Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zur Enthüllung einer Gedenktafel für Victor Klemperer am 11.2.2003

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

zur Enthüllung einer Gedenktafel für Victor Klemperer

am 11.2.2003, 12.00 Uhr, Weimarische Str. 6a

Sehr geehrte Frau Klemperer!
Sehr geehrter Herr Karwelat!
Sehr geehrte Damen und Herrn!

Herzlichen Dank für die Einladung zu dieser Feier. Ich freue mich sehr, dass wir heute gemeinsam eine Gedenktafel für Victor Klemperer enthüllen können. Wir haben inzwischen mehr als 300 Gedenktafeln in unserem Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, und viele von ihnen erinnern an die Zeit des Nationalsozialismus. Ich will nur ein Beispiel nennen, weil die Tafel sich wenige Meter von hier an der Ecke der Weimarischen Straße und Detmolder Straße befindet: Die Tierärztin Maria Gräfin von Maltzan hat dort von 1938 bis 1945 gelebt, in ihrer Wohnung Jüdinnen und Juden versteckt und ihnen in Zusammenarbeit mit der Schwedischen Kirche die Flucht aus Deutschland ermöglicht. Die Tafel für die Gräfin Maltzan und diese neue Tafel für Victor Klemperer ergänzen sich eindrucksvoll. Ich denke, diese Nachbarschaft wird manche Passanten nachdenklich stimmen.

Die Gedenktafel für Victor Klemperer ist etwas ganz Besonderes, und ich bin vor allem der Berliner Geschichts Werkstatt dankbar, dass sie für die Herstellung und Anbringung dieser Tafel gesorgt hat.

Was ist das Besondere an dieser Gedenktafel? Was ist das Besondere an Victor Klemperer? Was hat ihn bei uns in den letzten Jahren so überaus bekannt und populär gemacht?

Für uns Deutsche ist und bleibt es wichtig, uns mit dem nationalsozialistischen Terrorregime auseinander zu setzen, uns immer wieder neu zu fragen, wie es möglich war, dass ein kulturloser, rassistischer, antisemitischer, brutaler Mann wie Adolf Hitler in Deutschland diktatorische Macht erlangen konnte, wie es möglich war, dass er eine Gefolgschaft fand, die Millionen Menschen ermordet hat, nur weil sie Juden waren oder von den Nazis als Juden definiert wurden, und wie es möglich war, dass Deutschland ihm in einen Weltkrieg folgte, der Millionen Opfer forderte.

Bis heute können wir diese Fragen letztlich nicht beantworten, obwohl die Forschungsliteratur dazu nicht mehr zu überblicken ist.

Genau so wichtig ist es für uns aber auch, uns an das zu erinnern, was die Nationalsozialisten zerstört haben, an den ungeheuren kulturellen und wissenschaftlichen Reichtum, den jüdische Deutsche unserem Land verschafft haben.

Die überragenden Beiträge Deutschlands zur Musik, Literatur, Kunst und Wissenschaft insbesondere des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist ohne den jüdischen Anteil nicht zu denken.

In der Persönlichkeit Victor Klemperers finden wir beides in besonders eindrucksvoller Weise verbunden: Er war ein bedeutender Wissenschaftler und Publizist jüdischer Herkunft, und er wurde zu einem besonders glaubwürdigen, authentischen Zeugen der Zerstörung des jüdischen Lebens in Deutschland. Durch die Veröffentlichung und Verfilmung seiner Tagebücher lange nach seinem Tod ist er zu einem der populärsten Zeitzeugen der Geschichte des Nationalsozialismus geworden. Er hat uns ein subjektives, gleichzeitig aber ein äußerst genaues und mit wissenschaftlich objektivierender Distanz geschriebenes, sehr eindringliches Dokument zum Alltag eines ausgegrenzten und verfolgten jüdischen Intellektuellen im Nationalsozialismus hinterlassen.

Aber wir sollten neben dieser populären Zeitzeugenschaft auch seine großen Leistungen als Romanist und Sprachsoziologe nicht vergessen. Seine Studien zur Sprache des Dritten Reiches “Lingua Tertii Imperii” sind bis heute unentbehrlich zur Analyse totalitärer Sprach- und Denkformen.

Hier in der Weimarischen Straße hat Victor Klemperer knappe drei Jahre seines Lebens verbracht. Er berichtet darüber in seinen Lebenserinnerungen von 1881 bis 1918 unter dem Titel “Curriculum Vitae”. Mit 25 Jahren, gerade eben verheiratet, zog er mit seiner ersten Frau Eva im Jahr 1906 hierher. Er schreibt dazu:

“Ende Juni begaben wir uns auf die Suche und fanden bald in Wilmersdorf, dicht am Kaiserplatz, in der Weimarischen Straße drei Zimmer, die uns sehr zusagten und im Vergleich zu unserer Berliner Behausung höchst komfortabel wirkten. Auch war die Straße erst einseitig bebaut, und der Blick ging, ähnlich wie von der vertrauten Durlacher Straße, ins Freie. Unter den vielen Neubauten der Gegend war das Haus Nr. 6a fast schon alt zu nennen; es war in allen Stockwerken vermietet und seit mindestens einem Jahr »trocken gewohnt … Also unterzeichnete ich noch am gleichen Tage den Wilmersdorfer Mietsvertrag. …
Drei Jahre haben wir in der Weimarischen Straße gewohnt. Die ganze Zeit über blieb uns die Freiheit des Blicks über Laubengelände und Felder unverbaut. Unterhaltung lieferte den halben Sonntag hindurch und an zwei Wochenabenden das nahe Schramm’sche Gartenrestaurant. Es war weithin bei Dienstmädchen und Arbeitern als Tanzlokal berühmt, auch in der Studentenschaft hochangesehen.
Wir lasen oft das Plakat an seinem Eingang: »Tanzen für Damen frei, für Herren einmal herum zehn Pfennige. Herren ohne Kragen ist der Zutritt zum Ballsaal untersagt.« Einmal sind wir auch drin gewesen, und ich habe mit Ella Doehring und meiner Frau je »einmal herum« getanzt. Während des Sommers sahen wir von unserm kleinen Balkon jeden Sonntag die Raketen des Feuerwerks bei »Schramm«.”

Hier ging Victor Klemperer zum ersten Mal wählen. Er erinnert sich daran:

“Im Oktober 1907 wähle ich das erste Mal zum Reichstag (man muß dazu fünfundzwanzig Jahre alt sein). Meine Frau begleitet mich zum Wahllokal; wir sind bis zum letzten Augenblick nicht gewiß, für wen ich stimmen werde. Vor dem kleinen Restaurant in der Hildegardstraße stehen drei Zettelverteiler.”

Klemperer entschied sich schließlich für den Sozialdemokraten, allerdings mit Bauchschmerzen, die er folgendermaßen erklärt:

“Ich bin freisinnig, aber die Freisinnigen sind so zersplittert und so machtlos. Ich bin nicht Sozialist, aber sie sind die stärkste Oppositionspartei, und wenn sie zur Macht kommen, werden sie unter der Verantwortung des Regierens das Übermaß an Radikalismus aufgeben.”

Klemperer bindet sich nicht an eine Partei. Er wird zum Wechselwähler, der die jeweiligen Zeitumstände und die Antworten der Parteien genau analysiert und sich dann für das jeweils kleinere Übel entscheidet.

In den drei Jahren hier in der Weimarischen Straße lebte Klemperer vor allem von journalistischen Arbeiten. Er beschränkte sich dabei auf kulturhistorische und feuilletonistische Beiträge, die nur wenig einbrachten. Mehr hätte er verdienen können, wenn er sich auch als politischer Journalist versucht hätte. Seine Begründung für seine Enthaltsamkeit in dieser Hinsicht ist wohl typisch für ihn:

“Was mich hemmte, war wohl eher mein wissenschaftliches Gewissen. Ich fühlte mich nicht als Fachmann. Sicherlich hätte ich einen üblichen politischen Artikel geradesogut zustande gebracht wie tausend andere Durchschnittsjournalisten … aber innerlich wäre ich mir immer meiner Ignoranz bewußt geblieben. Ich sagte mir, das politische Wissen beruhe auf drei Grundlagen: auf historischen, auf staatsrechtlichen und auf nationalökonomischen Kenntnissen. Von der Historie wußte ich ein wenig, vom Staatsrecht so gut als nichts und vom Wirtschaftlichen rein gar nichts. Und gerade das Wirtschaftliche schien mir in der Gegenwart das wichtigste der drei Elemente.”

Wenn ich das lese, frage ich mich: Welcher Journalist und welcher Politiker würde heute diesem hohen Maßstab genügen?

Symptomatisch scheinen mir diese Überlegungen Klemperers für sein wissenschaftliches Ethos, für seine hohen Ansprüche an die Qualität und Unbestechlichkeit der eigenen Arbeiten. Diese Ansprüche legte er nicht nur an seine publizistischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen an, sondern letztlich auch an seine Tagebücher, die durch präzise Beobachtungen, ein umfassendes Wissen und eine lebendige Sprache zu faszinierender Literatur geworden sind.

Die Wohnung hier in der Weimarer Straße wurde den Klemperers bald zu klein, denn “nie wieder im Leben haben wir so viele Gäste bei uns gesehen wie in der Weimarischen Straße.” 1911 bezogen sie eine neue Wohnung. Klemperer schreibt:

“Im Juni fanden und mieteten wir die erwünschte Wohnung in einem sehr ansehnlichen Gartenhaus der Holsteinischen Straße. Man legte in diesem neuen Viertel Wert darauf, wohlausgestattete Garten-, und nicht etwa armselige Hinterhäuser zu haben. Es war derjenige Teil Wilmersdorfs, der unmittelbar an das ganz moderne bayrische Viertel Berlins grenzte. Wir würden hier nicht abseits leben wie vordem in der Weimarischen Straße jenseits vom Kaiserplatz. Die Eltern wohnten jetzt in der Luitpoldstraße, Sußmanns am Wittenbergplatz, Felix und Grete in der Nähe des Zoologischen Gartens, Georg besaß eine Villa am Nollendorfplatz, und Bertholds Büro und Wohnung lagen dicht bei der Potsdamer Brücke. Wie sehr sind meine Heimatserinnerungen an Berlin mit diesem alten und neueren Westen verknüpft! … mein eigentliches Berliner Heimatgefühl weist immer nach diesem alten Westbezirk.”

Auch dies macht uns bei der Lektüre seiner Tagebücher aus der NS-Zeit so betroffen: Sein Heimatgefühl war und blieb stark, selbst in den Jahren der Verfolgung und Demütigung durch den Terrorstaat.

Heute erinnern wir in der alten Heimat Klemperers in Wilmersdorf mit einer Gedenktafel an ihn. Wir haben ihm viel zu verdanken, und wir sind stolz darauf, dass unser Bezirk einige Jahre seine Heimat geworden war.

Vgl. auch
Gedenktafel für Victor Klemperer

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