Unerwartete WG-Begegnung
Nach der abendlichen Vorlesung in der Universität betrat ich gegen 21:30 Uhr mein WG-Apartment und schob eine Lasagne in den Ofen. Ich hatte zuvor noch nichts gegessen, weil das Essen hier in Zürich so teuer ist, dass man es sich zweimal überlegt, ob es wirklich sein muss. Schnell unter die Dusche gesprungen, kam ich – in legerer Freizeit- bzw. Schlafbekleidung- ins Wohnzimmer, wo plötzlich ein neuer Mitbewohner – mit seinem Fahrrad- vor mir stand. Die Irritation währte nur kurz. Kai Markus strahlte so eine Freundlichkeit und Offenheit aus, dass ich ihm sofort die Hälfte meiner Lasagne anbot und vergass, dass mir mein „Outfit“ eigentlich etwas peinlich ist. Wir sprachen miteinander wie alte Freunde. Über das Reisen, wie wir die Menschen sehen, was es bedeutet, einen Traum zu haben und diesem zu folgen- notfalls bis ans andere Ende der Welt.
Kai ist momentan auf dem Weg von Norwegen nach Thessaloniki. Verschmitzt grinsend bemerkt er:
„ Tja, mein Motto ist: cycle and run = fun. Auch wenn es über 5000 km sind.“ Er zeigt mir sein über 50 kg schweres Rad (inkl. Satteltaschen, Schlafsack und Zelt). Und erzählt mir seine Geschichte. Eine Geschichte, die so unglaublich ist, dass sie mich noch immer zutiefst berührt.
Völkerverständigung zu Fuss und auf dem Fahrrad
Im vergangenen Jahr ist er von Hamburg nach Shanghai gelaufen. Sein Weg führte ihn in 9 Monaten (das bedeutet, er musste mindestens 60-80 km/Tag nicht laufen, sondern rennen!) insgesamt
12 000 km durch Wüsten, Städte, traumhafte Landschaften und militärische Sperrgebiete. Er hat alle Facetten menschlicher Reaktionen auf sein Vorhaben erlebt: Jene, die sich ungläubig – oder unfreundlich- von diesem Träumer abwandten, der doch tatsächlich das Unmögliche für machbar hält. Die anderen, die ihm anvertrauten, dass sie auch schon immer einen Traum hatten und nur zu sehr an sich selbst gezweifelt haben, um ihn Realität werden zu lassen. Die Alten, die ihm auf die Schulter klopften und in ihm eine verwandte Seele erkannten, weil sie früher z.B. auch einmal Läufer waren. Die Kinder, die ihm bewundernd nachschauten und denen er stets ein Vorbild sein will. Er sagt zu ihnen: „Wenn ihr euch für etwas begeistert, geht es an. Glaubt an euch. Manchmal braucht es 999 Versuche. Ihr müsst damit leben können, sehr oft ein „Nein“ zu hören. Wenn ihr es 999 x gehört habt, ruft mich an. Dann werde ich euch helfen.“ Er wird nicht müde, seine Geschichte zu
erzählen. Ich werde ebenso wenig müde, sie zu hören. Wir schauen gemeinsam Film, den ein Kamerateam auf seinem Weg nach Shanghai gedreht hat. Ich erlebe diese unglaubliche Reise mit als wäre ich dabei gewesen. Ich fühle seine Begeisterung und seine Dankbarkeit für jede Begegnung mit den Menschen auf seinem Weg. Ich sehe mit Tränen in den Augen, wie er knapp 1000 km vor dem Ziel einen schrecklichen Unfall erleidet und sich beide Knöchel bricht. Andere hätten spätestens zu diesem Zeitpunkt aufgegeben. Nicht jedoch Kai. Er arbeitet hart an seiner körperlichen Regeneration, gibt zu keinem Zeitpunkt auf und erreicht sein Ziel- anders als geplant, anders als gewünscht. Er wird die fehlenden 1000 km zu Fuss nachholen. Auf seinem Weg mit dem Rad von Norwegen nach Griechenland. Auf diesem Weg will er den Kreis schliessen. Genau hier und jetzt, wo ich ihn
getroffen habe. Inzwischen ist es eher frühmorgens als nachts. Kai hat seit 3 Stunden Geburtstag, wie er in einem Nebensatz kurz erwähnt. Unsere Vernunft rät uns, ins Bett zu gehen. Kai muss morgen weiter in Richtung Innsbruck und ich muss bald meine Präsentation an der VHS halten. An Schlaf ist jedoch überhaupt nicht zu denken und deshalb schreibe ich Kai einen Brief, in dem ich ihm alles erdenklich Gute für seinen weiteren Weg wünsche. Diesen hefte ich am nächsten Tag zusammen mit einem kleinen Geburtstagsgeschenk an sein Rad, was ihn hoffentlich unbeschadet am 9. Oktober an sein Ziel trägt. Ich werde ihn in Gedanken und auf sämtlichen Social Media Kanälen begleiten und wünsche ihm weiterhin Gesundheit, Leidenschaft und Durchhaltevermögen. Dass er Letzteres hat, wird wohl niemand bestreiten.
Ich könnte gut ohne Vorträge leben.
Zumindest wenn es sich um die meinen handelt.
Um die Nervosität einigermassen im Zaum zu halten, habe ich mich schon zu Hause akribisch auf meine Vorträge an der VHS Zürich und Basel vorbereitet. Mehr als 80 Power-Point Folien warteten darauf, den Zuhörenden nähergebracht zu werden. Möglichst praxisnah versteht sich, damit sich auch niemand langweilt. Ich habe alle Daten, Fakten und Studien rund um die Weiterbildung in Deutschland, die Berliner Volkshochschulen und das Bezirksamt Mitte in einem Wikiartikel festgehalten. Sicher ist sicher. So etwas fällt mir regelmässig nicht ein, wenn ich in einer solchen Vortragssituation danach gefragt werde.
Ausserdem lässt sich so am besten demonstrieren, wie wichtig und praktisch das Wiki in unserer täglichen Arbeit ist. Die 80 Folien zeigen also hauptsächlich nur noch Best-Practice-Beispiele aus der VHS Mitte. Viele Bilder und anschauliche Fakten sollen verdeutlichen, wie wichtig und erfüllend ich meine Arbeit empfinde. Würde man alle Kurse, die die VHS Mitte in einem Jahr anbietet, ohne Unterbrechung besuchen, bräuchte man dafür 12 Jahre. Man könnte danach sämtliche Yoga-Stellungen, japanische Süssigkeiten kochen, Drehbücher schreiben.….
Je mehr ich davon sprach, wie wichtig mir meine Arbeit ist, welche wertschätzende Atmosphäre bei uns herrscht und wie froh ich bin, dass ich meinen Teil dazu beitragen darf, dass dies so ist, desto ruhiger wurde ich innerlich. Am Ende hätte ich noch mindestens eine Stunde weitersprechen können. Gut, dass an der VHS Zürich – genau wie bei uns – Raumknappheit herrscht und schon der nächste Kurs vor der Tür stand. Sonst wär die Versuchung sehr gross gewesen, ein wichtiges Qualitätskriterium ausnahmsweise mal über Bord zu werfen: die Veranstaltung immer pünktlich zu beginnen und zu beenden.
Ich sollte in dieser Woche noch eine zweite Chance bekommen, unsere Qualitätsgedanken in die Schweizer Volkshochschullandschaft zur Diskussion zu geben. Das gesamte Leitungsteam fuhr zum gegenseitigen Austausch mit dem Zug zur VHS Basel. Auf der einstündigen Fahrt sprach ich mit der Programmbereichsleiterin für Sprachen über unsere Reisen nach Südamerika, meine Reise alleine quer durchs australische Outback, Kinder und was gute Freizeitgestaltungen für sie sein könnten. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, waren wir noch nicht zu einer abschliessenden Bewertung gekommen. In Basel angekommen hatten wir leider auch keine Zeit für Sightseeing. Der stramme Schritt unseres VHS-Leiters vorweg durch die Altstadt erinnerte uns an das straffe Programm, was vor uns lag. Die Baseler Kolleginnen und Kollegen – allen voran ihr Leiter, der den Leiter meiner VHS in Berlin gut kennt- waren mir auf Anhieb sehr
sympathisch. Ihr Zielpublikum ist dem unseren im Grundsatz etwas näher. Sie bekommen im Gegensatz zur VHS Zürich finanzielle Unterstützung vom Kanton. Damit ist es leichter, dem integrativen Gedanken zu folgen.
Ob es leicht war, meinem Vortrag zu folgen müssen die Zuhörenden entscheiden. Für mich war der zweite Vortrag etwas leichter, auch wenn ich noch immer lieber den Ausführungen anderer lausche.
Beide Schweizer Volkshochschulen anders organisiert sind als wir in Berlin. Dennoch erkannten wir, dass wir mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben: Kurse beginnen manchmal nicht pünktlich, Teilnehmende haben andere Erwartungen an Dozenten, Unterricht oder Verwaltung. Am Ende waren wir uns einig, dass es kein Patentrezept gibt, wie man damit umgeht. „Es kommt darauf an“… Die Massnahmen, die ergriffen werden, müssen für die jeweilige Organisation stimmig und – worauf wir in der VHS Mitte grossen Wert legen- einheitlich sein. Kulanz dem einen Kunden gegenüber und dem nächsten nicht, birgt in sich eine Benachteiligung. Es muss für unsere Entscheidungen klare Kriterien geben, die jeder kennt und die festgehalten sind. Dafür haben wir unser Wiki. Die VHS Zürich überlegt, nun ebenfalls ein Wiki für die Kommunikation mit den Lehrpersonen der Zürcher Volksschule im ZAL-Bereich einzuführen.
Ich würde mich sehr freuen, die dafür zuständige Kollegin in den nächsten 2 Wochen noch von hier und später gern auch von Berlin aus zu unterstützen.
„Man findet die Wahrheit nicht, indem man sie studiert, man muss ihr begegnen“
Dieses Zitat von Andreas Brendt las ich in einer Facebookgruppe für Leute, die neu in Zürich sind und dort Veranstaltungstipps posten. Der Buchautor sollte in dieser Woche eine Veranstaltung mit dem Titel „10 Jahre um die Welt. Geht nicht, gibt`s nicht“ im Kunsthaus Zürich geben, in der er aus seinen beiden Büchern „Boarderlines“ und „B2. F…you happiness“ Passagen vorliest und Fotos von seinen Reisen zeigt. Da musste ich unbedingt hin. Nicht nur, um das Zitat mit ihm zu diskutieren. Ich als begeisterte „Studierende“, die am liebsten jeden Abend in der Uni verbringt, halte
natürlich beides für wichtig. Die Theorie und die Praxis. Ich war neugierig auf den Menschen, der offensichtlich sehr viel von der Welt gesehen hat und schrieb ihn per Facebook an. Er schrieb mir tatsächlich eine persönliche Nachricht zurück. Vor der Veranstaltung sprach ich kurz persönlich mit ihm über Australien und das Gefühl, wie es ist, nach so prägenden Erlebnissen wieder nach Hause zu kommen. Die Zeit reichte nicht für eine genauere Interpretation seines Zitats, aber bei seinem Multimedia-Vortrag wurde schnell deutlich wie er es meint. Wir müssen in die Begegnung mit den Menschen, Tieren und der Natur gehen. Wir müssen Risiken eingehen, am Ende wird immer alles gut. Schön klingt es, was er sagt, ich spüre seine Begeisterung und finde viele Parallelen zu eigenen Erlebnissen. Er beschreibt die ungläubige Freude, wenn sich die Nebel in Machhu Picchu doch noch lichten und zeigt die heiligen Kühe in Indien, wie sie zufrieden kauend den gesamten Verkehr lahm
legen. Und niemand stört sich daran. Am Schluss der Veranstaltung schreibt er Zitate als persönliche Widmung in sein Buch. Er nimmt sich für jede einzelne Widmung viel Zeit, überlegt, wählt Sprüche aus. Was er für mich ausgewählt hat, muss ich sicher nicht extra erwähnen… Und wenn ich so darüber nachdenke, passt es doch ganz gut zu mir. Vielleicht würde ich es dennoch abwandeln: „Man findet die Wahrheit, indem man sie studiert und ihr begegnet.“ Beim Studieren der Wahrheit kann die Volkshochschule ihren Beitrag leisten. Wir können Rahmenbedingungen schaffen, die Begegnungen und neue Erfahrungen ermöglichen. In die Begegnung mit den Menschen muss jeder dann selbst und auf seine eigene Weise gehen. Für mich waren in diesem Jahr die Begegnungen in Australien und hier in Zürich unglaublich bereichernd. Andreas Brendt hat gestern Grüsse aus Südtirol geschickt. Das Foto zeigt ihn, wie er von einer Ziege geküsst wird. Ich habe ihm zu dem gelungenen Bild
gratuliert – seine Antwort kam sofort: „Ziege? Ich dachte, es wäre ein Steinbock?!“. Was für den einen eine Ziege ist, ist für den anderen ein Steinbock. Der berühmte Hirnforscher und Buchautors Lutz Jäncke würde dazu sagen: „Wir interpretieren die Welt mehr als dass wir sie real abbilden.“ Aber das ist eine andere Geschichte. Von der Vorlesung berichte ich in der nächsten Woche.
Resümee nach der zweiten Woche
Diese Woche stand im Zeichen der Begegnung. Ich habe unglaublich spannende Menschen kennengelernt, viele Inspirationen bekommen, meine beiden Vorträge und sogar eine Yogastunde überlebt. Nachdem ich vor Jahren schon einmal eine Teststunde in Berlin absolviert und für mich festgestellt habe, dass ich doch lieber bei meinem Step-Aerobic bleibe, hatte ich eigentlich gedacht, dass ich nie wieder einen Fuss in ein Yogastudio setze. Zur eigenen Sicherheit und zur Sicherheit derjenigen, die sich auf die Asanas konzentrieren wollen.
Aber ganz im Sinne dessen, was ich über „Neues wagen“ gelernt habe, fand ich mich schliesslich doch am Ende dieser Woche im Kulturpark Zürich und auf einer Yogamatte wieder. Man kann ja auch mal über seinen eigenen Mattenrand hinausblicken. Der Kurs hiess „Spiralyoga“, was mich schon allein vom Namen her etwas nervös machte. Die Frauen und Männer – alle 50 + – sowie die Kursleiterin hatten sehr viel Geduld mit mir. Auch als ich bei dem «Held» (Virabhadrasana) weniger heldenhaft von der Matte fiel. Zum Glück blieben mir die «Kobra» (Bhujangasana) und der Kopfstand (Shirshasana) erspart. Den «Sonnengruss» (Surya Namaskar) haben wir gemacht. Glaube ich zumindest. Vielleicht habe ich es auch nicht richtig mitbekommen, weil ich immer mal wieder zur Uhr schaute. Aber ich hatte ja noch etwas in dieser Woche gelernt: Am Ende wird immer alles gut.