HIER WOHNTE
EMMA RUTH
PLATZ
JG. 1920
FLUCHT 1933 HOLLAND
AB 1942 VERSTECKT
ÜBERLEBT
Ein Foto des aktualisierten Stolpersteins folgt.
Emma Ruth (genannt Emke) Platz kam am 29. Januar 1920 als erste Tochter des Ehepaares Dr. Alfred Platz und seiner Frau Anna (genannt Annie), geb. Gerzon, in Berlin zur Welt. Ihre Schwester Hanna wurde am 31. März 1922 geboren. Der Vater war ein angesehener Rechtsanwalt und Notar mit einer Kanzlei in Berlin-Mitte. Die Familie wohnte in der Reichsstraße 9. Die Mutter stammte aus der niederländischen Familie Gerzon, Besitzer der großen Modehauskette “Gebr. Gerzon Modemagazijnen” in Amsterdam – mit etlichen Filialen in den Niederlanden, in Niederländisch Indien und insgesamt um die 3000 Angestellten. Auch die königliche Familie gehörte zu den Kunden.
Im Sommer 1922 trennte sich Annie Platz von ihrem Mann, den sie 1918 geheiratet hatte, und zog mit den zweieinhalb Jahre bzw. vier Monate alten Töchtern und deren nichtjüdischer Gouvernante Elsbeth Maeder (1894-1993) nach Amsterdam zu ihrem verwitweten Vater Levie Lazarus (genannt Lion) Gerzon. Die Eheleute Platz ließen sich scheiden, blieben sich aber freundschaftlich verbunden. Annie arbeitete fortan im Unternehmen ihres Vaters.
1929 trafen zwei schwere Schicksalsschläge die beiden kleinen Mädchen. Der Großvater starb am 8. März, und im Juni kam ihre Mutter bei einem Flugzeugabsturz um. Ihr Vater Alfred Platz veranlasste die Gouvernante daraufhin, mit seinen beiden Töchtern zu ihm nach Berlin zurück zu kommen. So lebten sie ab Oktober 1929 wieder mit ihm zusammen in der Reichsstraße 9. Die Gouvernante Elsbeth Maeder führte den Haushalt. Aber auch diese Berliner Zeit sollte nur eine kurze Episode bleiben.
Bereits vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten ahnte Alfred Platz, dass schlimme Zeiten auf Deutschland und insbesondere auf Menschen jüdischen Glaubens zukommen würden. Nachdem die beiden Mädchen um Weihnachten 1930 in einem Eisstadion von einem Jugendlichen antisemitisch angepöbelt worden waren, entschied er, sie wieder nach Amsterdam zu schicken. Ab Anfang 1931 kamen sie zusammen mit Elsbeth Maeder, die die engste Beziehungsperson und die einzige Kontinuität im Leben der Mädchen war, bei der Familie der älteren Schwester ihrer Mutter, Sara Erna Reens, geb. Gerzon, unter. Dort besuchte der Vater sie regelmäßig. Nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, floh Alfred Platz 1933 ebenfalls nach Amsterdam und wohnte fortan mit seinen Töchtern und der Gouvernante in einer eigenen Wohnung. Bis zur Besetzung der Niederlande durch die Deutsche Wehrmacht am 10. Mai 1940 hatten sie dort eine gute Zeit.
Wochenden und Ferien verbrachten die Mädchen in einem Landhaus in Laren, das den Hamburgers gehörte – der Familie von Annies jüngerer Schwester Clara Bertha Gerzon. Bei ihren vielen sportlichen Aktivitäten lernten sie die christliche Familie Ties und Agatha Kruize kennen. Ties Kruize (1893-1952) war Immobilienmakler, seine Frau Agatha Johanna geb. Wegerif (1893-1965) Hausfrau. Sie hatten vier Kinder mit denen Hanna und Emke sich eng befreundeten. Die Kruizes wohnten in Blaricum, einem Nachbarort von Laren in der Provinz Nordholland, und Emma und Hanna waren oft bei ihnen zu Gast und umgekehrt.
Die Tage nach dem Angriff der Deutschen Wehrmacht auf die Niederlande am 10. Mai 1940 verbrachten Emma, Hanna und Elsbeth in Amsterdam im Bombenhagel und in ständiger Angst, ob sie die nächsten Stunden und Tage überleben würden. Der Vater Alfred Platz befand sich zu diesem Zeitpunkt aus beruflichen Gründen in Frankreich. Die Familien Gerzon waren aus Amsterdam geflohen und erreichten später die USA. Elsbeth Maeder trug also allein die Verantwortung für die Mädchen, ohne jedoch in irgendeiner Weise formal entscheidungsberechtigt zu sein. Ihre materielle Situation wurde zunehmend prekär. Ties Kruize war klar, dass die beiden Mädchen über die Bombardierungen hinaus als Jüdinnen in höchste Gefahr kommen würden, und war immer zur Stelle, um zu helfen wo und wie es nur ging. Er versuchte, sie nach England zu schicken – ohne Erfolg – und bot sein Haus in Blaricum als Versteck im Notfall an.
Nach und nach wurden der niederländischen Verwaltung nationalsozialistische Gesetze aufgezwungen. Trotz allem konnte Emke bis zur Enteignung des Unternehmens der Gerzons im Frühjahr 1941 noch dort arbeiten. Hanna wurde von den Gebühren für die Privatschule befreit und konnte erfolgreich ihr Abitur machen. Ab Januar 1941 mussten sich alle jüdischen Menschen registrieren lassen und den “gelben Stern” tragen. Erste Verhaftungswellen und Deportationen folgten. Proteste der niederländischen Bevölkerung wurden brutal niedergeschlagen.
Im April 1942 wurde die Wohnung von Elsbeth, Emma und Hanna von der Polizei durchsucht mit dem Ziel, Alfred Platz zu finden und zu verhaften. Da die drei Frauen vorher gewarnt worden waren, hatten sie Papiere verbrannt und einige Wertsachen bei Freunden versteckt. Elsbeth hatte erreicht, dass die Wohnung samt Inventar als ihr Eigentum registriert worden war. Zudem hatte sie sich unter Druck dem Deutschen Roten Kreuz angeschlossen und Geld gesammelt. Dafür hatte sie eine Ausgabe von Hitlers “Mein Kampf” mit persönlichen Dankesworten erhalten. All dies zeigte sie den Polizisten vor und drohte wütend, sich als deutsche nichtjüdische Staatsbürgerin bei Vorgesetzten über die Männer zu beschweren. Das wirkte – zumindest für eine gewisse Zeit.
Im Juni 1942 wurden Emke und Hanna aufgefordert, sich beim zentralen Emigrationsbüro registrieren zu lassen. Während der Befragung u.a. über den Aufenthalt ihres Vaters, seine Bankkonten und Finanzen, die sie mit Unwissen beantworteten, wurden sie angeschrien und bedroht. Hanna fragte schließlich wütend den Verhörenden, ob er seinen Kindern solche Informationen gebe. Der war so überrascht, dass er die jungen Frauen gehen ließ. Elsbeth beschloss, sie zu anderen Verwandten ihrer verstorbenen Mutter Annie zu schicken, blieb aber selbst in der Wohnung in Amsterdam. Die Gefahr für Emke und Hanna wurde dramatisch. Am 12. Juli 1942 holte ein im Widerstand aktiver Freund sie ab und brachte sie zum Zug nach Blaricum – nicht ohne genaueste Anweisungen für “unverdächtiges” Verhalten gegeben zu haben. Den gelben Stern hatten sie von ihrer Kleidung entfernt.
Getrennt voneinander erreichten die beiden Mädchen das Haus der Familie Kruize, wo sie von diesem Tag an bis Kriegsende in einem von außen nicht einsehbaren Dachboden versteckt wurden. Sobald niemand außer der Familie Kruize anwesend war, konnten sie sich im Haus frei bewegen und nützlich machen. Nur nachts war es ihnen erlaubt, im Garten ein wenig frische Luft zu schnappen. Sie bekamen falsche Identitäten als angebliche Verwandte der Kruizes, die sie durch intensives Training verinnerlichen mussten. Im Laufe der Jahre wurden auch die Lebensumstände der Kruizes – wie aller Niederländer – z. B. durch Lebensmittelrationierung – immer schwieriger. Der Garten wurde zum Gemüsegarten, und auch Hühner, Schweine und Schafe wurden zur Versorgung der Familie und ihrer illegalen Gäste gehalten. Schwarzmarktgeschäfte trugen dazu bei, das Nötigste zum Überleben zu organisieren. Hanna entwickelte die Fähigkeit, Unterschriften zu fälschen und konnte so Ties
Kruize bei seinen Widerstandsaktivitäten unterstützen.
Der Kontakt zu Elsbeth Maeder blieb erhalten, wurde aus Sicherheitsgründen aber auf ein Minimum reduziert. Elsbeth trug zum Unterhalt der Mädchen bei, indem sie u.a. die umfangreiche Bibliothek von Alfred Platz, Schmuck und andere Wertgegenstände verkaufte, die Wohnung vermietete und selbst zunächst zu entfernten Verwandten von Emke und Hanna zog. 1943 siedelte sie nach Laren über und wohnte in einem Cottage auf einem Grundstück, das die Deutschen requiriert hatten. Dort war sie als nichtjüdische Deutsche mehr oder weniger unverdächtig und engagierte sich ebenfalls im Widerstand.
Ties Kruize, der mit verschiedenen Widerstandsgruppen vernetzt war, und seine Frau Agatha gefährdeten durch die Aufnahme von Emke und Hanna Platz nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer vier Kinder Elsje, Sieke, Gerrit (genannt Ekkie) und Hendrik (genannt Roepie). Als Ekkie zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt werden sollte, musste auch er untertauchen und lebte bis Kriegsende in seinem Elternhaus im Versteck. Dasselbe Schicksal traf seinen Bruder Roepie 1944. Im Schlafzimmer der Kruizes gab es einen begehbaren Schrank, der zum Versteck umgebaut und mit einem großen Spiegel getarnt wurde. Bei einer Razzia wurde zwar weder dieses Versteck noch das von Emke und Hanna entdeckt, Ties Kruize aber verhaftet. Er kam nach einer Woche aufgrund außerordentlich geschickter Bemühungen seiner Frau wieder frei.
So lebten die Kruizes, Emke und Hanna Platz und weitere versteckte Menschen – u.a. ein amerikanischer Pilot, der den Abschuss seines Flugzeugs überlebt hatte – unter ständiger Bedrohung bis sie im Sommer 1944 wg. der Landung der Alliierten, der Befreiung von Paris und Brüssel und des Kriegsverlaufs an der Ostfront wieder ein wenig Hoffnung schöpfen konnten. Im September 1944 zog auch Elsbeth Maeder in das Haus der Kruizes ein und deklarierte es bei weiteren Razzien erfolgreich als “deutschen Haushalt”. Gleichzeitig wurde in einem Raum das “Headquarter” des regionalen Widerstandes eingerichtet mit heimlichen Telefonleitungen etc., in dem verschiedene Personen unterschiedlicher Nationalitäten arbeiteten.
Als die Alliierten am 5. Mai 1945 die Niederlande vollständig befreiten, hissten die vielen Bewohner des Hauses Kruize im Garten die niederländische Flagge und die der Allierten, wobei die jeweilige Nationalhymne gesungen wurde. Tage darauf zogen Elsbeth Maeder, Emke und Hanna Platz in das Cottage in Laren. Elsbeth war eine der ersten Personen, die die niederländische Staatsbürgerschaft bekam, während Emke und Hanna ihre ursprünglichen deutschen Papiere, die im Garten vergraben waren, nicht wiederfanden. Wegen der guten Verbindungen von Ties Kruize und seiner Widerstandsgruppe wurde ihr Aufenthalt aber bald legalisiert. Sie lebten von Hilfslieferungen der Alliierten, insbesondere der Kanadier. Ihr Vater Alfred Platz in New York wurde vom Überleben seiner Töchter informiert. Er starb im Juni 1973 in New York.
Hanna Platz arbeitete ab August 1945 fünf Monate lang als Sekretärin und Dolmetscherin für die britische Rheinarmee und reiste im März 1946 in die USA zu ihrer Familie. Ab Juni 1946 war sie Mitarbeiterin des stv. Generalsekretärs der UN. Hanna Platz, verheiratete Roth, starb im Juni 1996 in der Schweiz.
Emke Platz war schon Ende 1945 zu ihrem Vater nach New York gezogen, aber Ekkie Kruize und sie hatten sich ineinander verliebt, sodass sie nach Holland zurückkehrte. Sie heirateten im November 1946. Emke Kruize-Platz starb am 23. März 2020 in Armonk, NY, USA.
Elsbeth Maeder lebte in den 1980er Jahren im Alter von 84 Jahren noch immer bei der Familie Platz in den USA. Sie starb am 5. Oktober 1993 – drei Tage nach ihrem 99sten Geburtstag – in Cary, NC, USA.
Ties Kruize starb – als Widerständler hoch dekoriert – im März 1952, seine Frau Agatha im Juni 1965. Sie wurden posthum für die Rettung von Emke und Hanna Platz am 22. Februar 1989 von der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem als “Gerechte unter den Völkern” anerkannt und geehrt.
Biografische Zusammenstellung: Gisela Morel-Tiemann auf der Basis der Informationen von Saskia Broekema, NL und des Lebensberichtes von Hannah Platz
Quellen: