Liebe Frau Süsskind,
lieber Herr Bezirksverordnetenvorsteher Böltes,
lieber Herr Gül,
lieber Superintendent Michael Raddatz,
lieber Pfarrer Dr. Wieneke,
lieber Nur Ben Shalom,
vielen Dank, dass so viele Bezirksamtsmitglieder, Bezirksverordnete und Mitglieder des Abgeordnetenhauses unter uns sind, verehrte Gäste,
ich begrüße Sie zum Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht vom 9. November 1938. Wie einige von Ihnen wissen, gedenken wir jedes Jahr an die Ereignisse des 9. November 1938. In diesem Jahr haben wir mit Lala Süsskind, Nur Ben Shalom und Murat Gül einen erweiterten Kreis von Rednerinnen und Rednern um eines deutlich zu machen: Auch wenn sich eine schleichende Stimmung in der Gesellschaft breit macht, die wieder auf Ausgrenzung und Abwertung setzt, werden wir in der Mehrheit und Mitte der Gesellschaft uns nicht auseinandertreiben lassen!
Mehr denn je ist jetzt der Schulterschluss mit allen demokratischen Kräften gefragt, mehr denn je ist jetzt der Dialog wichtig, mehr denn je ist jetzt eine interreligiöse Verständigung wichtig, die das Gemeinsame sucht, die das Erinnern wertschätzt, auch wenn es schmerzhaft ist, um uns klar und deutlich vor Augen zu führen, dass Intoleranz, Abwertung und Ausgrenzung immer die ersten Merkmale sind, die auch in antisemitische und rechtspopulistische Tendenzen umschlagen können.
Die jüngsten gewalttätigen, antisemitisch motivierten Angriffe auf israelische Fußballfans in Amsterdam führen uns wieder vor Augen, dass zu oft die Grenzen überschritten worden sind, dass es leider viel zu oft zu antisemitischen Handlungen kommt. Hier müssen wir alle entschlossen dagegen aufbegehren.
Es ist und bleibt auch wichtig, dass wir alle gemeinsam erinnern und ein Zeichen der Solidarität gegen den erstarkenden Antisemitismus, Rassismus und die antidemokratischen Strömungen in unserem Land setzen. In einer Zeit, in der viele Menschen eigentlich guten Zugang zu Informationen haben, entscheiden sie sich unverständlicherweise für Hass. Dennoch ist und bleibt Aufklärung und Wissen ein wichtiger Bestandteil gelebter Erinnerungskultur.
Die vor vier Tagen 103 Jahre alt gewordene Holocaustüberlebende Margot Friedländer ist entsetzt, dass sie wieder einen erstarkenden Antisemitismus in Deutschland erleben muss. Sie mahnt uns zur Vorsicht! Sie mahnt uns mit den Worten „So hat das damals auch angefangen“ und fordert uns dazu auf „seid Menschen“. Dieser Appell einer Zeitzeugin und durch und durch beeindruckenden Persönlichkeit muss uns alle aufrütteln.
Verrohung und Hass haben immer mit Entmenschlichung zu tun. Zuerst entstehen die feigen Gedanken im Kopf, dann gehen sie in die Sprache über bis hin zur feigen Tat. Antisemitische Übergriffe werden mehr. Hier heißt es für uns, wachsam sein und das „Nie wieder“ zu leben!
Hitlers Judenhass war schon in „Mein Kampf“ beschrieben
Schon kurz nach der erfolgreichen Wahl der NSDAP und der Berufung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann in Deutschland der Entrechtungsprozess vieler Bevölkerungsgruppen, insbesondere jener, die die Nationalsozialisten als jüdisch eingestuft haben. Schon lange vor seiner politischen Machtübernahme hat Hitler seine Verachtung und seinen Hass für Jüdinnen und Juden mit entblößender Offenheit in dem zweibändigen Buch „Mein Kampf“ detailliert aufgeschrieben. In diesem oft unterschätzten Machwerk konnte jeder lesen, wie groß Hitlers Hass auf Menschen war, die aus seiner Sicht einer angeblich jüdischen Rasse angehörten. Das Buch „Mein Kampf“ wurde während der NS-Zeit jungvermählten Ehepaaren von den Standesämtern zur Hochzeit überreicht. Bis 1944 erreichte es eine Auflage von 10,9 Millionen Stück. Viele Menschen dachten damals fatalerweise „es wird schon nicht so schlimm“.
Der Entrechtungsprozess begann mit der Machtübernahme 1933
Sofort mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten begann der Entrechtungsprozess der jüdischen Bevölkerung. Es wurden unzählige Verordnungen erlassen, um sie zu Menschen zweiter Klasse zu degradieren. Am 15. September 1935 erließ Hitler die sogenannten Nürnberger Gesetze. Sie waren die rechtliche Grundlage für die Verfolgung der Jüdinnen und Juden. Antisemitismus war fortan nicht nur legal, sondern defacto staatlich verordnet. In der Folge haben bis 1938 über 100.000 jüdische Deutsche ihre Heimat verlassen. Das Flächendenkmal „Orte des Erinnerns“ hier im Bayerischen Viertel zeigt die die Entrechtung durch antijüdische Gesetze für die Menschen eindringlich. Gehen Sie immer einmal wieder mit ihren Kindern und Enkeln durch die Straßen und erzählen Sie aus der Historie, so sehr sie auch weht tut.
Reichspogromnacht
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten in ganz Deutschland die Synagogen. Gebetsstuben wurden zerstört, jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert und verwüstet. Jüdinnen und Juden wurden misshandelt, in Konzentrationslager verschleppt und getötet. Dies alles geschah vor aller Augen und auf staatliche Anordnung des nationalsozialistischen Regimes. Es gab wenig Widerstand.
Zynischerweise mussten die Besitzer der zerstörten Geschäfte auf eigene Kosten „das Straßenbild“ wieder herstellen.
Reihen sich die Verbrechen der Reichspogromnacht auch in eine Kette von Verfolgungsmaßnahmen, so war sie in ihrer Systematik und Perfektion ein Novum, die in der systematischen Verfolgung und auch industriellen Ermordung der Jüdinnen und Juden in Deutschland und Europa endete.
Dieses schreckliche Alleinstellungsmerkmal des Holocaust darf niemals relativiert werden. Das Leid der Shoah darf nicht relativiert werden, weil es unvorstellbar war. Das Leid darf nicht vergessen werden.
Vertrauen und Versöhnung
Es ist wie ein Wunder, dass es nach der Shoah wieder eine deutsch-jüdische Annäherung gab. Dass Jüdinnen und Juden bereit waren, wieder ein Teil von uns zu werden, hier zu leben, zu arbeiten und ihre Kinder großzuziehen. Heute wird in Deutschland von der drittgrößten jüdischen Gemeinschaft in Europa gesprochen. Hierfür wurde viel getan. Aussöhnung, Vertrauen und Freundschaften sind entstanden. Freundschaften wie die mit unserer israelischen Partnerstadt Nahariya. Wir haben dort Freundinnen und Freunde gefunden, an die wir in der aktuellen Lage ängstlich denken und uns fragen „Was passiert morgen?“.
„Nie wieder ist jetzt“
Als wir uns vor einem Jahr hier am Gedenkstein für die ehemalige Synagoge in der Münchener Straße trafen, standen wir noch unter dem Schock des terroristischen Überfalls der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Es war der schlimmste Pogrom an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust. Mehr als 1.200 Menschen wurden von der terroristischen Hamas ermordet und 239 Menschen wurden als Geiseln in den Gazastreifen entführt. Die Geiseln wurden gequält, zur Schau gestellt und ermordet.
Heute, über ein Jahr nach dem terroristischen Überfall, sind immer noch 101 Geiseln in der Hand der Hamas. Die Hoffnung ihrer Freunde und Verwandten sie lebend wiederzusehen schrumpft jeden Tag.
In den Wochen darauf hat Israel von seinem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch gemacht und die Mehrheit der Welt stand hinter dieser Entscheidung. Deutschland hat sich an die Seite Israels gestellt und tut dies weiterhin. Denn so klar wie sich die Bundesrepublik Deutschland für eine Erinnerungskultur und „Nie wieder ist jetzt!“ einsetzt, so klar ist die Sicherheit und das Existenzrecht Israels für uns gelebte Staatsräson.
Die Situation im Nahen Osten ist seit dem 7. Oktober 2023 enorm eskaliert. Israel wird – und das darf man nicht vergessen – massiv mit Raketen beschossen. Aktuell ist die Angst vor einem ausufernden kriegerischen Flächenbrand groß. Für die Menschen in Israel bedeutet das „Nie wieder!“ vor allem „Nie wieder Opfer sein!“. Dies wurde mir bei meinen Besuchen auch schon vor dem 7. Oktober 2023 deutlich, als ich die vielen jungen Menschen ganz selbstverständlich mit schweren Gewehren in den Straßen gesehen habe. Das Land zu verteidigen ist für die Menschen Selbstverständlichkeit. Ist Israel doch Heimat und sicherer Zufluchtsort für die Jüdinnen und Juden in der Welt.
Weltweit und auch in unserem Land hat die Kritik am massiven militärischen Vorgehen der israelischen Armee unter Ministerpräsident Netanjahu zugenommen. Denn im Kampf gegen die terroristische Hamas in Gaza und der Hisbollah im Libanon werden tagtäglich auch unschuldige Zivilisten getötet. Das Leid ist auf allen Seiten sehr groß.
Aktuell scheint der Konflikt unlösbar. Dennoch hoffen auch viele Israelis auf ein Ende der militärischen Maßnahmen und es regt sich Widerstand. Es gibt nicht die eine Meinung in Israel. Die kann es gar nicht geben, denn Israel ist ein demokratisches Land.
Aufgrund der Eskalationen werde ich oft gefragt: „Warum weht die israelische Fahne noch vor dem Rathaus Schöneberg?“ Die Antwort lautet: „Wir machen keine Außenpolitik, sondern zeigen unseren jüdischen Freundinnen und Freunden hier in Berlin und in unserer Partnerstadt, wir denken an Euch und stehen mit Euch fest zusammen – ihr seid nicht allein!“
Eines möchte ich sagen, Kritik an dem Ausmaß der Kampfhandlungen seitens des israelischen Militärs muss es geben dürfen, denn es sind zu viele zivile Opfer zu beklagen. Wenn man es klar anspricht und konkret benennt ist hier auch kein Antisemitismus versteckt, sondern Sorge.
Plakative und pauschale Behauptungen hingegen bergen oft Antisemitismus in sich. Wir lehnen jede Form von Antisemitismus ab, in welchem Gewand er auch daherkommt.
Gemeinsam gegen Antisemitismus und ein friedliches Morgen
Der erstarkende Antisemitismus ist Fakt! Deshalb erheben Sie unbedingt weiterhin Ihre Stimme für ein friedliches Miteinander in unserer Gesellschaft. Rufen Sie, wenn Eskalation droht, die Polizei! Lassen wir es gemeinsam nicht zu, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder in Angst leben müssen. Wir wollen in Gemeinschaft zusammenleben, gemeinsam Feste feiern und jüdischem Leben eine Heimstatt sein!