Reichspogromnacht

Reichspogromnacht

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurden Synagogen, jüdische Friedhöfe, Geschäfte und Wohnhäuser in Brand gesteckt und demoliert. Tausende jüdische Mitmenschen wurden in dieser Nacht misshandelt, verhaftet oder ermordet.

Unmittelbar zuvor hatte es ein Attentat auf den Legationsrat der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan gegeben. Dies nahm die NS-Führung zum Anlass, massiv gegen die jüdische Bevölkerung im Land vorzugehen. Die gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden und deren Eigentum wurden durch eine Hetzrede Josef Goebbels im Rahmen der jährlichen Versammlung der NSDAP-Führerschaft am 9. November 1938 indirekt angewiesen. Der Novemberpogrom gilt als das offizielle Signal zum größten Völkermord in Europa.

Jedes Jahr am 9. November findet am Mahnmal der ehemaligen Synagoge in der Münchener Straße 38 in Schöneberg eine Gedenkveranstaltung statt, bei der den Opfern der Reichspogromnacht mit einer Kranzniederlegung und einer gemeinsamen Schweigeminute gedacht wird.

Kranzniederlegung

Bezirksbürgermeister Jörn Oltmann und Bezirksverordnetenvorsteher Stefan Böltes hatten am 9. November 2023 zum gemeinsamen Gedenken eingeladen. Rund 150 Personen folgten der Einladung.

Rabbiner Teichtal sprach den Psalm 121 aus der Thora und richtete Worte an die Teilnehmenden.

Superintendent Michael Raddatz (Ev. Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg) und Pfarrer Dr. Wieneke (Kath. Pfarrei St. Matthias Tempelhof-Schöneberg) sprachen jeweils ein Grußwort.

Musikalisch umrahmt wurde die Kranzniederlegung durch den Klarinettisten Nur Ben Shalom mit den Stücken „Shalom Alechem“, “Avinu Malkenu” und „Tefilah Shalom“.

Wir danken allen Teilnehmenden für Ihr Engagement und Ihr Mitgefühl!

Ein Mann spricht vor Publikum

Bezirksbürgermeister Jörn Oltmann vor dem Mahnmal der ehemaligen Synagoge

Die Rede von Bezirksbürgermeister Jörn Oltmann vom 9. November 2023

Lieber Bezirksverordnetenvorsteher Böltes,
lieber Rabbiner Teichtal,
lieber Superintendent Michael Raddatz, (ev. Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg)
lieber Pfarrer Dr. Wieneke, (von der katholischen Pfarrei St. Matthias)
lieber Nur Ben Shalom,
verehrte Gäste.

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten in ganz Deutschland die Synagogen. Es war einer der dunkelsten Tage in der deutschen Geschichte.
Gebetsstuben wurden zerstört, jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert und verwüstet.
Der US-Amerikanische Journalist Otto David Tolischus schrieb am Freitag, dem 11. November 1938 in der New York Times:
„Die Zerstörungen, Plünderungen und Brandstiftungen begannen systematisch in den frühen Morgenstunden in fast allen Städten des Landes und dauerten den ganzen Tag über an. Riesige, aber meist schweigende Menschenmengen sahen zu. Die Polizei beschränkte sich darauf, den Verkehr zu regeln und Juden “zu ihrem eigenen Schutz” in großem Stil zu verhaften.“
Jüdinnen und Juden wurden misshandelt, in Konzentrationslager verschleppt und getötet. Dies alles geschah vor aller Augen und auf staatliche Anordnung des nationalsozialistischen Regimes. Es gab wenig Widerstand.
An diesem Tag – vor 85 Jahren – begann der menschenverachtende staatlich unterstützte Antisemitismus. Rassistische und antisemitische Politik beginnt immer mit rechts-populistischen Einordnungen.

Damals folgten Ausgrenzung, Abwertung, Unterdrückung, Entrechtung, Gewalt, Enteignungen, Deportationen und Ermordungen. Es muss unvorstellbar gewesen sein, was Menschen jüdischen Glaubens aushalten und ertragen mussten.
Die Pogrome waren der Auftakt der systematischen Verfolgung und auch industriellen Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden. Dieses schreckliche Alleinstellungsmerkmal des Holocaust darf niemals relativiert werden.
„Erinnern und nicht vergessen“ und ein „Nie wieder!“ ist für uns ein selbstverständliches Bekenntnis, so wie die Sicherheit und Existenz Israels bundesrepublikanische Staatsräson ist.
Für Israelis bedeutet „Nie wieder!“ aber vor allem einen wehrhaften Staat zu haben! Wer zum Beispiel einmal in unserer Partnerstadt Nahariya war, wird dies schnell erkennen. Junge Soldatinnen und Soldaten mit zum Teil schweren Gewehren gehörten mitunter zum alltäglichen Bild in den Straßen. „Nie wieder!“ bedeutet in diesem Zusammenhang auch nie wieder Opfer zu sein.
Es ist wie ein Wunder, dass es nach der Shoah wieder eine deutsch-jüdische Annäherung gab. Jüdinnen und Juden bereit waren, in unserem demokratischen Land wieder zu leben, zu arbeiten und ihre Kinder großzuziehen. Heute wird in Deutschland von der drittgrößten jüdischen Gemeinschaft in Europa gesprochen.
Hierfür wurde viel getan. Aussöhnung, Vertrauen und Freundschaften sind entstanden.
Wir in Tempelhof-Schöneberg stehen mit unseren jüdischen Freundinnen und Freunden hier in Berlin, aber natürlich auch in Israel, insbesondere in unserer israelischen Partnerstadt Nahariya fest zusammen. Nahariya liegt im Norden von Israel – nur knapp 10km von der Grenze zum Libanon entfernt. Uns verbindet eine intensive Städtepartnerschaft und Freundschaft mit den Menschen dort.
Uns gemeinsam für ein friedliches Morgen und die Gemeinschaft einzusetzen, war und ist für uns selbstverständlich.

Wie in den vergangenen Jahren, sind wir heute hier zum Gedenken an die Reichspogromnacht zusammengekommen.
Heute ist aber alles anders als in den letzten Jahren, denn das Gedenken findet unter dem Eindruck des menschenverachtenden Überfalls der terroristischen Hamas am 7. Oktober auf Israel statt.
Wir stehen immer noch unter Schock und sind entsetzt über die Ereignisse der letzten Wochen. Der terroristische Überfall hat ein unfassbar großes menschliches Leid ausgelöst, das weit über Israel hinausreicht.
Die Ermordung von unschuldigen Menschen reichte der Hamas dabei nicht. Die Mörder der Hamas demütigten ihre Opfer aufs Grausamste und stellen ihr Leid in den sozialen Medien zur Schau.
Sie haben Menschen aus Israel verschleppt, aus dem Land, das für alle Jüdinnen und Juden weltweit seit dem Holocaust als sicherer Zufluchts- und Heimatort gilt!
2007 hat sich die Hamas in kriegerischen Auseinandersetzungen gegen die Fatah im heutigen Gaza-Gebiet durchgesetzt. Die Fatah hat 1993 das Existenzrecht Israels anerkannt. Die Hamas dagegen will die militärische Beseitigung Israels.
Das Leid der palästinensischen Bevölkerung ist der Hamas dabei egal, sonst würden sie nicht wehrlose Menschen als Schutzschilde nehmen und sich feige an zivilen Orten verschanzen.
Wir trauern um die Opfer, hoffen auf die Befreiung der Geiseln und sind in Gedanken bei den Menschen in Israel und in Gaza.
Dabei gehören Mitgefühl und entschlossenes Handeln aber zusammen, sonst wird das Leid immer größer.

Wir haben in den vergangenen Wochen verschiedenste Reaktionen auch in Deutschland und auf den Straßen Berlins erleben müssen.
Vom Verteilen von Süßigkeiten aus Freude über den Überfall der Hamas auf Israel durch die mittlerweile verbotene Organisation „Samidoun“ bis hin zu antisemitischen und israelfeindlichen Aktionen bei Demonstrationen.
Dass in Deutschland israelische Fahnen verbrannt werden und Eingangstüren von Wohnungen jüdischer Bewohner_innen mit dem Davidstern zur Einschüchterung markiert werden, ist unerträglich.
Hierzu sage ich in aller Deutlichkeit:
Strafbare Handlungen werden in unserem demokratischen Land verfolgt und Antisemitismus wird gesellschaftlich sanktioniert. Der stellvertretende Kanzler Robert Habeck hat hierzu ein bemerkenswertes einordnendes Video veröffentlicht. Ich kann nur empfehlen sich dies anzuschauen.
Wir lassen uns nicht einschüchtern, sondern stehen gemeinsam an der Seite Israels und der jüdischen Bevölkerung in unserem Land.
Mitgefühl und entschlossenes Handeln sind mehr als nötig. Es geht uns alle an. Schauen und hören Sie deshalb nicht weg, wenn Menschen verunglimpft, bedroht oder verspottet werden!
Zeigen Sie Zivilcourage und stellen Sie sich an die Seite ihrer jüdischen Nachbarn und Freunde. Rufen Sie in bedrohlichen Lagen die Polizei!
Erheben Sie weiterhin Ihre Stimme für ein friedliches Miteinander in unserer Gesellschaft!
Denken wir alle an das kleine Zitat aus dem Bericht der New York Times vom 11.11.1938. „Nie wieder!“ bedeutet, dass wir alle wachsam sein müssen und niemand zusehen darf, wenn Menschen beschimpft, bedroht oder angegriffen werden.
Wir lassen es nicht zu, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder in Angst leben müssen.
Wir wollen in Gemeinschaft zusammenleben, gemeinsam Feste feiern und jüdischem Leben eine Heimstatt sein!
Uns rief vor wenigen Tagen eine Frau an und fragte, was tut der Bezirk, der Bezirksbürgermeister für die jüdischen Geschäfte im Bezirk? Ich fand diese Anteilnahme großartig.
Natürlich haben wir darauf nicht „Die Antwort“.
Wir machen schließlich keine Außenpolitik und keine Bundespolitik im Bezirk.
Ich kann Ihnen aber sagen, dass wir uns wie in der Vergangenheit weiterhin mit verschiedensten Aktionen für das friedliche Miteinander der Menschen einsetzen.
Mit dem von meiner Vorgängerin Angelika Schöttler ins Leben gerufene Bündnis gegen Antisemitismus bieten wir eine Möglichkeit für alle Menschen, sich zu engagieren.
So werden natürlich auch in diesem Jahr wieder Chanukkaleuchter im Bezirk und am Rathaus Schöneberg leuchten und die Botschaft vom Licht bringen. Wir brauchen viele Aktionen, um zu zeigen, das jüdische Leben in Berlin gehört zu uns – wir gehören zusammen!
Wir wenden uns gegen jedweden Antisemitismus, wo auch immer er auftritt.
„Nie wieder ist Jetzt!“ Das erfordert Mitgefühl und entschlossenes Handeln.

Ich freue mich sehr, dass auch heute wieder Rabbiner Yehuda Teichtal bei uns ist. Er hat vor wenigen Tagen eine bemerkenswerte Rede gehalten und gesagt, dass wir gerade jetzt Licht in der Dunkelheit brauchen.
Wir brauchen jetzt viel Kraft und die bekommen wir aus unserer gewachsenen Gemeinschaft!

(…)

Dank an alle, dass wir hier gemeinsam erinnern, mahnen und für das friedliche Morgen eintreten.