Ab der Jahrhundertwende besaß Oskar Hamburger ein großes Gasthaus in Friedenshütte/Beuthen (Nowy Bythom), bestehend aus Hotel, Restaurant und Schankwirtschaft. Außerdem hatte er in Bielschowitz (Bielszowice) eine Firma, die 1908 ins Handelsregister eingetragen wurde, wahrscheinlich ein landwirtschaftliches Handelsunternehmen.
Seine Tochter Ruth starb jung und unverheiratet am 19. September 1922.
Bald darauf zogen Oskar und Bertha Hamburger nach Berlin. Sie wohnten am Kurfürstendamm, Ecke Albrecht-Achilles-Straße. Auch ihre Söhne Erwin und Günther, die beide kaufmännisch tätig waren, zogen nach Berlin. Günther hatte zuvor Jura studiert.
Erwin blieb unverheiratet.
Günther, der in der Hardenbergstraße 10 lebte, lernte 1936 oder 1937 in einem jüdischen Bridgeclub die junge Witwe des Stummfilmstars Erwin Reicher kennen, Susanne Reicher geborene Fehl (* 07.09.1909). Susannes Mutter, Kamilla Fehl geborene Sorger, unterhielt diesen Bridgeclub in der Waitzstraße in Charlottenburg, wo Mutter und Tochter auch lebten. Günther und Susanne verliebten sich und wurden ein Paar. 1939 kratzte die Familie genügend Geld zusammen, um die hochschwangere Susanne in Sicherheit zu bringen. Im Mai 1939 gelang ihr die Flucht nach Großbritannien. Die finanzielle Situation von Günther und Kamilla – und von Günthers Eltern Oskar und Bertha Hamburger – war zu diesem Zeitpunkt schon so desolat, dass sie keine weiteren Garantiesummen aufbringen konnten. Am 19. Juli 1939 bekam Susanne in Cricklewood/London einen Sohn und nannte ihn Peter.
Aus dem Jahr 1939 sind einige herzzerreißende Briefe und Postkarten von Günther Hamburger in Berlin an Susanne Reicher in London erhalten geblieben, deren Abschriften in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme verwahrt werden. Das auseinandergerissene Paar war verzweifelt; aber Günther versuchte mit seinem „nie versiegendem Optimismus“, wie er schrieb, immer weiter, einen Fluchtweg zu finden: für sich, für Susannes Mutter und für seinen Vater Oskar Hamburger; seine Mutter Bertha war zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich bereits verstorben. Günther träumte von den Vereinigten Staaten, wohin er „Susele“ und „Peterchen“ nachholen wollte, von Lateinamerika und natürlich von Großbritannien – alle seine Hoffnungen wurden enttäuscht. Nach 1939 sind keine weiteren Briefe erhalten.
Nach dem Tod seiner Frau Bertha heiratete Oskar Hamburger ein zweites Mal, die dreißig Jahre jüngere Berlinerin Elvira Cronheim (* 23.01.1903). Spätestens ab 1941 wohnte er mit ihr und ihrem verwitweten Vater Max Cronheim in einer kleinen Parterrewohnung in der Hektorstraße 20, wahrscheinlich zur Untermiete; alle jüdischen Familien waren zu diesem Zeitpunkt völlig verarmt. Oskars junge Frau Elvira musste Zwangsarbeit verrichten. Ihr Vater Max Cronheim wurde im August 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Oskar und Elvira wollten die Deportation nicht abwarten. Wahrscheinlich nahmen sie gemeinsam am ersten Tag des Jahres 1943 eine Überdosis Schlaftabletten ein. Sie wurden noch ins jüdische Krankenhaus eingeliefert, wo sie starben – Oskar Hamburger am 2. Januar und Elvira Hamburger am 3. Januar 1943. Oskar wurde 69 Jahre alt, seine zweite Frau 39. Sie sind auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee beigesetzt.
Oskars Sohn Günther wurde festgenommen und in Plötzensee inhaftiert, dann ins KZ Neuengamme verschleppt, wo er als Tiefbauarbeiter schwerste Zwangsarbeit verrichten musste. Im Sommer 1942 wurde er, weil man ihn wohl als nicht mehr arbeitsfähig eingestuft hatte, in die Tötungsanstalt Bernburg überstellt, wo man ihn am 17. Juni 1942 ermordete. Günther Hamburger hat seine Susanne nie wiedergesehen und seinen Sohn Peter nie kennengelernt. Er wurde 39 Jahre alt.
Susannes Mutter Kamilla Fehl war bereits im Oktober 1941 von Berlin ins Ghetto Łódź deportiert worden. Ihr Todesdatum ist unbekannt. Susannes Vater Ernst, der von ihrer Mutter getrennt war und in Wien lebte, wurde 1941 deportiert und wahrscheinlich in Auschwitz ermordet.
Auch Oskar Hamburgers älterem Sohn Erwin war es nicht gelungen, zu emigrieren. Der Junggeselle, der in der Dahlmannstraße 1 in einem möblierten Zimmer wohnte, verrichtete in den 1940er-Jahren Zwangsarbeit in Reinickendorf, wohl in der Rüstungsindustrie. Im September 1942 wurde er nach Estland verschleppt, das zu diesem Zeitpunkt deutsch besetzt war. Wahrscheinlich wurde er im Hinterland des Bahnhofs Raasiku erschossen. Sein Todesdatum ist unbekannt.
Susanne Reicher blieb in Großbritannien, wo sie später wieder heiratete. Sie starb 2001. Von ihrer Vergangenheit hat sie nie erzählt.
Günther Hamburgers Sohn – Oskar Hamburgers Enkel – Peter Hartley lebt ebenfalls in Großbritannien. Er ist seit 56 Jahren verheiratet und hat mit seiner Frau Catherine drei Kinder und fünf Enkelkinder.
Text und Recherche: Christine Wunnicke (2024), mit Dank an Gundula Meiering und Peter Hartley
Quellen:
Yad Vashem
Gedenkbuch
Berliner Adressbücher
„Der oberschlesische Wanderer“ 1905 ff
Amtliche Urkunden über MyHeritage und Ancestry
Vermögenserklärungen
Deportationslisten
Transkript der Korrespondenz von Günther Hamburger in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Persönliche Auskunft von Oskar Hamburgers Enkelsohn Peter Hartley