird 61 Jahre alt.

Stolperstein Brigitte Türk

Stolperstein Brigitte Türk

BRIGITTE TÜRK
BRIGID TURK
JG. 1906
FLUCHT 1939
ENGLAND

Käthe Brigitte Türk wird am 3. Januar 1906 als Tochter von Margarete geb. Katz und Dr. Siegmund Türk in Berlin geboren. Bald nach ihrer Geburt lassen ihre Eltern sie protestantisch taufen, die selbst jüdischen Glaubens sind.
Über Brigittes Lebensweg bis zu ihrer Emigration 1939 ist wenig bekannt. Sie hat ein enges Verhältnis zu ihrer Mutter und zu ihrem Bruder Hans; es wird davon ausgegangen, dass sie auch als junge Frau weiterhin bei ihrer Mutter in Berlin lebt, zuletzt am Kaiserdamm. Brigitte ist ledig.
Am 15. Februar 1939 flieht sie im Alter von 33 Jahren von Berlin nach London. In England leben bereits Max Leon, der Bruder ihres späteren Stiefvaters Charles Leon, und dessen Cousin Paul Heinemann, sodass sie eine erste familiäre Anlaufstelle hat.
In der Folge wird Brigitte ihre deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, bis 1954 bleibt sie staatenlos.
Brigitte verwöhnt ihre Mutter in Berlin nicht gerade mit Neuigkeiten aus ihrem Leben. Ihre Mutter wünscht sich sehr, dass Brigitte ebenfalls nach Kabul zu Hans ausreist, aber Brigittes Bemühungen um einen Schiffsplatz sind erfolglos.
Schließlich kann ihre weitere Ausreise nach Afghanistan zu Bruder Hans nicht realisiert werden. Sie bleibt bis Kriegsende in England. In den 60er Jahren berichtet sie in ihren Erzählungen, dass sie während des Krieges in England als Hausdame gearbeitet habe und die englische Sprache erlernt habe.
Nach Kriegsende reist sie beruflich nach Deutschland und arbeitet für die britische und die amerikanische Besatzungsmacht in Deutschland. Sie ist unter der Militäradresse OCCWC-Room 817-APO 696 A. US Army Europe in Stuttgart gemeldet.
Sie arbeitet als Dolmetscherin bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, wo sie Robert Kempner begegnet, der Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers Jackson ist. Ein Mitarbeiter Kempners hatte im März 1947 das Wannsee-Protokoll gefunden. In der Folgezeit engagiert sich Kempner für die Bestrafung nationalsozialistischer Täter und die Entschädigung der Opfer. Brigitte bleibt Kempner im Lauf ihres Lebens verbunden.
Für Brigitte ist Deutschland keine Heimat mehr. Im Frühjahr 1948 trifft sie nach langer Zeit ihren Bruder Hans in der Schweiz wieder und berichtet von ihrer bevorstehenden Auswanderung in die USA.
Am 10. Juli 1948 trifft sie mit Flugzeug NC-90927 (Flagship „Norway“ AmericanOverseas Airlines AOA) als „Brigitte Turk“ in New York ein. Sie lässt sich in der Folge an der Westküste in Seattle nieder, arbeitet als Versandsachbearbeiterin. In Seattle pflegt sie Kontakt mit anderen „Refugees“ und ist in deren Gemeinschaft integriert.
1953 beantragt sie nach fünf Jahren Aufenthalt in den USA die amerikanische Staatsbürgerschaft und lässt ihren Namen in „Brigid Turk“ ändern. Sie heiratet nicht, bleibt kinderlos.

1954 Brigid Turk in Seattle

1954 Brigid Turk in Seattle

Nach dem Tod ihres Bruders 1965 unternimmt sie einen Rückkehrversuch nach Deutschland. Mit Anfang 60 zieht sie mit ihrem gesamten Hausstand nach Köln-Deutz. Der Rückkehrversuch scheitert. Nach ca. zwei Jahren entschließt sie sich, nach Seattle zurückzukehren, sie konnte in Deutschland nicht Fuß fassen.
Bis in die 1980er Jahre kommt sie einmal im Jahr für sechs Wochen als Touristin nach Europa. Sie trifft sich mit Schwägerin Erika in Baden-Baden und Locarno, wo sich jeweils im September viele “Refugees“ aus den verschiedensten Ländern begegnen. In dieser Gesellschaft ist auch Robert Kempner ein gern gesehener Gast.
Mit zunehmendem Alter werden die Reisen beschwerlicher. Brigitte bleibt in den USA und steht noch länger mit Schwägerin Erika in Briefkontakt.
Brigitte stirbt am 22. Juni 1999 im Alter von 93 Jahren in Seattle.

Recherche und Texte: Gina Webel, Nichte von Erika und Dr. Hans Türk
Wallerfangen, 24. Oktober 2023

Quellen:
- Arolsen Archives, collections.arolsen-archives.org
- Berliner Tageblatt 1903, 1904, 1906 1922
- Berliner Adressbücher,
- Berliner Telefonbücher
- Bundesarchiv Gedenkbuch der Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1940, www.bundesarchiv.de/gedenkbuch.de
- Tracing the Past – Mapping the Lives, www.mappingthelives.org
- National Archives, https://www.archives.gov
- Opferdatenbank des Konzentrationslagers Theresienstadt, www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten
- Staatsarchiv bei der Behörde für Kultur und Medien – Freie und Hansestadt Hamburg
- Yad Vashem The World Holocaust Remembrance Center, yvng.yadvashem.org
- Landesarchiv Berlin: Wiedergutmachungsakten
- Landesentschädigungsamt Berlin, Entschädigungsantrag Dr. Hans Türk
- Korrespondenz von Margarete Türk und Charles Leon an Dr. Hans Türk nach Kabul (18 Briefe 1940-1941)
- Mündliche Überlieferungen von Erika Türk und ihrer Schwester Dorle Keller (Mutter von Gina Webel)
- Eigene Gespräche mit Brigitte Türk in den 1970er/ 80er Jahren