Die Sybelstraße 12 war ein Haus, in dem jüdische Menschen Unterschlupf fanden, die anderswo ausziehen mussten. Am 17.5.1939 lebten dort 27 Juden. Es gehörte dem Stadtrat a.D. Bernhard Guttmann, der im Nachbarhaus Nummer 13 wohnte. Von 1941 an war der Fleischermeister Hans Niesar aus Niederschönhausen neuer Eigentümer. Bei Scherbel waren außer dem Ehepaar Wachsner auch Cäcilie Weissenstein (geboren am 28. Mai 1881, deportiert am 14.12.1942 nach Auschwitz) und Erich Guttmann (geboren am 10. Februar 1901 in Hirschberg im Riesengebirge, deportiert am 12. März 1943 nach Auschwitz) untergekommen. In der Wohnung muss eine drangvolle Enge geherrscht haben. Dr. Fritz Scherbel war Verlagsbuchhändler. Ob er Jude war, ist ungewiss, aber wahrscheinlich. Jedenfalls stand er von 1941 an nicht mehr im Adressbuch, sein Name taucht allerdings in keiner Deportationsliste auf.
Ihre Vermögenserklärungen mussten Alfred und Paula Wachsner am 22.12.1941 abgeben. Auffällig ist, dass die Formulare teilweise mit Schreibmaschine, teilweise handschriftlich mit Füllfederhalter ausgefüllt waren. Auf die Frage nach Kindern schrieb Alfred Wachsner: „volljährig, im Ausland“ und mit der Hand dazu: „1 Kind (Gerhard) minderjährig, im Ausland“. Wiederum mit der Schreibmaschine: „Kinder jetzt ausgebürgert, daher jetzt ohne eigenes Vermögen.“ Paula Wachsner gab eine minimal abweichende Auskunft: „volljährig, sämtlich in Ausland“. Die Namen der Tochter Anneliese Wachsner (geboren 1920), die im November 1939 über den Balkan nach Israel auswanderte, und des Sohnes Günter Wachsner (geboren am 23. Mai 1921 in Berlin), der 1939 nach Neuseeland ging, taucht in diesem Zusammenhang nicht auf. Der jüngere Sohn Gerhard (geboren am 29. September 1924 in Berlin) wurde 1939 mit einem Kindertransport nach England gerettet und folgte 1948 nach Neuseeland.
Außer den Möbeln wurden in der Vermögenserklärung aufgelistet: 6 Gardinen, 1 Papierkorb, 2 Nachttischlampen, 1 Lexikon 10 Bände, div. einzelne Besteckteile, 1 Bademantel, ein Reisekoffer. Paula Wachsner gab zusätzlich an: 3 Handtaschen, 3 Wollkleider, 3 Nachthemden.
In einer anderen Handschrift, deren Urheber nicht erkennbar ist, waren die Kontostände bei der Deutschen Bank am Kurfürstendamm 162/164 genannt sowie eine Obligation der Gelsenkirchener Bergwerke zum Kurs von 104 % und zwei Versicherungen bei der Iduna. Er gab ein Gesamtvermögen von rund 2 400 Reichsmark an sowie in der Spalte „Schuldverpflichtungen“ zwei Gläubiger: Dr. Kurt Wachsner und Dr. Ernst Wachsner mit Adresse Sensburgallee 23 mit verschiedenen Summen, weitere Gläubiger benannte er in Budapest und in Chile.
In einem amtlichen Schätzblatt mit Datum vom 2.4.1942 hieß es: „Der entsiedelte Wachsner, Alfred, war Untermieter und bewohnte ein Zimmer mit eigenen Möbeln“, der Zustand sei „bewohnbar, ungezieferfrei“. Drei Beamte namens Hirthe, Koch, Nietz taxierten den Wert des Inventars auf auf 205,50 Reichsmark.
Die Deutsche Bank meldete dem Finanzamt am 16.3.1943 ein Guthaben von 576,14 RM und gab sich ahnungslos: „… jetzige Adresse nicht bekannt, … nehmen wir an, dass W abgeschoben ist“ – zwei Unterschriften. Das Oberfinanzpräsidium hielt am 27.2.1944 fest, dass Vermögenswerte „des außerhalb des Reichsgebiets abgeschobenen Alfred Wachsner … dem Reich verfallen“ seien – wiederum zwei Unterschriften. Am 30.6.1944 schrieb die Rechtsabteilung der Deutschen Bank: „Das Konto und das Depot des Kunden sind nunmehr glattgestellt, die Geschäftsverbindungen erloschen.“ Dieses Schreiben trug vier Unterschriften. Allein diese Vorgänge zeigen, wie viele Personen mit dem auf die Deportation folgenden Vermögensraub befasst waren. Auch die Iduna-Versicherung teilte der Vermögensverwertungsstelle im Februar und März 1944 eilfertig mit, welche Versicherungen die Wachsners hatten, diese Briefe trugen vier weitere Unterschriften.
Über den Verbleib von Martin und Margarete Gumpert, nachdem Tochter und Schwiegersohn überstürzt umziehen mussten, ist nichts bekannt. Jedenfalls waren sie getrennt, denn sonst wären sie wie sonst meistens üblich familienweise zusammen deportiert worden. Gumperts sind zunächst am 9. Juli 1942 vom Anhalter Bahnhof nach Theresienstadt deportiert und von dort am 19. September 1942 nach Treblinka weitertransportiert worden, wo sie umgebracht wurden.
Alfred und Paula Wachsner sind am 19. Januar 1942 mit etwa 1000 bei eisiger Kälte in gedeckten Güterwagen zusammengepferchten Menschen vom Bahnhof Grunewald nach Riga deportiert worden, der Zug kam dort am 23. Januar an. Wie der Sohn Gerhard/Gerald von Überlebenden des Ghettos Riga erfahren haben will, ist er am 5. Februar 1942 erschossen und in ein Massengrab im Wald von Bierniki geworfen worden. Die Mutter lebte noch zweieinhalb Jahre und wurde nach diesen Angaben am 13. August 1944 ermordet.
Günter Wachsner, der über 92jährig in Auckland (Neuseeland) lebt, hat eine Tochter Kirsten und einen Sohn John, die ebenfalls dort wohnen, und einen Sohn Mark, der Professor in Cambridge ist. Die Familie hat sich in Warner umbenannt. Gerhard (der sich später Gerald nannte) Wachsner hatte vier Kinder: einen Sohn Howard und eine Tochter Beth in Neuseeland, und zwei Töchter Lindsey und Suzanne in Australien. Er ist 2007 gestorben. Anneliese Wachsner hatte zwei Söhne und starb nach der Geburt des zweiten Kindes 1946 in Israel.
Quellen: Erinnerungen der Familie Warner (Auckland und London); Autobiografie von Gerald Warner; Akten im Brandenburgischen Landeshauptarchiv (Potsdam): Vermögenserklärungen, Briefwechsel, Schriftstücke von Behörden und Gerichten.
Text: Helmut Lölhöffel