Pogrom am 9. November 1938

Während des Pogroms, der sogenannten “Reichskristallnacht” werden auch in Charlottenburg und Wilmersdorf zahlreiche Synagogen, jüdische Geschäfte, Wohnungen und Schulen verwüstet, zerstört und geplündert. Die jüdische Bevölkerung wird verhöhnt, gedemütigt und geschlagen; viele von ihnen werden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.
Am 16. November schilderte der kolumbianische Botschafter in Berlin, Jaime Jaramillo Arango, der am Kurfürstendamm wohnte, dem Außenminister seines Landes, Luis López de Mesa, was er in der Nacht vom 9. zum 10.11.1938 erlebt hatte. Er berichtet, dass “eine Gruppe von Leuten, die mit Eisenstangen ausgerüstet war, alle großen Geschäfte, die sich in dieser Straße befanden, systematisch einschlug… Die Zerstörung war gegen israelitisches Eigentum gerichtet, und weil ich langsam und diskret mit meinem Auto fuhr, konnte ich beobachten, wie entlang dieser Straße diese barbarischen Handlungen durchgeführt wurden. Einige der Randalierer haben die Scheiben eingeschlagen, während andere eindrangen, um die dort vorhandenen Möbel zu zerstören und die Waren auf die Straße zu werfen, wo sie … plünderten. Hier und dort an den Ecken, geschützt durch die Dunkelheit, standen einige Autos, von denen Personen mit den schwarzen Uniformen der S.S. … Anordnungen gaben und die widerliche Verwüstung leiteten. das Spektakel, das die Hauptader Berlins zeigte, war wahrlich entsetzlich, die zerstörten Glasscheiben über den ganzen Bürgersteig verstreut, die Waren zerfetzt und im Innern der Kaufhäuser die Trümmer. So kam es, dass die Bevölkerung Berlins am nächsten Morgen der größten Demonstration von Vandalismus unserer modernen Zeiten beiwohnen musste.” (aus: Es brennt! Antijüdischer Terror im November 1938, Berlin 2008, S.123)
Der ungarische Geschäftsträger in Berlin, Gesandtschaftsrat Jenö Ghyczy, teilte seiner Regierung am 12. November 1938 mit: “Im Laufe des gestrigen Nachmittags und Abends zogen große neugierige Menschenmassen durch die Straße und betrachteten ernst und stumm den Schauplatz der Verwüstungen. Man hatte das Gefühl, dass sich hier ein ganzes Volk schämte.” (aus: Es brennt! Antijüdischer Terror im November 1938, Berlin 2008, S.126)

Erich Kästner, der von 1931 bis 1944 in der Roscherstraße 16 lebte und im Café Leon im Mendelsohn-Baukomplex am Lehniner Platz einen Stammplatz hatte, erlebte die Nacht vom 9. zum 10. November 1938 am Kurfürstendamm. Er hat darüber geschrieben:
“In jener Nacht fuhr ich, im Taxi auf dem Heimweg, den Tauentzien und Kurfürstendamm entlang. Auf beiden Straßenseiten standen Männer und schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas. Es waren SS-Leute, in schwarzen Breeches und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werke. Jedem schienen vier, fünf Häuserfronten zugeteilt. Sie hoben die Stangen, schlugen mehrmals zu und rückten dann zum nächsten Schaufenster vor. Passanten waren nicht zu sehen. (Erst später, hörte ich am folgenden Tag, seien Barfrauen, Nachtkellner und Straßenmädchen aufgetaucht und hätten die Auslagen geplündert.)
Dreimal ließ ich das Taxi halten. Dreimal wollte ich aussteigen. Dreimal trat ein Kriminalbeamter hinter einem der Bäume hervor und forderte mich energisch auf, im Auto zu bleiben und weiterzufahren. Dreimal erklärte ich, dass ich doch wohl aussteigen könne, wann ich wolle, und das erst recht, wenn sich aller Öffentlichkeit, gelinde ausgedrückt, Ungebührliches ereigne. Dreimal hieß es barsch: ‘Kriminalpolizei’! Dreimal wurde die Wagentür zugeschlagen. Dreimal fuhren wir weiter. Als ich zum vierten Mal halten wollte, weigerte sich der Chauffeuer. ‘Es hat keinen Zweck’, sagte er ‘und außerdem ist es Widerstand gegen die Staatsgewalt!’ Er bremste erste vor meiner Wohnung.” (aus: Erich Kästner: Notabene 45. Ein Tagebuch, Frankfurt/M 1983, S.140f)

vgl. auch
  • 09.11.2008 Rundfahrt zum 70. Jahrestag der Pogromnacht
  • 08.11.2008 Kiezspaziergang vom Joachimstaler Platz zum Stuttgarter Platz
  • 10.11.2007 Kiezspaziergang vom Adenauerplatz zum Sophie-Charlotte-Gymnasium
  • 11.11.2006 Kiezspaziergang vom Rathaus Wilmersdorf zum Berlin Plaza Hotel
  • 12.11.2005 Kiezspaziergang vom Stuttgarter Platz zum Kaiserdamm
  • 13.11.2004 Kiezspaziergang vom Roseneck zum KWA-Stift am Hohenzollerndamm
  • 08.11.2003 Kiezspaziergang durch die Villenkoloie Grunewald
  • 09.11.2002 Kiezspaziergang vom Roseneck zum Hagenplatz