Stolpersteine Wilhelmsaue 136

Wilhelmsaue 136, 13.3.2013

Wilhelmsaue 136, 13.3.2013

Die Stolpersteine für Dr. Hilde und Dr. Sally Davidsohn, Erna und Dagobert Marchand, Jettel Rosner, Helene Toczek, Erich Hamel, Gertrud Klang wurden am 29.11.2005 verlegt.

Die Stolpersteine von Max, Charlotte und Blanka Schlesinger, Jette (Jettka) Rosner, Elsbeth und Alice Pasch, Berta Hess wurden am 30.07.2005 verlegt.

Die Stolpersteine für Gerhard und Dora Liebmann wurden am 4.6.2021 verlegt und von ihrer Tochter, Marian Liebmann, gespendet.

Stolperstein für Dr. Hilde Davidsohn

Stolperstein für Dr. Hilde Davidsohn

HIER WOHNTE
DR. HILDE
DAVIDSOHN
JG. 1911
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Hilde Davidsohn verbrachte ihre Kindheit in Breslau, der Hauptstadt der Provinz Schlesien (heute Wrocław/Polen). Sie kam dort am 6. August 1911 als Tochter des Rechtsanwalts Dr. (Franz) Sally Davidsohn (1874–1942) und der Herta Davidsohn, geb. Jacoby (1889–1975) auf die Welt. Ihr Vater stammte aus Inowrazlaw in der Provinz Posen , ihre Mutter aus Insterburg in Ostpreußen . Die Eltern hatten 1910 in Berlin geheiratet. Hilde Davidsohn hatte eine jüngere Schwester, Ursula, die am 24. Juni 1914 in Breslau geboren wurde. Die Familie wohnte lange Zeit in der Hohenzollernstraße – nach den alten Postkarten eine Straße mit repräsentativen bürgerlichen Mietshäusern. Die Kanzlei des Vaters lag am Ring 14, dem Zentrum der Stadt.
Im Jahr 1924 zog die Familie nach Berlin. Der Vater arbeitete weiterhin als Rechtsanwalt und Notar, seine Kanzlei befand sich in der Prinzenstraße. Im Berliner Adressbuch nannte er sich „Franz Sally“. Eltern und Töchter wohnten in einer großzügigen Wohnung in der Helmstedter Straße 9 im Bezirk Wilmersdorf. Hilde Davidsohn besuchte die Cecilienschule am Nikolsburger Platz, damals eine Höhere Mädchenschule.
1930 ließen sich die Eltern von Hilde Davidsohn scheiden. Ihre Mutter heiratete den Arzt Dr. Erich Klopstock. 1931 wurde Hilde Davidsohns Halbbruder Thomas Klopstock geboren, der von Geburt an behindert war und ab 1937 in einem Schweizer Heim leben sollte.
1933 zog der Vater in die Wilhelmsaue 136, im Berliner Adressbuch wird er nun als Rechtsanwalt a.D. notiert. In/mit der Familie lebte und arbeitete seit dem Frühjahr 1919 die Köchin und wohl auch Haushälterin Emma Achner. Sie war aus Schlesien mit nach Berlin gekommen und blieb nach der Scheidung bei Sally Davidsohn.
Hilde Davidsohn begann nach dem Abitur ein Medizinstudium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. 1936 bestand sie die ärztliche Prüfung. Da sie als Jüdin in Deutschland nicht promovieren konnte, ging sie in die Schweiz und promovierte 1937 in Bern. Ihre Dissertation behandelte ein Thema aus der Augenheilkunde.
Hilde Davidsohn, nun Dr. med., kehrte nach Berlin zurück. In den kommenden Jahren arbeitete sie am Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße. Sie begann als medizinische Praktikantin und wurde danach „Medizinische Hospitantin“, so etwas wie eine Assistenzärztin. Beides war unbesoldet, aber als Hospitantin hatte sie „freie Station“, konnte wenigstens im Krankenhaus umsonst wohnen und essen. Am 1. April 1940 bestand die junge Ärztin auch die staatliche Prüfung als Krankenpflegerin und damit die Erlaubnis, als Krankenschwester zu arbeiten. Ein Vierteljahr später zog sie wieder zu ihrem Vater in die Wilhelmsaue 136.
1942 musste die Köchin Emma Achner gehen, als „Arierin“ durfte sie nicht in einem jüdischen Haushalt arbeiten. Dennoch betreute sie Vater und Tochter weiter bis zu deren Deportation.
Sally Davidsohn wurde am 11. August 1942 nach Theresienstadt deportiert. Hilde Davidsohn wurde in die Zwangsarbeit gepresst und musste als Maschinenarbeiterin bei der Friedrich Butzke Metallschraubenfabrik in der Brandenburgstraße 75 arbeiten.
Am 3. März 1943 wurde Hilde Davidsohn mit dem „33. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sie hatte bis zuletzt im Haus Wilhelmsaue 136 gewohnt.
Ihr Vater wurde am 16. Mai 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz verschleppt und in dem Vernichtungslager ermordet. Ihre Mutter Herta Klopstock hatte mit ihrem zweiten Ehemann Berlin bereits im November 1935 verlassen und war nach zwei Jahren in Palästina 1937 über Frankreich in die USA gegangen. Ihr Ehemann Erich Klopstock starb 1953 in New York, sie selbst starb 1975 in den USA. Die Schwester Ursula, verheiratete Beer, überlebte in Großbritannien. Die Köchin Emma Achner wohnte Mitte der 1950er-Jahre, dem Zeitpunkt ihrer Aussage über das Leben der Familie Davidsohn, in der Wilhelmsaue 136.

Quellen:
Adressbuch für Breslau und Umgebung
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Dr. Sally Davidsohn

Stolperstein für Dr. Sally Davidsohn

HIER WOHNTE
DR. SALLY F.
DAVIDSOHN
JG. 1874
DEPORTIERT 1942
THERESINSTADT
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Sally (Franz Sally) Davidsohn stammte aus einer Familie von Kaufleuten, die ursprünglich in Inowrazlaw in der Provinz Posen lebte (seit 1904 Hohensalza, heute Inowrocław/Polen) und wohlhabend wurde. Am 18. Juli 1874 wurde er als Sohn des Kaufmanns Eduard Davidsohn (1822–1904) und dessen Frau Rosa (auch Selma genannt, 1832–1912), geb. Davidsohn, in Inowrazlaw geboren. Die Familie war groß, und die Mehrzahl seiner Geschwister war vor ihm auf die Welt gekommen. Die genaue Anzahl der Kinder bleibt unklar, es müssen ungefähr zehn gewesen sein: Simon (*1855), Daniel (*1857/58), Adele (*1864), Leo (*1866), Hedwig (*1869), Hulda (*1870), Eugen (*1872), Alfred (*1877) und Caecilie, die verheiratet in Danzig, Zoppot und Breslau lebte. Auch die anderen Schwestern sollten heiraten. Seine Brüder Leo und Simon blieben erst einmal in Inowrazlaw. 1895 besaßen sie große Firmen, Leo war Eigentümer einer Torfstreufabrik und einer Futtermittel- und Getreidefirma, Simon hatte eine Firma, die sich wahrscheinlich auf Fabrik und Handel spezialisierte, für landwirtschaftliche Maschinen.
Während seine Brüder Kaufleute wurden, besuchte Sally Davidsohn das Gymnasium und studierte in Freiburg und München Jura. Er promovierte 1900 in Erlangen, seine Dissertation erschien 1903 in Berlin mit dem Thema: „Das Begnadigungsrecht. Ein Beitrag zur Lehre von der Berechtigung, von dem Wesen und von den Erscheinungsformen der Gnade“. Die Dissertation ist in der HU Berlin in der Sammlung des liberalen Strafrechtlers Franz von Liszt zu finden. Nach dem Ersten Staatsexamen arbeitete Sally Davidsohn als Referendar am Königlichen Landgericht in Lissa/Posen, und nach Referendariat und Promotion ließ er sich in der schlesischen Provinzhauptstadt Breslau als Rechtsanwalt nieder. Seine Kanzlei war in der Junkernstraße, er wohnte als Junggeselle in der Viktoriastraße 100. Auch seine Eltern waren inzwischen nach Breslau gezogen, wo sein Vater 1904 starb.
Am 15. Oktober 1910 heiratete Sally Davidsohn in Berlin die am 21. Mai 1889 im ostpreußischen Insterburg geborene Herta Jacoby, Tochter des Kaufmanns Hermann Jacoby und dessen Ehefrau Clara, geb. Klopstock. Das Ehepaar blieb in Breslau und zog nach der Hochzeit in die Hohenzollernstraße 59. Am 6. August 1911 wurde Tochter Hilde und am 24. Juni 1914 die Tochter Ursula geboren. 1912 starb Sally Davidsohns Mutter Rosa , sie hatte zuletzt in der Opitzstraße 9 gewohnt. Sein Bruder Simon, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, lebte nun auch als Rentier in Breslau, er sollte dort 1920 sterben.
Sally Davidsohn und seine Familie wohnten lange Zeit in der Hohenzollernstraße nach den alten Postkarten eine Straße mit repräsentativen bürgerlichen Mietshäusern. Die Kanzlei lag am Ring 14, dem Zentrum der Stadt, eine „gute“ Adresse.
Zwanzig Jahre blieb Sally Davidsohn in Breslau, dann zog er im Jahr 1924 mit seiner Familie nach Berlin. Sein Bruder Leo lebte dort bereits. Sally Davidsohn arbeitete weiterhin als Rechtsanwalt und Notar, seine Kanzlei befand sich in der Prinzenstraße 26. Im Berliner Adressbuch nannte er sich nun „Franz Sally“. Eltern und Töchter wohnten in einer großzügigen Wohnung in der Helmstedter Straße 9 im Bezirk Wilmersdorf.
1930 ließen sich Sally Davidsohn und seine Ehefrau Herta scheiden. 1933 zog Sally Davidsohn in die Wilhelmsaue 136, im Berliner Adressbuch wird er nun als Rechtsanwalt a.D. notiert. In/mit der Familie lebte und arbeitete seit dem Frühjahr 1919 die Köchin und wohl auch Haushälterin Emma Achner. Sie war aus Schlesien mit nach Berlin gekommen und blieb nach der Scheidung bei Sally Davidsohn. Tochter Hilde Davidsohn begann nach dem Abitur ein Medizinstudium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. 1936 bestand sie die ärztliche Prüfung, 1937 promovierte sie in Bern. Als Frau Dr.med. kehrte sie nach Berlin zurück und arbeitete in den kommenden Jahren am Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße. Zuletzt wohnte Hilde Davidsohn im Krankenhaus, kehrte dann aber im Sommer 1940 zu ihrem Vater in die Wilhelmsaue 136 zurück. 1942 musste die Köchin Emma Achner gehen, als „Arierin“ durfte sie nicht in einem jüdischen Haushalt arbeiten – aber sie betreute Vater und Tochter weiter bis zu deren Deportation.
Sally Davidsohn wurde am 11. August 1942 mit dem „41. Alterstransport“ nach Theresienstadt deportiert. – Dort befand sich bereits sein Bruder Leo Davidsohn, der zuletzt in Berlin einen Großhandel für Futtermittel besessen hatte und als wohlhabender Mann am Kurfürstendamm 185 gewohnt hatte. Er war am 14. Juli 1942 in das Ghettolager deportiert worden und starb einen Tag nach der Ankunft von Sally Davidsohn. Zur gleichen Zeit war seine Schwester Adele, verwitwete Wurst, in Theresienstadt. Sie kam am 31. August 1942 aus Breslau und starb am 22. Februar 1943 im Lager. Die Geschwister wussten voneinander.
Am 16. Mai 1944 wurde Dr. Sally Davidsohn von Theresienstadt aus nach Auschwitz verschleppt und in dem Vernichtungslager ermordet.

Tochter Hilde Davidsohn war zuletzt Zwangsarbeiterin, sie wurde am 3. März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sie hatte bis zum Ende im Haus Wilhelmsaue 136 gewohnt. Sally Davidsohns geschiedene und neu verheiratete Ehefrau Herta Klopstock war mit ihrem zweiten Ehemann bereits im November 1935 emigriert. Tochter Ursula, verheiratete Beer, überlebte in Großbritannien. – Die Köchin Emma Achner wohnte noch Mitte der 1950er-Jahre, dem Zeitpunkt ihrer Aussage über das Leben der Familie Davidsohn, in der Wilhelmsaue 136. Für Leo Davidsohn ist 2014 ein Stolperstein vor dem Haus Kurfürstendamm 185 verlegt worden.

Quellen:
Adressbuch für Breslau und Umgebung
Adressbuch für die Stadt Inowrazlaw und die Kreise Inowrazlaw und Strelno
Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Reinhard Frommann und Helmut Lölhöffel, Biografischer Text zum Stolperstein für Leo Davidsohn
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
HUB Berlin Historische Sammlungen Franz von Liszt
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Erna Marchand

Stolperstein für Erna Marchand

HIER WOHNTE
ERNA MARCHAND
GEB. KASPER
JG. 1892
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Erna Marchand kam am 26. Juni 1892 als Tochter des Kaufmanns Daniel Kasper und der Johanna Kasper (geb. Cohn) im westpreußischen Ort Gorzno (heute Górzno/Polen) auf die Welt. Gorzno war/ist eine zwischen zwei Seen gelegene Kleinstadt im Kreis Strasburg (Bronica/Polen), die um 1890 ungefähr 1600 Einwohnerinnen und Einwohner hatte: Deutsche (meist Protestanten), Polen (meist Katholiken) und Juden, die meist Deutsch sprachen. Seit 1849 gab es eine Synagoge.
Ihr 1860 geborener Vater kam ursprünglich aus dem Kreis Stuhm (Sztum/Polen), ebenfalls in der damaligen Provinz Westpreußen, aber im Gegensatz zu Gorzno nach 1920 beim Deutschen Reich geblieben. Ihre Eltern hatten in Gorzno geheiratet.
Erna blieb – wie in der Heiratsurkunde vermerkt – „ohne Beruf“ und lebte bis zur Hochzeit in Gorzno. Das heißt auch, dass sie hier den Ersten Weltkrieg erlebte: Der Ort wurde bereits kurz nach Kriegsbeginn von der russischen Armee besetzt.
Am 23. Juli 1919 heiratete Erna Kasper in Berlin den 1886 geborenen Kaufmann Dagobert Marchand, dessen Mutter ebenfalls aus Gorzno stammte. Ihr Ehemann war in der Kleinstadt Wesel am Niederrhein als Sohn eines Viehhändlers und Metzgers aufgewachsen und hatte als „Handlungsgehilfe“ gearbeitet. Im Ersten Weltkrieg war er Soldat. Ihr Schwiegervater war bereits tot, aber die Schwiegermutter lebte noch als Witwe in Wesel. Die Mutter von Erna Marchand war 1919 bereits gestorben, ihr Vater lebte in Gorzno. Trauzeuge war der 1889/1890 geborene Artur Kasper, der wahscheinlich ihr Bruder gewesen ist und damals bereits in Berlin-Schöneberg wohnte und bis zu seinem Tod im Jahr 1930 in der Hauptstadt blieb. Seine Witwe Gertrud Kasper wurde am 2. März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Erna und Dagobert Marchand blieben ebenfalls in Berlin, wo sie beide noch andere Verwandte besaßen. Nach der Hochzeit zog das Ehepaar in die Berliner Straße 22 in Berlin-Wilmersdorf. Dort sollten sie bis zum Ende der Weimarer Republik wohnen. Die Ehe blieb kinderlos. Dagobert Marchand übernahm in dem Haus an der Ecke zur Nassauischen Straße ein Geschäft für „Manufakturwaren“, „Damenputz und -hüte“, „Damenkonfektion“ – die Bezeichnungen im Berliner Adressbuch wechselten im Laufe der Jahre. Wahrscheinlich hat Erna Marchand im Geschäft mitgearbeitet. Die Firma ging 1926 in Konkurs, aber das Ehepaar behielt seine Wohnung.
Erna Marchands Vater Daniel Kasper war 1920 – nachdem Gorzno polnisch geworden war – ebenfalls nach Berlin gekommen und lebte als Kaufmann im Bezirk Charlottenburg. 1931 starb er im Israelitischen Krankenheim in der Elsässer Straße 85 (heute Torstraße 146).
1932 zogen Erna Marchand und ihr Ehemann in eine 1930/31 gebaute Wohnanlage am Schoelerpark und an der Wilhelmsaue. Die Wohnungen waren relativ klein (anderthalb bis drei Zimmer), besaßen aber Balkone oder im Erdgeschoss verglaste Veranden. Die neue Anschrift war Schoelerpark 14. In der grünen Umgebung blieben sie bis 1939.
Danach wechselte das Ehepaar ein letztes Mal die Wohnung: Bis zur Deportation lebte es in der Wilhelmsaue 136. Die Wohnung im vierten Stock des ersten Hinterhofs teilten Erna und Dagobert Marchand mit Erich Hamel (1893–1943), einem Freund.
Erna Marchand war zuletzt Zwangsarbeiterin in der Firma von Georg Kappel, Berliner Straße 50, einem Kartoffelschälbetrieb – das bedeutete zu jener Zeit wahrscheinlich mühsame und schmutzige Handarbeit.
Am 3. März 1943 wurde Erna Marchand im Rahmen der „Fabrikaktion“ nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sie hatte über 20 Jahre in Berlin-Wilmersdorf gelebt. Mit demselben Transport wurde auch ihr Untermieter Erich Hamel in das Vernichtungslager verschleppt.
Ihr Ehemann Dagobert Marchand wurde zwei Wochen später, am 17. März 1943, – auch dies noch Teil der „Fabrikaktion“ – nach Theresienstadt deportiert: Dort verlor er am 21. April 1944 sein Leben.

Quellen:
Adressbuch von Wesel 1901
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Klaus Braun: Die jüdischen Bürger Hamminkelns. Zur Erinnerung an die Familie Marchand, dig.
derselbe; Hamminkeln Ruft Nr.13. Teil 2 ((Hamminkeln Ruft, Ausgabe Nr. 13 1990 – HV)V)
derselbe, Nachtrag zur Familie Marchand, in Hamminkeln Ruft, Nummer 32, Dezember 1998, dig.
Deutscher Reichsanzeiger/Staatsanzeiger 1926
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
http://www.berlingeschichte.de/Lexikon
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
https://www.juedische-friedhoefe.info/friedhoefe-nach-regionen/nordrhein-westfalen/niederrhein/die-friedhoefe/wesel/grabsteine-ostglacis.html
https://dewiki.de/Lexikon/Liste_der_Stolpersteine_im_K%C3%B6lner_Stadtteil_Bickendorf

Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Dagobert Marchand

Stolperstein für Dagobert Marchand

HIER WOHNTE
DAGOBERT
MARCHAND
JG. 1886
DEPORTIERT 1943
THERESIENSTADT
TOD 21.4.1944

Dagobert Marchand gehörte zu den Jüdinnen und Juden, die aus dem Westen Deutschlands nach Berlin gekommen waren: Er wurde am 10. September 1886 in Wesel, einer Kleinstadt am Niederrhein, geboren. Sein Vater Jakob Marchand (1856–1900) war Viehhändler und Metzger, geboren im nahen Hamminkeln. Er gehörte zu einer in Wesel und anderen Orten der Umgebung lebenden großen Familie mit dem wohl aus dem Französischen stammenden Namen „Marchand“ = merchant, der Händler. Seine Mutter Friederike Marchand war eine geborene Herz, Tochter einer Kaufmannsfamilie aus dem westpreußischen Gorzno (Górzno/Polen).
Die genaue Anzahl seiner Geschwister ist bis jetzt unbekannt. Sicher ist, dass es einen 1893 in Wesel geborenen Bruder Louis Marchand gab. Der Vater von Dagobert Marchand starb im Jahr 1900 in Wesel, sein Grab existiert noch auf dem neuen Jüdischen Friedhof „Am Ostglacis“.
Geschäft und/oder Wohnung der Eltern befanden sich zumindest zeitweise am Entenmarkt 17, einer Straße in der Altstadt von Wesel.
Dagobert Marchand war Handlungsgehilfe in seiner Heimatstadt , als er 1914 in den Ersten Weltkrieg zog. Er wurde bereits am 22. August 1914 in der „Grenzschlacht“ um Lothringen schwer verwundet, blieb aber als „Schreiber“ bei der Armee und kehrte mit dem „Verwundetenabzeichen“ aus dem Krieg zurück.
Am 23. Juli 1919 heiratete Dagobert Marchand in Berlin die 1892 geborene Erna Kasper aus Gorzno, dem Geburtsort seiner Mutter. (Diese lebte als Witwe in Wesel.) Dagobert Marchand blieb in Berlin. Hatte er zum Zeitpunkt seiner Hochzeit noch allein zur Untermiete in der Holsteinischen Straße in Wilmersdorf gewohnt, zog das Ehepaar 1919/1920 in die Berliner Straße 22 in Berlin-Wilmersdorf. Dort sollten Dagobert und Erna Marchand bis zum Ende der Weimarer Republik wohnen. Dagobert Marchand übernahm in dem Haus an der Ecke zur Nassauischen Straße das Geschäft von Carl Seitz und führte nun ein Geschäft für Manufakturwaren, Damenputz und -hüte, Damenkonfektion – die Bezeichnungen im Berliner Adressbuch wechselten im Laufe der Jahre. Das Geschäft ging 1926 in Konkurs, aber das Ehepaar behielt seine Wohnung. 1932 zogen Dagobert Marchand und seine Ehefrau in eine 1930/31 gebaute Wohnanlage am Schoelerpark und an der Wilhelmsaue. Die Wohnungen waren relativ klein (anderthalb bis drei Zimmer), besaßen aber Balkone oder im Erdgeschoss verglaste Veranden. Die neue Anschrift war Schoelerpark 14. In der grünen Umgebung blieben sie bis 1939.
Danach wechselten Dagobert und Erna Marchand ein letztes Mal die Wohnung: Bis zu ihrer Deportation lebten sie im vierten Stock des ersten Hinterhofs der Wilhelmsaue 136. Untermieter war der mit ihnen befreundete Erich Hamel (1893–1943).
Am 3. März 1943 wurden Erna Marchand und Erich Hamel im Rahmen der „Fabrikaktion“ nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Dagobert Marchand wurde zwei Wochen später, am 17. März 1943, – auch dies noch Teil der „Fabrikaktion“ – nach Theresienstadt verschleppt: Dort verlor er am 21. April 1944 sein Leben.

Sein Bruder Louis Marchand war am 20. Juli 1942 mit Ehefrau und zwei Kindern aus Köln, wo die Familie zuletzt gewohnt hatte, nach Minsk deportiert und im nahen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet worden. In Köln, Wesel und Hamminkeln erinnern unzählige Stolpersteine an die ermordeten Mitglieder der Familie Marchand.

Quellen:
Adressbuch von Wesel 1901
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Klaus Braun: Die jüdischen Bürger Hamminkelns. Zur Erinnerung an die Familie Marchand, dig.
derselbe; in Hamminkeln Ruft Nr.13. 1990. Teil 2 (Hamminkeln Ruft, Ausgabe Nr. 13 1990 – HV)V)
derselbe, Nachtrag zur Familie Marchand, in Hamminkeln Ruft, Nummer 32, Dezember 1998, dig.
Deutscher Reichsanzeiger/Staatsanzeiger 1926
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
http://www.berlingeschichte.de/Lexikon
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
https://www.juedische-friedhoefe.info/friedhoefe-nach-regionen/nordrhein-westfalen/niederrhein/die-friedhoefe/wesel/grabsteine-ostglacis.html
https://dewiki.de/Lexikon/Liste_der_Stolpersteine_im_K%C3%B6lner_Stadtteil_Bickendorf

Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Jettel Rosner

Stolperstein für Jettel Rosner

HIER WOHNTE
JETTEL ROSNER
JG. 1885
DEPORTIERT 1941
ERMORDET IN
RIGA

Jettel Rosner hieß eigentlich „Jettka“ – „Jettel“ ist ein Kosename, entstanden aus dem alten hebräischen Namen „Judith“. Im Folgenden soll sie „Jettka“ genannt werden – so findet sie sich auch in den Unterlagen.
Jettka Rosner kam am 28. Dezember 1885 als Tochter des Kaufmanns und Gastwirts Simon Rosner und seiner Ehefrau Auguste, geb. Ehrenhaus, im oberschlesischen Kattowitz (heute: Katowice/Polen) auf die Welt. Kattowitz, von 1871 bis 1921 zum Deutschen Reich gehörend, war (und ist) das Zentrum des oberschlesischen Industriereviers, eine Stadt der Bergwerke und Eisenhütten. Die 1862 gegründete jüdische Gemeinde war eine der großen schlesischen Gemeinden und besaß von Beginn an eine eigene Synagoge.

Die Anzahl der Geschwister von Jettka Rosner ist nicht bekannt. Für ihr Leben wichtig war ihr älterer Bruder Hugo (1872–1928), der um 1900 noch als Maurermeister in Kattowitz lebte, aber kurze Zeit danach nach Berlin ging. Die Familie wohnte lange Jahre im Haus Sedanstraße 10 (heute: Andrzej-Mielęckiego-Straße). Jettka Rosners Vater arbeitete zuletzt als Vertreter für Weine. Er wurde nicht alt und muss um 1906 gestorben sein. Nach seinem Tod blieb seine Witwe in der Sedanstraße und betrieb dort und später an anderer Stelle ein Milchgeschäft.

Jettka Rosner besuchte ein Lehrerinnenseminar und arbeitete dann als Mittelschullehrerin an der 1900 gegründeten Städtischen Mädchen-Mittelschule in Kattowitz. Die Schule wechselte mehrere Male die Adresse, sie war in der Mühlstraße, in der Friedrichstraße und kurz vor dem Ersten Weltkrieg in der Schulstraße. – Es gab noch eine andere Lehrerin in der Familie: die Privatlehrerin Rosa Rosner, die zeitweise auch im Haus der Familie in der Sedanstraße 10 wohnte.
In welchem Jahr Jetta Rosner nach Berlin zog (und wann ihre Mutter starb), ist unklar. 1921 fiel Kattowitz an Polen, und ihre Verwandte Martha Rosner blieb in Kattowitz, das nun Katowice hieß. Ihr Bruder Hugo lebte seit Jahren als Baumeister und/oder Architekt in Berlin. Er hatte 1907 in Berlin-Schöneberg die 1880 geborene Hedwig Beuthner, Tochter eines Hotelbesitzers aus Beuthen in Oberschlesien (Bytom/Polen), geheiratet. 1908 waren der Sohn Fritz Simon, 1912 die Tochter Ellen auf die Welt gekommen. Seit 1913 wohnte ihr Bruder mit seiner Familie in der ersten Etage des Hauses Wilhelmsaue 136 in Berlin-Wilmersdorf. Er starb 1928 im Jüdischen Krankenhaus, seine Witwe Hedwig lebte mit den Kindern weiterhin in der gemeinsamen Wohnung.
Jettka Rosners Nichte Ellen heiratete 1935 den Kaufmann Heinz Adler. Das Ehepaar wohnte wenige Jahre in Stettin (Szczecin/Polen) und zog dann in die Geburtsstadt von Ellen Adler zurück.
Der letzte „inländische Wohnsitz“ von Familie Adler war die Wohnung von Jetttka Rosners Schwägerin Hedwig in der Wilhelmsaue 136. Im Jahr 1938 emigrierten Hedwig Rosner und ihre Kinder mit Familie. (Die Familie Adler nannte sich später Adley – die 1912 geborene Nichte Ellen starb 2006 in Montreal/Kanada).
Jettka Rosner war im Mai 1939 die Hauptmieterin in der Wohnung Wilhelmsaue 136, und auch im Berliner Telefonbuch von 1940 ist sie als „Mittelschullehrerin“ mit dieser Anschrift notiert. So kann man wohl annehmen, dass sie bis dahin im Haushalt ihrer Schwägerin gelebt und nach deren Emigration die Wohnung übernommen hat. Zu den Untermieterinnen zählten 1941 die Schwestern Alice und Elsbeth Pasch, die im Juni 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden.
In Berlin arbeitete Jettka Rosner bis zum 31. August 1941 an der Mittelschule der Jüdischen Gemeinde. In den letzten Wochen vor der Deportation war sie nach ihrer eigenen Angabe in der „Vermögenserklärung“ als „Aufwärterin“, also als Putzfrau, beschäftigt.

Aber 27. November 1941 wurde Jettka Rosner nach Riga in Lettland verschleppt. Über 1000 Menschen wurden mit einem Sonderzug vom Bahnhof Grunewald nach Riga-Rumbula transportiert. Die Fahrt dauerte drei Tage. Alle Insassen des Zuges wurden gleich nach der Ankunft am Morgen des 30. November 1941 im Wald vom Rumbula erschossen.

Im Januar 1949 schrieb eine ehemalige Schülerin von Jettka Rosner, die es in die Nähe von Fulda verschlagen hatte, an den Suchdienst und bat um Auskunft über deren Schicksal. Damals konnte man ihr nicht helfen, es gab keine Spur ihrer Kattowitzer Lehrerin.

Quellen:
Adressbücher Kattowitz
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin 1929/30, 1931/32
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/

Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Helene Toczek

Stolperstein für Helene Toczek

HIER WOHNTE
HELENE TOCZEK
JG. 1884
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Helene Toczek kam am 4. Mai 1884 in Lublinitz, einem Ort am Rande des oberschlesischen Hütten- und Industriereviers (heute: Lubliniec/Polen), als Tochter des Brauereibesitzers Arnold Toczek und seiner Ehefrau Selma, geb. Friedenstein, auf die Welt. Sie war das zweite Kind ihrer Eltern, nach der 1882 geborenen Schwester Martha. Die beiden Schwestern sollten ledig bleiben und als „Töchter“ mit den Eltern und nach deren Tod als „Geschwister Toczek“ viele Jahre in einem gemeinsamen Haushalt leben – dies war damals nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war es eher, dass die beiden später einen der für Frauen neuen Büroberufe ergriffen.
In Lublinitz gab es seit 1821 eine Synagoge und seit 1845 (1855) einen jüdischen Friedhof. Zu den wenigen erhaltenen Grabsteinen gehört der eines Vorfahren von Helene Toczek. Ihre zahlreichen Verwandten lebten über Generationen in Oberschlesien oder waren von dort nach Breslau und Berlin gegangen. Auch ihre Eltern waren Oberschlesier, die Mutter stammte aus der Nähe von Kattowitz, der Vater aus Boronow (Boronów), einem Dorf im Landkreis Lublinitz.

Anfang Juli 1904 starb Helenes Mutter Selma Toczek nach langer Krankheit in der Berliner Wohnung ihres Bruders Daniel Friedenstein (1853–1920). Sie war in Berlin nur „auf der Durchreise“ gewesen, ihre Heimat mit Ehemann und Kindern war noch immer Lublinitz – aber sie wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee begraben.
Der erste Vorfahr von Helene Troczek war bereits Mitte des 19. Jahrhunderts aus Lublinitz nach Berlin gekommen, er hatte sich taufen lassen und seinen Vornamen geändert. Mehr als ein halbes Jahrhundert später finden sich im Berliner Adressbuch von 1908 die Schwestern Helene und Martha Toczek als „Frls.“ mit dem Beruf Verkäuferin. Sie wohnten in der ersten Etage des gerade fertig gebauten Hauses Chodowieckistraße 15 in Berlin-Prenzlauer Berg. Ein Jahr später lebte dort auch der verwitwete Vater, der sich zur Ruhe gesetzt hatte und nun der „Haushaltsvorstand“ war. Die Wohnung wurde wohl zu klein, und Vater und Töchter zogen in die Nähe der Spree, zuerst in die Lessingstraße 32 (ein nicht mehr existierendes Haus im heutigen Hansaviertel), dann in das Gartenhaus der Thomasiusstraße 11. Die Nachbarn – zumindest die Bewohner des Vorderhauses – waren nun andere, nicht mehr die Handwerker, kleinen Kaufleute, Briefträger und Schutzmänner der Chodwieckistraße, sondern auch Offiziere oder Künstler wie der Opernsänger Julius Lieban (1857–1940) in der Lessingstraße 32.
Der Vater starb bereits nach kurzer Zeit in der Thomasiusstraße. Im Adressbuch von 1912 ist Helenes Schwester Martha als „Buchhalterin“ die Hauptmieterin der Wohnung. In den folgenden Jahren wurden die beiden Schwestern in den Berliner Adressbüchern – wenn überhaupt – als Stenotypistinnen oder Korrespondentinnen notiert. Helene Toczek muss zumindest eine zeitlang bei der Metallgesellschaft AG Frankfurt/Main gearbeitet haben. Das 1881 gegründete Unternehmen für Rohstoffhandel und Bergbau besaß ein Büro im Berliner Bankenviertel.
Anfang der 1920er-Jahre zogen die Schwestern in den vierten Stock des Gartenhauses Bleibtreustraße 32 und wohnten dort fast zehn Jahre. – Zu den Bewohnern des Hauses gehörten später Max und Amalie Rychwalski, umgekommen in Theresienstadt, an die seit 2005 zwei Stolpersteine erinnern.
Um 1934 besaßen Helene Toczek und ihre Schwester ein letztes Mal und nur für sehr kurze Zeit eine gemeinsame Wohnung: Das Wohnhaus stand (und steht noch immer) in der Wilskistraße 49a am Rand der berühmten Waldsiedlung Zehlendorf, gebaut von der Gagfah (Gemeinnützige Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstätten).
Danach scheint Helene Toczek erst 1936 wieder Hauptmieterin einer Wohnung gewesen zu sein: Als Rentnerin wohnte sie nun allein in der Wilhelmsaue 136 und bezog eine Pension der Versorgungskasse der Beamten der Metallgesellschaft – eine „Betriebsrente“, würden wir heute sagen.
Die Wohnung war klein. Helene Toczeks Schwester Martha war psychisch krank geworden: Im Mai 1939 lebte sie bereits in den Wittenauer Heilstätten. Von dort kam sie am 9. Juli 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch und weiter noch in demselben Monat in die Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel. In der ehemaligen Strafanstalt, eine der sechs Tötungsanstalten der „Aktion T4“, wurde Martha Toczek mit Giftgas ermordet.

Helene Toczek lebte nach dem Tod ihrer Schwester noch fast drei Jahre in der Wilhelmsaue 136.
Am 4. März 1943 wurde sie mit dem „34. Osttransport“ nach Auschwitz verschleppt. Über 1100 Menschen kamen nach zwei Tagen in Auschwitz an. Von den Frauen wurden nur 96 zur Zwangsarbeit in das Lager selektiert – es werden die jungen und kräftigen Frauen gewesen sein. Die übrigen Frauen und Mädchen wurden sofort ermordet. Helene Toczek gehörte zu den Ermordeten.

Quellen:
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin 1929/30, 1931/32
Jüdisches Jahrbuch für Gross-Berlin 1926–1933
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
https://www.brandenburg-euthanasie-sbg.de/geschichte/toetungsanstalt/

Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Erich Hamel

Stolperstein für Erich Hamel

HIER WOHNTE
ERICH HAMEL
JG. 1893
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Erich Hamel kam am 11. Januar 1893 in Wollstein südwestlich von Posen (heute Wolsztyn/Polen) als Sohn von Benno Hamel (1850–1913) und dessen Ehefrau Eugenie, geb. Adler (1865–1935) auf die Welt. Dort gab es eine große jüdische Gemeinde. Sein Vater war Besitzer eines Hotels und Gasthofs. Die Familie Hamel, die sich bis 1911 „Hammel“ nannte, besaß in Wollstein schon lange Zeit ein Manufaktur- und Modewarengeschäft. Erich Hamel hatte drei Brüder (Herbert *1889, Fritz *1895 und Kurt) und vier Schwestern. Zwei der Schwestern wanderten in die USA aus. Zwischen den anderen Geschwistern sollte weiterhin ein enger Kontakt bestehen.
Die Familie kam bereits vor dem Ersten Weltkrieg nach Berlin. Im Berliner Adressbuch von 1910 findet sich Vater Benno Hamel als Kaufmann in der seit 1963 nicht mehr existierenden Marsiliusstraße 23 in Berlin-Mitte. Die Straße lag zwischen der Großen Frankfurter Straße, heute Karl-Marx-Allee, und der Blumenstraße. Nach der Erinnerung der Adoptivtochter von Erich Hamel eröffnete der Vater in Berlin eine Lesestube.
Ende Januar 1913 starb Vater Benno Hamel, und der Bruder Herbert wurde Hauptmieter der Wohnung. Die Mutter zog mit ihren ledigen Kindern nach Berlin-Wilmersdorf in eine große Wohnung in der Mainzer Straße 22, Ecke Weimarische Straße. Erich Hamel absolvierte eine kaufmännische Lehre bei dem bekannten Warenhaus Tietz, arbeitete aber später als Vertreter. 1914, gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs, meldete er sich freiwillig zur Armee. Ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz (EK II) und dem Verwundetenabzeichen kehrte er aus dem Krieg nach Berlin zurück. Dort wohnte er weiterhin bei seiner Mutter in der Mainzer Straße.
Am 18. Juli 1929 heiratete Erich Hamel die 1905 geborene Verkäuferin Wally Hildegard Kieper, die er schon einige Jahre gekannt hatte. Sie war die Tochter des Tischlermeisters Otto Kieper, war evangelisch und auch nach den später über Leben und Tod entscheidenen Rassengesetzen der Nationalsozialisten keine Jüdin. Hildegard Kieper lebte noch bei ihren Eltern in der Hauptstraße in Berlin-Schöneberg, sie brachte ihre kleine Tochter Ingrid mit in die Ehe.
1933 verlor Erich Hamel seinen Arbeitsplatz und musste in den folgenden Jahren von Gelegenheitsarbeiten leben. 1935 starb seine Mutter im Israelitischen Krankenheim der Gemeinde Adass Jisroel in der Elsässer Straße 85, heute Torstraße 146.
Nun meldete sich der leibliche Vater des Kindes, der dieses nicht mit einem Juden aufwachsen lassen wollte. 1936 ließen sich Erich und Hildegard Hamel daher scheiden, um die Tochter auf diesem Weg behalten zu können. Die Mutter lebte gemeinsam mit dem Kind, der Vater woanders – beide zur Untermiete, sodass sie in den Berliner Adressbüchern nicht notiert worden sind. Obwohl die Eltern andere Partner/innen hatten (Hildegard Hamel heiratete 1939 ein weiteres Mal) trafen sich die Eltern und das Kind weiterhin in der Wohnung der jüngsten Schwester Gertrud von Erich Hamel, die seit 1927 mit dem nichtjüdischen Alfred Hollstein verheiratet war. Auch nach der Scheidung und trotz unterschiedlicher Lebensweisen blieben die Familien Hamel und Kieper eng verbunden und boten sich gegenseitig Hilfe und „Schutzräume“.
Erich Hamel wurde schließlich zur Zwangsarbeit verpflichtet: Er musste als Kabelarbeiter bei der Firma Nicolaus & Co., Funktechnische Werkstätten in der Köpenicker Straße in Berlin-Kreuzberg arbeiten. Seine konkrete Tätigkeit bleibt unklar. Sie soll schwer und schmutzig gewesen sein.
Erich Hamel wohnte zuletzt zur Untermiete bei dem mit ihm befreundeten Ehepaar Dagobert und Erna Marchand im vierten Stock des ersten Hinterhofes des Hauses Wilhelmsaue 136. Das Ehepaar wurde ebenfalls deportiert und ermordet. Im Zusammenhang mit der „Fabrikaktion“ wurde er festgenommen und – wie andere in „Mischehen“ lebende Männer – in einem Gebäude der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße 2 inhaftiert. Dort war auch sein Bruder Kurt, der eine nichtjüdische Ehefrau hatte. Der Bruder kam nach dem öffentlichen Protest der nichtjüdischen Ehefrauen frei. Erich Hamel blieb und wurde am 3. März 1943 mit dem „33. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert. Dort kam er anfangs zur Arbeit nach Auschwitz-Monowitz – aber dies war nur ein Aufschub. Sein genaues Todesdatum ist unbekannt. Erich Hamel wurde 1943 in Auschwitz ermordet.

Ermordet wurden auch sein nach Belgien geflohener Bruder Herbert und sein Bruder Fritz, der mit der Schwester Sophie in das Ghetto von Lodz deportiert worden war. Sein Bruder Kurt und die Schwester Gertrud überlebten in Berlin, weil sie durch ihre nichtjüdischen Partner geschützt waren.

Quellen:
Adressbücher Wollstein
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
LABO Entschädigungsbehörde
Frauke Lammel: Stolpersteine in der Wilhelmsaue. Erich Hamel, in: Unsere Zeitung, aus der evangelischen Auenkirchengemeinde Berlin-Wilmersdorf, Januar 2007, S.6/7
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/

Informationen einer Enkeltochter, 8.4.2022
Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Charlotte Schlesinger

Stolperstein für Charlotte Schlesinger

HIER WOHNTE
CHARLOTTE
SCHLESINGER
JG. 1880
DEPORTIERT 1942
ERMORDET IN
RIGA

Charlotte Schlesinger, die mit ihrem zweiten Vornamen Jeanette hieß, kam am 1. Januar 1880 in Berlin auf die Welt. Sie war das zweite von vier Kindern des Kaufmanns Isidor Schlesinger (1843–1897) und seiner Ehefrau Flora (Florchen), geb. Wittkowsky (1850–1923): 1878 war ihr älterer Bruder Max auf die Welt gekommen, 1881 die jüngere Schwester Blanka und 1885 der Bruder Arthur. Charlotte Schlesinger und ihre Schwester Blanka blieben ledig, die beiden Brüder heirateten.
Die Geburtsorte der Eltern lagen an der Oder: Der Vater stammte aus Dyhernfurth, einem kleinen Ort in Schlesien nordwestlich von Breslau, die Mutter war in Stettin an der Odermündung auf die Welt gekommen. Die Eltern hatten 1877 in Berlin geheiratet.
1880, im Jahr der Geburt von Charlotte Schlesinger, wohnten die Eltern in der Köpenickerstraße, vorher hatten sie in der Ohmgasse (seit 1895 Ohmstraße) gewohnt. Mit der größer werdenden Familie zogen sie bis zur Jahrhundertwende immer wieder um und lebten mit ihren heranwachsenden Kindern in der Keibelstraße, der Landsberger Straße und der Wallner-Theater-Straße. Mit Ausnahme der Landsberger Straße in Berlin-Friedrichshain befanden sich die Wohnungen in Berlin-Mitte – das heißt in Alt-Berlin.
Der Vater von Charlotte Schlesinger war Kaufmann und besaß gemeinsam mit seinem Freund und Geschäftspartner Siegfried Jacob einen Großhandel für Baumwollwaren, die Firma „Jacob & Schlesinger“. Als Isidor Schlesinger 1897 in der Wallner-Theater-Straße 26/27 starb, hatten die beiden Unternehmer mehr als 20 Jahre gemeinsam gearbeitet. Im Berliner Tageblatt trauerten die Familie, der Kompagnon und die Beschäftigten der Firma um den relativ jung verstorbenen Isidor Schlesinger.
Charlotte Schlesingers verwitwete Mutter Flora blieb in Berlin-Mitte und zog mit ihren Kindern in die Kaiser-Wilhelm-Straße (heute Karl-Liebknecht-Straße und Rosa-Luxemburg-Straße). Wie so oft in jener Zeit, führten die beiden ledigen Töchter ein „unsichtbares Leben“, über Charlotte Schlesingers Schulbildung und weitere Ausbildung wissen wir nichts. Sie wohnte bei der Mutter, wie auch die noch unverheirateten Brüder. Als selbstständiger Kaufmann aber erschien ihr Bruder Max 1904 gemeinsam mit der Mutter im Berliner Adressbuch: Mutter und Sohn (und sicherlich auch die Töchter/Schwestern) lebten in der Lindenstraße 45 und blieben dort auch die folgenden Jahre. Bruder Max Schlesinger arbeitete als Berliner Vertreter verschiedener Firmen. Die Mutter besaß bereits 1902 eine Exportfirma und ein „Lager sämmtl. Gasglühlicht-Artikel und Neuheiten des Beleuchtungswesen“ in der Krausnickstraße 15. (Nachbar im Haus Nr. 14 war der bekannte orthodoxe Rabbiner Dr. Ezra Munk, 1867–1940). Auch Bruder Max handelte für kurze Zeit mit „Neuheiten des Beleuchtungswesens“ und verkaufte Glühstrümpfe, die Lichtquellen in den noch weit verbreiteten Gasleuchten und Petroleumlampen. – Es könnte sein, dass die beiden Töchter in dem Geschäft der Mutter gearbeitet haben, zumal die Schwester Blanka von Beruf Verkäuferin war.
Am 1. August 1914 begann der Erste Weltkrieg. Inzwischen lebten die Schlesingers in der Bambergerstraße 8 in Berlin-Wilmersdorf. Beide Brüder wurden Soldaten: Max Schlesinger meldete sich als Kriegsfreiwilliger, er kehrte bereits nach wenigen Wochen nach Berlin zurück. Arthur Schlesinger heiratete im ersten Kriegsjahr, er fiel am 24. März 1918 in Frankreich.
Am 15. November 1916 heiratete Max Schlesinger Martha Habeluschke (1880–1945), die als Packerin arbeitete. Sie war keine Jüdin. Nach dem Ende des Krieges gründete er eine Agentur für Textilwaren. 1937 wurde seine Firma liquidiert. 1923 starb die Mutter Flora Schlesinger.

Im Mai 1939 wohnten die Geschwister Schlesinger im Haus Wilhelmsaue 136 in Berlin-Wilmersdorf. Ob Max Schlesingers Ehefrau auch in der gemeinsamen Wohnung lebte, ist nicht ersichtlich. Am 1. Dezember 1939 ließen Max und Martha Schlesinger sich scheiden, Martha nahm 1940 ihren Mädchennamen Habeluschke wieder an. Sie kam am 3. Februar 1945 bei einem Luftangriff der US-amerikanischen Bomberverbände in Berlin-Kreuzberg ums Leben.

Am 19. Januar 1942 wurde Charlotte Schlesinger mit ihrer Schwester Blanka und ihrem Bruder Max nach Riga deportiert. Es waren über 1000 Menschen, die bei großer Kälte in Güterwagen vom Bahnhof Grunewald nach Osten verschleppt wurden. Der Zug erreichte Riga am 23. Januar 1942. Wer die Fahrt überlebt hatte, wurde in den nächsten Tagen erschossen. Es sind nur 19 Überlebende bekannt. Charlotte, Blanka und Max Schlesinger kehrten nicht zurück.

Quellen:
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Handelsregister 1921–1930
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin 1929/30, 1931/32
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
Berliner Tageblatt v. 19. März 1897

Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Blanka Schlesinger

Stolperstein für Blanka Schlesinger

HIER WOHNTE
BLANKA
SCHLESINGER
JG. 1881
DEPORTIERT 1942
ERMORDET IN
RIGA

Blanka Schlesinger kam am 1. Juli 1881 als Tochter des Kaufmanns Isidor Schlesinger (1843–1897) und seiner Ehefrau Flora (Florchen), geb. Wittkowsky (1850–1923) in Berlin auf die Welt. Sie hatte drei Geschwister: 1878 war ihr älterer Bruder Max auf die Welt gekommen, 1880 ihre Schwester Charlotte und 1885 ihr Bruder Arthur. – Charlotte Schlesinger und ihre Schwester Blanca blieben ledig, die beiden Brüder heirateten.
Die Geburtsorte der Eltern lagen an der Oder: Der Vater stammte aus Dyhernfurth, einem kleinen Ort in Schlesien nordwestlich von Breslau, die Mutter war in Stettin an der Odermündung auf die Welt gekommen. Die Eltern hatten 1877 in Berlin geheiratet.
1881, im Jahr der Geburt von Blanka Schlesinger, lebten die Eltern in der Keibelstraße in Berlin-Mitte, vorher hatten sie in der Ohmgasse (seit 1895 Ohmstraße) und in der Köpenickerstraße gewohnt. Mit der größer werdenden Familie zogen sie bis zur Jahrhundertwende immer wieder um und lebten mit ihren heranwachsenden Kindern auch in der Landsberger Straße und der Wallner-Theater-Straße. Mit Ausnahme der Landsberger Straße in Berlin-Friedrichshain befanden sich die Wohnungen in Berlin-Mitte – das heißt in Alt-Berlin.
Der Vater von Blanka Schlesinger war Kaufmann und besaß gemeinsam mit seinem Freund und Geschäftspartner Siegfried Jacob einen Großhandel für Baumwollwaren, die Firma „Jacob & Schlesinger“. Als Isidor Schlesinger 1897 in der Wallner-Theater-Straße 26/27 starb, hatten die beiden Unternehmer mehr als 20 Jahre gemeinsam gearbeitet. Im Berliner Tageblatt trauerten die Familie, der Kompagnon und die Beschäftigten der Firma um den relativ jung verstorbenen Isidor Schlesinger.
Die verwitwete Mutter blieb in Berlin-Mitte und zog mit ihren Kindern in die Kaiser-Wilhelm-Straße (heute Karl-Liebknecht-Straße und Rosa-Luxemburg-Straße). Wie so oft in jener Zeit, führten die beiden ledigen Töchter ein „unsichtbares Leben“, über Blanka Schlesingers Schulbildung wissen wir nichts, aber zu ihrem Beruf wurde später „Verkäuferin“ notiert.
Sie wohnte bei der Mutter, wie auch ihre Schwester und die noch unverheirateten Brüder. „Haushaltsvorstand“ war die Mutter. 1904 aber erschien ihr Bruder Max als selbstständiger Kaufmann gemeinsam mit der Mutter im Berliner Adressbuch: Mutter und Sohn (und sicherlich auch die Töchter/Schwestern) lebten in der Lindenstraße 45 und blieben dort auch die folgenden Jahre. Bruder Max Schlesinger arbeitete als Berliner Vertreter verschiedener Firmen. – Die Mutter besaß bereits 1902 eine Exportfirma und ein „Lager sämmtl. Gasglühlicht-Artikel und Neuheiten des Beleuchtungswesen“ in der Krausnickstraße 15. (Nachbar im Haus Nr. 14 war der bekannte orthodoxe Rabbiner Dr. Ezra Munk, 1867–1940). Auch Bruder Max handelte für kurze Zeit mit „Neuheiten des Beleuchtungswesens“ und verkaufte Glühstrümpfe, die Lichtquellen in den noch weit verbreiteten Gasleuchten und Petroleumlampen. Es könnte sein, dass die beiden Töchter im Geschäft der Mutter gearbeitet haben.
Am 1. August 1914 begann der Erste Weltkrieg. Inzwischen lebten die Schlesingers in der Bambergerstraße 8 in Berlin-Wilmersdorf. Beide Brüder wurden Soldaten: Max Schlesinger meldete sich als Kriegsfreiwilliger, er kehrte bereits nach wenigen Wochen nach Berlin zurück. Arthur Schlesinger heiratete im ersten Kriegsjahr, er fiel am 24. März 1918 in Frankreich.
Am 15. November 1916 heiratete Bruder Max Schlesinger Martha Habeluschke (1880–1945), die als Packerin arbeitete. Sie war keine Jüdin. Nach dem Ende des Krieges gründete Max Schlesinger eine Agentur für Textilwaren. (1937 wurde seine Firma liquidiert). 1923 starb die Mutter Flora Schlesinger in der gemeinsamen Wohnung am Prager Platz 1. Blanka Schlesinger meldete ihren Tod. Sie war zu diesem Zeitpunkt bereits im Besitz einer Invalidenkarte. Mehr ist nicht bekannt.

Im Mai 1939 wohnten die Geschwister Schlesinger im Haus Wilhelmsaue 136 in Berlin-Wilmersdorf. Ob Max Schlesingers Ehefrau auch in der gemeinsamen Wohnung lebte, ist nicht ersichtlich. Am 1. Dezember 1939 ließen Max und Martha Schlesinger sich scheiden, Martha nahm 1940 ihren Mädchennamen Habeluschke wieder an. (Sie kam am 3. Februar 1945 bei einem Luftangriff der US-amerikanischen Bomberverbände in Berlin-Kreuzberg ums Leben).

Am 19. Januar 1942 wurde Blanka Schlesinger mit ihrer Schwester Charlotte und ihrem Bruder Max nach Riga deportiert. Es waren über 1000 Menschen, die bei großer Kälte in Güterwagen vom Bahnhof Grunewald nach Osten verschleppt wurden. Der Zug erreichte Riga am 23. Januar 1942. Wer die Fahrt überlebt hatte, wurde in den nächsten Tagen erschossen. Es sind nur 19 Überlebende bekannt. Charlotte, Blanka und Max Schlesinger kehrten nicht zurück.

Quellen:
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Handelsregister 1921–1930
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin 1929/30, 1931/32
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
Berliner Tageblatt v. 19. März 1897

Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Max Schlesinger

Stolperstein für Max Schlesinger

HIER WOHNTE
MAX
SCHLESINGER
JG. 1878
DEPORTIERT 1942
ERMORDET IN
RIGA

Max Schlesinger kam am 18. April 1878 in Berlin auf die Welt. Die Geburtsorte seiner Eltern lagen an der Oder: Sein Vater Isidor Schlesinger (1843–1897) stammte aus Dyhernfurth, einem kleinen Ort in Schlesien nordwestlich von Breslau. Seine Mutter Flora (Florchen), geb. Wittkowsky (1850–1923) war in Stettin an der Odermündung auf die Welt gekommen. Die Eltern hatten 1877 in Berlin geheiratet und in den folgenden Jahren vier Kinder bekommen: Max Schlesinger war das älteste Kind, dann kamen 1880 Charlotte Jeanette, 1881 Blanka und 1885 der Sohn Arthur. – Die Schwestern blieben ledig, Max und sein Bruder Arthur heirateten.
1878, im Jahr der Geburt von Max Schlesinger, wohnten seine Eltern in der Ohmgasse (seit 1895 Ohmstraße) in Berlin-Mitte. Mit der größer werdenden Familie zogen sie bis zur Jahrhundertwende immer wieder um und lebten mit ihren heranwachsenden Kindern in der Köpenickerstraße, der Keibelstraße, der Landsberger Straße und der Wallner-Theater-Straße. Mit Ausnahme der Landsberger Straße in Berlin-Friedrichshain befanden sich die Wohnungen in Berlin-Mitte – das heißt in Alt-Berlin.
Der Vater von Max Schlesinger war Kaufmann und besaß gemeinsam mit seinem Freund und Geschäftspartner Siegfried Jacob einen Großhandel für Baumwollwaren, die Firma „Jacob & Schlesinger“. Als Isidor Schlesinger 1897 in der Wallner-Theater-Straße 26/27 starb, hatten die beiden Unternehmer mehr als 20 Jahre gemeinsam gearbeitet. Max Schlesingers verwitwete Mutter Flora blieb in Berlin-Mitte und zog mit ihren Kindern in die Kaiser-Wilhelm-Straße (heute Karl-Liebknecht-Straße und Rosa-Luxemburg-Straße).

Max Schlesinger war nun in dem Alter, in dem er berufstätig gewesen sein muss, aber über seine Schulbildung und weitere Ausbildung konnte nichts herausgefunden werden. Erst 1904 wird er, gemeinsam mit seiner Mutter, im Berliner Adressbuch aufgeführt: Mutter und Sohn wohnten in der Lindenstraße 45 und blieben dort auch die folgenden Jahre. Max Schlesinger betrieb eine „Agentur“, vertrat also verschiedene Firmen. – Seine Mutter besaß bereits 1902 eine Exportfirma und ein „Lager sämmtl. Gasglühlicht-Artikel und Neuheiten des Beleuchtungswesen“ in der Krausnickstraße 15. (Nachbar im Haus Nr. 14 war der bekannte orthodoxe Rabbiner Dr. Ezra Munk, 1867–1940). Auch Max Schlesinger handelte für kurze Zeit mit „Neuheiten des Beleuchtungswesens“ und verkaufte Glühstrümpfe, die Lichtquellen in den noch weit verbreiteten Gasleuchten und Petroleumlampen, in der Landsberger Straße 92.
Am 1. August 1914 begann der Erste Weltkrieg. Max Schlesinger meldete sich als Kriegsfreiwilliger und zog mit einer Sanitätskompanie in den Krieg. Inzwischen lebten die Schlesingers in der Bambergerstraße 8 in Berlin-Wilmersdorf. Bruder Arthur Schlesinger heiratete im ersten Kriegsjahr und wurde ebenfalls Soldat, er fiel am 24. März 1918 in Frankreich.
Max Schlesinger kehrte bereits nach wenigen Wochen nach Berlin zurück. Am 15. November 1916 heiratete er Martha Habeluschke (1880–1945), die als Packerin arbeitete. Sie war keine Jüdin, evangelisch getauft und wohnte in der Skalitzer Straße 46. Nach dem Ende des Krieges gründete Max Schlesinger eine Agentur für Textilwaren. Das Büro befand sich in der Poststraße 4 im Nikolaiviertel. Das aus dem 16. Jahrhundert stammende Gebäude wurde an die Firma Braunsberg & Co, Baumwollwaren, verkauft, die 1922 auf der Nr.4 und Nr.5 ein großes Geschäftshaus errichtete. Max Schlesinger behielt dort seine „Agentur und Kommission in Textilwaren“ bis in die 1930er-Jahre. – 1937 wurde seine Firma liquidiert, aber er scheint noch eine Weile von Vertretungen gelebt zu haben.
Im Mai 1939 wohnte Max Schlesinger mit seinen ledigen Schwestern im Haus Wilhelmsaue 136 in Berlin-Wilmersdorf. Die Mutter Flora Schlesinger war 1923 gestorben. Ob Max Schlesingers Ehefrau auch in der gemeinsamen Wohnung lebte, ist nicht ersichtlich. Am 1. Dezember 1939 ließen Max und Martha Schlesinger sich scheiden, Martha nahm 1940 ihren Mädchennamen Habeluschke wieder an. Max Schlesinger war zuletzt „Wohlfahrtsempfänger“.

Am 19. Januar 1942 wurden Max Schlesinger wie auch seine Schwestern Charlotte und Blanka mit dem „9. Osttransport“ nach Riga deportiert. Es waren über 1000 Menschen, die bei großer Kälte in Güterwagen vom Bahnhof Grunewald nach Osten verschleppt wurden. Der Zug erreichte Riga am 23. Januar 1942. Wer die Fahrt überlebt hatte, wurde in den nächsten Tagen erschossen. Es sind nur 19 Überlebende bekannt. Charlotte, Blanka und Max Schlesinger kehrten nicht zurück.

Max Schlesingers geschiedene Ehefrau Martha Habeluschke kam am 3. Februar 1945 bei einem Luftangriff der US-amerikanischen Bomberverbände in Berlin-Kreuzberg ums Leben.

Quellen:
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Handelsregister 1921–1930
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin 1929/30, 1931/32
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
Berliner Tageblatt v. 19. März 1897

Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Gertrud Klang

Stolperstein für Gertrud Klang

HIER WOHNTE
GERTRUD KLANG
GEB. WALDMANN
JG. 1892
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Gertrud Klang kam am 24. Oktober 1892 als Tochter des Kaufmanns Max Waldmann (1849–1926) und seiner 1860 geborenen Frau Martha , geb. Salomon in Berlin auf die Welt . Der Vater, Sohn eines Gastwirts, stammte aus Landsberg, einem Landstädtchen in Oberschlesien (Gorzów Śląnski/Polen), die Mutter, Tochter eines Kaufmanns, war aus Berlin. Dort hatten die Eltern 1883 geheiratet. Ein Jahr später, am 11. Juli 1884, war Gertruds ältere Schwester Erna geboren worden.
Die Familie wohnte im Jahr von Gertruds Geburt in der Prinzenstraße im heutigen Berlin-Kreuzberg. Vater Max Waldmann war Miteigentümer der Firma Frankenstein & Waldmann, einer Lederwarenfabrik, die Alben, Taschen und andere Lederwaren herstellte. Sein Kompagnon Carl Frankenstein (1851–1929) stammte ebenfalls aus der Provinz Schlesien und wohnte viele Jahre ganz in der Nähe der Familie Waldmann und der gemeinsamen Firma. Die Lederwarenfabrik war, nach den Einträgen im Berliner Adressbuch, eine der vielen in einer Fabriketage produzierenden Betriebe, sie befand sich in den folgenden Jahren in der Dresdenerstraße, der Ritterstraße und der Alexandrinenstraße. Die Wohnungswechsel zeigen, dass das Geschäft floriert hat.
In den 1890er-Jahren zogen die Waldmanns mit ihren Töchtern in die Königgrätzer Straße 97 (heute Stresemannstraße 48), damals eine gute Wohnlage im Berliner Stadtteil Friedrichstadt. Auf dem Nachbargrundstück Nr. 96 stand die im Zweiten Weltkrieg zerstörte evangelische Christus-Kirche, die bis 1891 der Förderung der Judenmission in Berlin gedient hatte.
Beide Töchter lebten „ohne Beruf“ bei den Eltern. Im Jahr 1905 heiratete die Schwester Erna den 1873 in Berlin geborenen Kaufmann und Fabrikanten Siegfried Bloch. Max und Martha Waldmann zogen mit ihrer Tochter Gertrud in eine nicht weit entfernte Wohnung am Tempelhofer Ufer 1c, am Südufer des Landwehrkanals. Das Haus existiert nicht mehr. Es stand zwischen dem ehemaligen Postamt am Halleschen Tor und einer Gemeindeschule. Als bürgerliches Mädchen wird Gertrud Waldmann in diesen Jahren ihre Schulbildung abgeschlossen haben.
Der nächste Umzug der Familie Waldmann führte zum Hohenzollerndamm 208 in Wilmersdorf.
Gertrud Waldmann heiratete am 31. Juli 1913 den 1878 in Polzin in Pommern (heute Połczyn Zdrój/Polen), geborenen Kaufmann Hermann Klang, Sohn eines Lehrers, Kantors und Schächters.
Das Paar bekam zwei Kinder: Am 31. Mai 1917 kam ihre Tochter Leonie, am 16. September 1920 die Tochter Rosemarie (Rose) auf die Welt.
1920 gründete Hermann Klang einen Großhandel für Seidenwaren und Futterstoffe. Auch seine Firma wechselte öfter die Standorte (Schützenstraße, Markgrafenstraße, Mohrenstraße und zuletzt Charlottenstraße 22) und war geschäftlich ebenso erfolgreich wie die seines Schwiegervaters. Das Ehepaar Klang lebte zuerst allein, dann mit seinen Kindern, im zweiten Stock des Hauses Hohenzollerndamm 27a, das noch existierende Gebäude in der Nähe des Fehrbelliner Platzes war ein repräsentatives bürgerliches Haus mit großen Wohnungen und den entsprechenden Mitbewohnern. Es muss ein gutbürgerliches Leben gewesen sein. Mitte Dezember 1926 starb Gertrud Klangs Vater, der zuletzt mit ihrer Mutter im Haus ihrer Schwester Erna und ihres Schwagers Siegfried Bloch in der Wangenheimstraße 16 in Berlin-Grunewald, gewohnt hatte.

Bis zum Beginn der 1930er-Jahre werden Wohnung und Firma der Familie Klang an gewohnter Stelle im Berliner Adressbuch notiert, dann fehlen einige Jahre. Von 1934/35 bis zum Tod von Hermann Klang wohnten Gertrud Klang und ihr Ehemann in der Auguste-Viktoria-Straße 2 in Berlin-Halensee. Hermann Klang starb am 14. März 1940 nach einem Schlaganfall im Israelitischen Krankenheim der Gemeinde Adass Jisroel in der Elsässer Straße 85 (heute Torstraße 146). In der Auguste-Viktoria-Straße 2 wohnte für kurze Zeit auch Gertrud Klangs Schwager Siegfried Bloch. Ihre Schwester Erna hatte sich mit ihren beiden Kindern in die USA retten können. Der Schwager zog zur Untermiete in die Wielandstraße 17 und wurde von dort am 17. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert , wo er am 8. Oktober umgekommen ist.

Gertrud Klang wurde ebenfalls in die Untermiete gezwungen: Sie wohnte bei den Schwestern Alice und Elsbeth Pasch in der Wilhelmsaue 136 und musste bei der Dr. Georg Seibt AG in der Akazienstraße 28 in Berlin-Schöneberg Zwangsarbeit leisten. Bei dem international bekannten Unternehmen für Rundfunktechnik wurden im Zweiten Weltkrieg Nachrichtengeräte produziert.

Ab dem 16. Januar 1943 war Gertrud Klang ohne Arbeit. Der Grund hierfür lag im April 1943. Dort stand sie mit einer Gruppe von jüdischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern als Angeklagte vor dem Sondergericht II beim Landgericht Berlin. Angeklagt waren sie wegen Passvergehens und Urkundenfälschung. Gertrud Klang hatte sich einen falschen Urlaubsschein besorgt, um die Eisenbahn benutzen zu können.
Sie wurde am 22. April 1943 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ihre Mitangeklagten erhielten Gefängnis- und Zuchthaushaft für eins der mörderischen Sondergerichte milde Strafen. Aber als Juden hatten sie keine Überlebenschance: Sie alle wurden im KZ ermordet.
Gertrud Klang hatte ihre Untersuchungshaft im Gerichtsgefängnis Charlottenburg in der Kantstraße 79 verbracht. Von dort kam sie am 29. April 1943 in das Frauenstrafgefängnis Berlin, eine „Jüdin“, „ohne Geld“ und „ohne Angehörige“, so die Karteikarte.
Am 15. Mai 1943 wurde Gertrud Klang von der Geheimen Staatspolizei aus dem Gefängnis geholt. Die Gefängnishaft, die noch ein wenig Aufschub bedeutet hatte, war vorbei. Am 17. Mai 1943 wurde Gertrud Klang mit dem „38. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert. Sie kehrte nicht zurück.

Gertrud Klangs Töchter Leonie und Rosemarie konnten wie die Kinder ihrer Tante Erna Bloch entkommen: Leonie Klang arbeitete während des Zweiten Weltkriegs als Hausangestellte in Los Angeles und starb als verheiratete Birnbaum 1990 in den USA. Rosemarie Klang starb als verheiratete Waltho am 5. November 1997 in Australien. Es gibt Kinder und Enkelkinder.

Quellen:
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
Handelsregister Berlin
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
Berliner Tageblatt 19.9.1920, 19.12.1926
Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Berta Hess

Stolperstein für Berta Hess

HIER WOHNTE
BERTA HESS
GEB. STERN
JG. 1867
DEPORTIERT
ERMORDET

Berta Hess, die auf der Geburtsurkunde noch Bertha Stern hieß, kam am 28. Juni 1887 als Kind einer jüdischen Familie in Nordeck, einem kleinen Ort in der Nähe von Marburg in Hessen, auf die Welt. Sie war die Tochter des Kaufmanns Meyer Stern (geb. 1853) und seiner Ehefrau Julie (Julchen), geb. Lion (1854–1941). Berta hatte vier Brüder: Heinemann (*1878), Louis (*1883) und Leo (*1892). Der vierte Bruder, der 1889 geborene Friedrich Sally, war bereits mit drei Monaten gestorben.
Nordeck besaß eine alte, aber recht kleine jüdische Gemeinde. Zum Zeitpunkt der Geburt von Berta waren ungefähr sieben Prozent der Einwohner jüdischer Religion. Die Familien Stern und Lion gehörten zu den einflussreichen Gemeindemitgliedern: Bis 1898 war Moses Lion Synagogenältester und Gemeindevorsteher, dann folgte ihm Bertas Vater von Meyer Stern und blieb es bis 1923.
Die Familie wohnte in einer Zeit, in der es dort keine oder kaum Straßennamen gab, im „Haus Nr. 57“. Ihr Vater war Mitinhaber eines Geschäfts für „Landesprodukte, Mehl und Futterartikel“. Als Ende des 19. Jahrhunderts die jüdischen Haushalte in Nordeck verzeichnet wurden, waren die älteren Brüder nicht mehr in Nordeck, sondern wohl beim Militär oder in der Ausbildung. Berta und ihr jüngerer Bruder Leo gingen noch zur Schule. Es gab in Nordeck eine jüdische Schule. Die Großmutter Lion wohnte als Witwe eine Zeit lang bei ihrem Schwiegersohn und seiner Familie, sie starb 1903.

Der älteste Bruder Heinemann Stern wurde Lehrer und lebte viele Jahre in Oberschlesien. Louis Stern wurde Kaufmann und wohnte zuletzt in Görlitz. Der jüngste Bruder Leo Stern blieb in Nordeck und besaß dort ein Geschäft für Textilwaren, in dem seine Ehefrau Erna, geb. Strauss, Geschäftsführerin war. Das Paar bekam drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter.

Von Berta selbst konnte weniger herausgefunden werden: Sie lernte keinen Beruf, und sie heiratete den 1894 in Dortmund geborenen Kaufmann Julius Hess. Mit ihm wohnte sie im Ruhrgebiet, zwischen Zechen und Fabriken. Das Industrierevier an der Ruhr war das Gegenteil des idyllischen Ortes, in dem sie aufgewachsen war. Am 29. Juni 1926 kamen die Zwillinge Hannelore und Rosemarie auf die Welt. Als Geburtsort wird Langendreer angegeben: Langendreer gehört seit 1929 zu Bochum, grenzt aber auch an Dortmund.
Die Ehe hielt nicht, und nach der Scheidung zog Berta Hess mit ihren Töchtern nach Berlin. Dort wohnte bereits seit Jahren ihr Bruder Heinemann Stern mit seiner Ehefrau Johanna. Er hatte Oberschlesien verlassen, in Hamburg promoviert und arbeitete als Rektor der Jüdischen Mittelschule. Über Berlin hinaus war er ein bekannter Mann geworden: Er war führendes Mitglied in vielen jüdischen Verbänden, darunter im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.), und Vorsitzender des Jüdischen Lehrerverbands Deutschlands. Zur Pädagogik verfasste Heinemann Stern außerdem eine Reihe von viel gelesenen Schriften.
Berta Hess führte von 1934 bis 1938 in Berlin-Steglitz ein Lebensmittelgeschäft (laut Berliner Adressbuch eine Textilwarenhandlung in der Albrechtstraße), und sie wohnte ebenfalls im Bezirk Steglitz. Ihre Töchter besuchten die Volksschule und wechselten Ostern 1937 zur Mittelschule der Jüdischen Gemeinde in der Großen Hamburger Straße. Sie wohnten im Auerbachschen Waisenhaus in der Schönhauser Allee 162a.
In den 1930er-Jahren lebten Heinemann und Johanna in der Varziner Straße in Berlin-Friedenau. Im Jahr der Volkszählung 1939 wohnte Berta Hess bei ihnen.
Ihre Töchter Hannelore und Rosemarie hatte sie im Januar 1939 mit einem Kindertransport in die Niederlande retten können. Eine niederländische Bankiersfrau hatte diese Transporte organisiert. Die Kinder durften einen Koffer, eine Tasche, ein Photo, aber kein Spielzeug mitnehmen. Den Bahnsteig durften die Eltern zum Abschied nicht betreten. Ob sich Berta Hess an diese Regeln gehalten hat, halten musste? In den Niederlanden mussten die Zwillinge immer wieder umziehen: Sie lebten in Familien und Waisenhäusern, in den Orten Wijk aan Zee, Amsterdam, Den Haag und Utrecht.
Im Mai 1940 konnten Bruder Heinemann Stern und seine Ehefrau Johanna nach Brasilien entkommen. Berta Hess zog in das Haus Wilhelmsaue 136. Sie war Untermieterin bei Jettka Rosner, die als Lehrerin an der Jüdischen Mittelschule gearbeitet hatte. Dort wohnte auch die ehemalige Mittelschullehrerin Alice Pasch. Man kann wohl sicher sein, dass beide Frauen Berta Hess’ Bruder Heinemann und vielleicht auch Bertas Töchter gekannt haben.
Berta Hess wohnte nur kurze Zeit in der Wilhelmsaue 136. Sie wollte zu den Töchtern in die Niederlande, und sie wollte eine Berufsausbildung im Gartenbau absolvieren. Am 28. Juni 1941 starb die Mutter von Berta Hess in der Auguststraße 14–15, einem Kranken- und Siechenheim der Jüdischen Gemeinde. Sie war bei der Sterbenden und zeigte deren Tod an.
Berta Hess konnte Deutschland nicht mehr verlassen und wurde noch 1941 deportiert. Das genaue Datum, der Deportationsort und ihr Sterbeort sind bis heute unbekannt. Die Töchter von Berta Hess wurden in den Niederlanden festgenommen und über das Sammellager Westerbork in das Vernichtungslager Sobibor verschleppt. Dort wurden Hannelore und Rosemarie Hess am 5. März 1943 ermordet.

Die übrige Familie: Ihr Bruder Louis Stern konnte emigrieren. Bruder Leo war 1936 mit seiner Familie von Nordeck nach Göppingen gezogen und wurde am 1. Dezember 1941 mit Ehefrau und Tochter von Stuttgart aus nach Jungfernhof, einem Außenlager des Ghettos Riga, deportiert. In den Wäldern nahe Riga wurden sie einige Monate später ermordet. Ihre beiden Söhne konnten entkommen und lebten zuletzt in den USA. Der geschiedene und wiederverheiratete Ehemann Julius Hess emigrierte im Dezember 1938 aus Bremen nach Shanghai. Er lebte später ebenfalls in den USA und starb dort 1948.

Quellen:
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
Handelsregister Berlin
Hessisches Hauptstaatsarchiv Darmstadt
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
Heinemann Stern: Warum hassen sie uns eigentlich? Jüdisches Leben zwischen den Kriegen, Erinnerungen, Düsseldorf 1970
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
https://dokin.nl/deceased-children/Rosemarie-Hess-born-29-Jun-1926
https://www.dokin.nl/deceased_children/hannelore-hess-born-29-jun-1926/
https://juedisches-dortmund.de/die-dortmunder-opfer-der-shoah/

Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Elsbeth Pasch

Stolperstein für Elsbeth Pasch

HIER WOHNTE
ELSBETH PASCH
JG. 1886
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Elsbeth Pasch kam am 1. Juni 1886 als Tochter des Kaufmanns David Pasch (1842–1938) und seiner Ehefrau Fanny, geb. Wollmann (1857–1917) in Rawitsch am Südrand der Provinz Posen (Rawicz/Polen) auf die Welt . Sie verließ den Ort erst als Erwachsene. Rawitsch war die Heimatstadt ihres Vaters, und auch ihre Mutter stammte aus einem Ort in der Umgebung. David Pasch war in der Kommunalpolitik und in der Jüdischen Gemeinde ein engagierter und einflussreicher Mann: Er war jahrelang Stadtverordneter und Stadtrat sowie im Vorstand der Gemeinde. Seine verwitwete Mutter Johanna Pasch hatte ihm das 1850 gegründete Wäschegeschäft der Familie vererbt, das fast ein „Kaufhaus“ war und sicherlich ein angenehmes Leben garantierte. Elsbeth Pasch hatte vier Geschwister: die Brüder Leo (1882–1930) und Bruno (1889–1943) und die Schwestern Alice (1888–1943) und Martha (1891–1937). – Leo, der Älteste, sollte als einziger heiraten. Die ledig gebliebenen Schwestern Elsbeth und Alice scheinen ein gemeinsames Leben geführt zu haben.
Die Eltern sorgten für eine gute Ausbildung ihrer Töchter: Elsbeth Pasch wurde Masseurin – ein Beruf, für den es die ersten Ausbildungsstätten gab. Über die Ausbildung und das Berufsleben von Elsbeth Pasch wird nirgends berichtet. (Und auch später findet sich in den Berliner Adressbüchern kein Eintrag über eine selbstständige Tätigkeit als Masseurin). Ihre Schwester Alice wurde Lehrerin und unterrichtete an einer privaten Schule in Rawitsch. Während des Ersten Weltkrieges (1916) heiratete ihr Bruder Leo, der Jura studiert hatte und bereits als Rechtsanwalt in Berlin lebte, die Musiklehrerin und Geigerin Betty Hannach. (Er sollte bis zu seinem Tod im Jahr 1930 in Berlin eine Anwaltskanzlei führen. Das Ehepaar hatte einen Sohn, Elsbeth Pasch also einen Neffen.) 1917 starb ihre Mutter Fanny Pasch in Rawitsch.
Wann genau David Pasch und seine unverheirateten Kinder nach Berlin gekommen sind, ist unklar, wahrscheinlich nachdem Rawitsch 1920 polnisch geworden war. Im Berliner Adressbuch taucht er 1925 das erste Mal als Hauptmieter in der Handjerystraße 86 in Berlin-Friedenau auf. In dieser Wohnung lebten auch die ledigen erwachsenen Kinder.
In der Hauptstadt gab es eine ganze Reihe von Verwandten und Bekannten aus Rawitsch. Die meisten kümmerten sich in Berlin weiterhin um ihre alten Nachbarn aus der Provinz Posen. So gab es unter den Heimat- und Hilfsvereinen auch den „Hilfsverein für Rawitscher zu Berlin“. Vater David Pasch, Onkel Jacob Pasch (1848–1942), ein Börsenmakler, Bruder Leo und Schwester Alice waren aktive Mitglieder und zweitweise im Vorstand des Vereins.
Die Familie wurde kleiner: 1937 starb die Schwester Martha Pasch in Isfahan im Iran, und im Februar 1938 starb der Vater David Pasch, der zu seinem 95. Geburtstag im Jahr 1937 in den Blättern des Verbandes jüdischer Heimatvereine als „Senior der Gruppe Rawitsch und immerwährendes Ehrenmitglied“ geehrt worden war. Schwester Alice Pasch wurde Hauptmieterin der Wohnung in der Handjerystraße 86. Als „letzte Beschäftigung“ gab sie in ihrer späteren „Vermögenserklärung“ eine Tätigkeit als „Lehrerin bei der Jüdischen Kultusvereinigung“ an. Ihr Bruder Bruno Pasch, der als Handelsvertreter gearbeitet hatte, emigrierte 1939 nach Belgien. Er wurde Anfang Januar 1942 in das KZ Sachsenhausen transportiert und starb dort am 29. Januar 1942 an „Herzschwäche“ – so die offizielle Mitteilung. Schwester Alice Pasch setzte die Beisetzung der Urne auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee durch.
Bis zum Frühjahr 1941 lebten Elsbeth Pasch und ihre Schwester Alice in der Handjerystraße 86, dann mussten sie nach Berlin-Wilmersdorf in die Wilhelmsaue 136 ziehen. Zuerst waren sie Untermieterinnen der Lehrerin Jettel (Jettka) Rosner, die Ende November 1941 deportiert wurde. Dann wohnte Gertrud Klang bis zu ihrer Deportation Mitte Mai 1943 bei den Schwestern Pasch. Alice Pasch und Jettel Rosner müssen zu derselben Zeit an der Mittelschule der Jüdischen Gemeinde unterrichtet haben.
Zuletzt lebten die beiden Schwestern in der Illegalität. Es gibt zwei Berichte von Bekannten über diesen (gescheiterten) Versuch, das Leben zu retten:
Einmal heißt es, dass Eva Heilmann, Tochter des 1940 im KZ Buchenwald ermordeten SPD-Politikers Ernst Heilmann, die Schwestern Elsbeth und Alice Pasch für eine Weile versteckt hatte, diese aber das Leben im Untergrund nicht ertrugen und sich der Gestapo stellten. Ein anderes Mal heißt es, dass die Schwestern von der Gestapo auf einem Bahnhof gefasst worden seien. – Die Zeitzeuginnen leben nicht mehr, es bleiben die von den Tätern notierten Fakten und Daten:
Am 28. Juni 1943 wurden Elsbeth und Alice Pasch mit dem „39. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Auf der Transportliste wird als letzter Wohnsitz die Wilhelmsaue 136 angegeben.

Für ihren Onkel Jacob Pasch, der zuletzt bei seiner Tochter Margarethe und dem Schwiegersohn Dr. Leopold Weil (das Ehepaar wurde 1941 in Riga ermordet) in der Sybelstraße 39 gewohnt hatte und der am 2. November 1942 in Theresienstadt umgekommen war, wurde am 8. November 2011 ein Stolperstein verlegt. Seit dem 3. Juni 2013 erinnert in der Handjerystraße 86 ein Stolperstein an den ermordeten Bruder Bruno Pasch.

Quellen:
Adressbuch Rawitsch 1906
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Blätter des Verbandes Jüdischer Heimatvereine
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin 1929/30, 1931/32
Jüdisches Jahrbuch für Gross-Berlin 1926–1933
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
http://www.gedenkstaette-stille-helden.de/, https://myheritage.de/
Information Dr. Claudia Schoppmann v. 18.5.2022

Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Stolperstein für Alice Pasch

Stolperstein für Alice Pasch

HIER WOHNTE
ALICE PASCH
JG. 1888
DEPORTIERT 1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Alice Pasch stammte – wie so viele jüdische Berlinerinnen und Berliner – aus der preußischen Provinz Posen: Sie ist dort aufgewachsen, hat dort als erwachsene Frau gelebt und gearbeitet, und sie hat sich auch in Berlin weiterhin um ihre Heimat gekümmert.
Auf die Welt kam Alice Pasch in Rawitsch am Südrand der Provinz (Rawicz/Polen) als Tochter des Kaufmanns David Pasch (1842–1938) und seiner Ehefrau Fanny, geb. Wollmann (1857-1917). Rawitsch war die Heimatstadt ihres Vaters, und auch ihre Mutter stammte aus einem Ort in der Umgebung. David Pasch war in der Kommunalpolitik und in der Jüdischen Gemeinde ein engagierter und einflussreicher Mann: Er war jahrelang Stadtverordneter und Stadtrat und im Vorstand der Gemeinde. Seine verwitwete Mutter, Johanna Pasch, hatte ihm das 1850 gegründete Wäschegeschäft der Familie vererbt, das fast ein „Kaufhaus“ war und sicherlich ein angenehmes Leben garantierte. Alice Pasch hatte vier Geschwister: die Brüder Leo (1882–1930) und Bruno (1889–1943) und die Schwestern Elsbeth (1886–1943) und Martha (1891–1937). – Leo, der Älteste, sollte als einziger heiraten.
Die Eltern sorgten für eine gute Ausbildung ihrer Kinder, auch der Töchter: Alice Pasch wurde Lehrerin und arbeitete an einer privaten Schule in Rawitsch. Ihre Schwester Elsbeth wurde Masseurin. Während des Ersten Weltkrieges (1916) heiratete ihr Bruder Leo, der promoviert hatte und Rechtsanwalt geworden war, die Musiklehrerin Betty Hannach. Er sollte bis zu seinem Tod im Jahr 1930 in Berlin eine Anwaltskanzlei führen. 1917 starb die Mutter Fanny Pasch in Rawitsch.
Wann genau David Pasch und seine unverheirateten Kinder nach Berlin gekommen sind, ist unklar, wahrscheinlich nachdem Rawitsch 1920 polnisch geworden war. Im Berliner Adressbuch taucht er 1925 das erste Mal als Hauptmieter in der Handjerystraße 86 auf. In dieser Wohnung lebten auch die ledigen erwachsenen Kinder, zumindest die Töchter.
In der Hauptstadt gab es eine ganze Reihe von Verwandten und Bekannten aus Rawitsch. Zu ihnen gehörte ihr Onkel Jacob Pasch (1848–1942), ein Bruder des Vaters. Er arbeitete als Börsenmakler, und er war (wie auch ihr Bruder Leo) Mitglied und eine zeitlang Vorsitzender des Hilfsverein für Rawitscher zu Berlin. Der Verein diente der „Unterstützung hilfsbedürftiger Rawitscher“ und war einer der vielen Heimat- und Hilfsvereine der ehemaligen Bewohner*innen der Provinz Posen in Berlin. Bereits Vater David Pasch war nach dem Fortgang aus Rawitsch in dem Verein der ehemaligen Rawitscher aktiv, und seine Tochter Alice setzte die Familientradition fort:
Alice Pasch leitete während der NS-Diktatur die Gruppe Rawitsch im 1928 gegründeten Verband jüdischer Heimatvereine und organisierte bis zum Verbot des Vereins im Jahr 1938 die Treffen der Berliner Gruppe.
Wahrscheinlich war sie auch im Verein für das Deutschtum im Ausland aktiv, in dem sich viele Lehrerinnen und Lehrer organisiert hatten. Während der Weimarer Republik vertrat der Verein im Rahmen seiner viel weiter gehenden Ziele (Revision des Versailler Vertrages) die Interessen der deutschen Minderheiten in den abgetretenen Gebieten.
Die Familie wurde kleiner: 1937 starb die Schwester Martha Pasch in Isfahan im Iran, und im Februar 1938 starb der Vater David Pasch, der zu seinem 95. Geburtstag im Jahr 1937 in den Blättern des Verbandes jüdischer Heimatvereine als „Senior der Gruppe Rawitsch und immerwährendes Ehrenmitglied“ geehrt worden war. Alice Pasch wurde Hauptmieterin der Wohnung in der Handjerystraße 86. Als „letzte Beschäftigung“ gab sie in ihrer späteren „Vermögenserklärung“ eine Tätigkeit als „Lehrerin bei der Jüdischen Kultusvereinigung“ an.
Ihr Bruder Bruno Pasch, der als Handelsvertreter gearbeitet hatte, emigrierte 1939 nach Belgien. Er wurde Anfang Januar 1942 in das KZ Sachsenhausen transportiert und starb dort am 29. Januar 1942 an „Herzschwäche“ – so die offizielle Mitteilung. Alice Pasch setzte die Beisetzung der Urne auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee durch.
Bis zum Frühjahr 1941 lebten Alice Pasch und ihre Schwester Elsbeth in der Handjerystraße 86, dann mussten sie nach Berlin-Wilmersdorf in die Wilhelmsaue 136 ziehen. Zuerst waren sie Untermieterinnen der Lehrerin Jettka Rosner, die Ende November 1941 deportiert wurde. Dann wohnte Gertrud Klang bis zu ihrer Deportation Mitte Mai 1943 bei den Schwestern Pasch. (Alice Pasch und Jettka Rosner müssen zu derselben Zeit an der Mittelschule der Jüdischen Gemeinde unterrichtet haben).
Zuletzt lebten die beiden Schwestern in der Illegalität. Es gibt zwei Berichte von Bekannten über diesen (gescheiterten) Versuch, das Leben zu retten: Einmal heißt es, dass Eva Heilmann, Tochter des 1940 im KZ Buchenwald ermordeten SPD-Politikers Ernst Heilmann, die Schwestern Elsbeth und Alice Pasch für eine Weile versteckt hatte, diese aber das Leben im Untergrund nicht ertrugen und sich der Gestapo stellten. Ein anderes Mal heißt es, dass die Schwestern von der Gestapo auf einem Bahnhof gefasst worden seien. Die Zeitzeuginnen leben nicht mehr, es bleiben die von den Tätern notierten Fakten und Daten:
Am 28. Juni 1943 wurde Alice Pasch gemeinsam mit ihrer Schwester Elsbeth mit dem „39. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Als Deportationsadresse wird die Wilhelmsaue 136 angegeben.

Für ihren Onkel Jacob Pasch, der zuletzt bei seiner Tochter Margarethe und dem Schwiegersohn Dr. Leopold Weil (das Ehepaar wurde 1941 in Riga ermordet) in der Sybelstraße 39 gewohnte hatte und der am 2. November 1942 in Theresienstadt umgekommen war, wurde am 8. November 2011 ein Stolperstein verlegt. Seit dem 3. Juni 2013 erinnert in der Handjerystraße 86 ein Stolperstein an den ermordeten Bruder Bruno Pasch.

Quellen:
Adressbuch Rawitsch 1906
Arolsen Archives
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
Blätter des Verbandes Jüdischer Heimatvereine
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
Heinz Ickstadt für die Initiative Stolpersteine in der Handjerystraße (Hrsg.): Quartier handjerystraße in Berlin-Friedenau, Berlin 2013
Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin 1929/30, 1931/32
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, WGA
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
Yad Vashem
https://www.mappingthelives.org/
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.statistik-des-holocaust.de/
http://www.gedenkstaette-stille-helden.de/, https://myheritage.de/
Vorrecherchen aus dem Nachlass von Wolfgang Knoll

Dr. Hilde Davidsohn, geboren am 06. August 1911 in Breslau, wurde am 3.3.1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet;

Dr. Sally F. Davidsohn, geboren am 18. Juli 1874 in Hohensalza (Inowroclaw), wurde am 11.8.1942 nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet.

Dagobert Marchand, geboren am 10. September 1886 in Wesel, wurde am 17.3.1943 nach Theresienstadt deportiert und dort am 21.4.1944 ermordet.

Erna Marchand geb. Kasper, am 26. Juni 1892 in Gorzno, wurde am 3.3.1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Jettka Rosner, geboren am 28. Dezember 1885 in Kattowitz, wurde am 27.11.1941 nach Riga deportiert und dort nach Ankunft am 30.11.1941 ermordet.

Helene Toczek, geboren am 04. Mai 1884 in Lublinitz, wurde am 4.3.1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Erich Hamel, geboren am 11. Januar 1893 in Wollstein, wurde am 3.3.1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Charlotte Schlesinger, geboren am 01. Januar 1880 in Berlin, Blanka Schlesinger, geboren am 01. Juli 1881 in Berlin, und Max Schlesinger, geboren am 18. April 1878 in Berlin, wurden am 19.1.1942 nach Riga deportiert und ermordet.

Gertrud Klang geb. Waldmann, am 24. Oktober 1892 in Berlin, wurde am 17.5.1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Berta Hess geb. Stern, JG 1887, wurde 1941 deportiert und ermordet.

Elsbeth Pasch, geboren am 01. Juni 1886 in Rawitsch, und Alice Pasch, geboren am 24. Juni 1888 in Rawitsch, wurden am 28.6.1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

(Die vorstehenden Daten weichen z.T. von den – 2004 ermittelten – Angaben auf den Steinen ab, entsprechen aber dem jetzigen Erkenntnisstand.)

Stolperstein Gerhard Liebmann

HIER WOHNTE
GERHARD
LIEBMANN
JG. 1906
FLUCHT 1937
FRANKREICH
ENGLAND

Gert in Berlin

Gerhard (Gert) Liebmann wurde am 29. Juni 1906 als Sohn von Martin Liebmann und seiner Frau Margarete in Berlin-Charlottenburg geboren. Die mittelständische jüdische Familie war nicht religiös. Gerts Bruder Kurt war elf Jahre älter als er, wurde Arzt und starb in jungen Jahren an einer Lungenentzündung. Später wurde bekannt, dass Gerts wirklicher Vater Margaretes Schwager James war, ein links-denkender Rechtsanwalt und Justizrat, der viele Sozialisten und Kommunisten vor Gericht vertrat.

Gert in Bayern

Als Martin Liebmann sich im Alter von 50 Jahren aus seinem Textilhandel zurückzog, siedelte die Familie nach Bayern um, um dort einen Bauernhof zu betreiben. Margarete war keine gute Hausfrau und Gert, um den man sich nicht so recht kümmerte, war sehr mager, ging auf unterschiedliche Schulen und war als Jude häufig antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt.

Als die Liebmanns mit dem Bauernhof scheiterten, zog die Familie – praktisch mittellos – wieder zurück nach Berlin. Sie überzeugten Margaretes Mutter, die in Berlin geblieben war, in eine größere Wohnung umzuziehen, in die Gert und seine Eltern ebenfalls einzogen. Sie vermieteten zwei Zimmer als Büroräume, um die Miete bezahlen zu können. Das Mädchen Wally aus Bayern folgte ihnen und blieb die längste Zeit ihres Lebens als Hauswirtschafterin bei ihnen.

Gert verließ die Schule vor dem Abitur, da Martin darauf bestand, dass er zum Unterhalt der Familie beizutragen habe. Also nahm er eine Lehrstelle in der Instrumentenfirma Ludwig Loewe an, lernte aber weiter, um das Abitur als “Externer” abzulegen. 1925 begann er an der Berliner Universität das Studium der Physik, Mathematik und Philosophie. Es war für ihn eine prägende Zeit, da viele Professoren und Tutoren bekannte Namen in der Relativitätstheorie und Unschärferelation trugen. Da die Familie immer noch kein Einkommen hatte, gab Gert Nachhilfeunterricht.

1926 lernte er die ebenfalls 20-jährige Kommilitonin Dora (Dodo) Badt kennen, die dieselben Fächer studierte wie er. Sie waren oft in der Universität zusammen und arbeiteten beide als Werkstudenten bei Osram. 1930 wurde Gerhard Liebmann zum Dr. phil. promoviert. Seine Dissertation über die Eigenschaften fluoreszierender Materialien muss einige Relevanz gehabt haben, denn seine Tochter Marian, die Physik an der Universität Oxford studierte, fand in den 60er Jahren Hinweise darauf in ihren Büchern.

Gert forschte nach der Dissertation als Stipendiat weiter, nahm dann aber eine Stelle als Abteilungsleiter in der Radiofabrik Loewe an. Es gelang ihm, Dodo 1931/32 als seine Assistentin einzustellen, wobei die beiden ihre private Verbindung natürlich geheim halten mussten. Als 1933 fast alle jüdischen Angestellten entlassen wurden, konnte Gert dort weiter arbeiten – wohl weil einer der Direktoren jüdisch war.

Gert und Dodo engagierten sich ab 1931 politisch und traten 1933 – nach der Machtübergabe an Adolf Hitler – in die Kommunistische Partei ein. Sie schien ihnen die einzige Partei zu sein, die Widerstandsaktionen gegen die Nazis aus dem Untergrund durchführte – und dabei Juden nicht diskriminierte. Sie beteiligten sich an der Verteilung verbotener Literatur und an gefährlichen Treffen mit anderen Mitgliedern ihrer Gruppe. Um bei Verstand zu bleiben, verbrachten sie die Wochenenden auf ihrem kleinen Segelboot auf einem der Seen im Grunewald.

Gert unterstütze Dodo bei der Beendigung ihres Studiums 1934, indem er sie auf die mündliche Prüfung vorbereitete. Als sie bei Loewe gekündigt wurde, ermutigte er sie, eine Monatsschrift für die Radio-Industrie zu gründen “Fortschritte der Funktechnik”. Damit wurde sie sehr erfolgreich bis sie aus Angst vor der Aufmerksamkeit der Nazis die Zeitschrift einstellen musste.

Gert und Dodo planten bereits seit zwei Jahren ihre Flucht. Gert ging 1935 nach London, fand aber keine Anstellung und kam zurück nach Berlin. Er ließ aber alle seine Papiere in London bei Freunden, Otto Kantorowicz und Ilse Barasch, für den Fall, dass er sich auf einen Job bewerben aber nicht erneut nach London kommen könnte. Gert und Dodo heirateten 1936 in Berlin – ein Teil dieses Flucht-Plans. Wenn Gert einen Job fände, könnte Dodo nachkommen.

In einer englischen Fachzeitschrift wurde ein Fachmann für Elektronik und Vakuum-Technik gesucht, eine unübliche Kombination, die Gert wie auf den Leib geschrieben war. Er bat die Freunde, seine Bewerbung zu betreiben, da er sich aus Furcht vor Zensur nicht von Berlin aus bewerben konnte. Die Firma Pye in Cambridge akzeptierte dies Verfahren und lud ihn zu einem Bewerbungsgespräch ein. Es gelang ihm, die Immigrationsbehörden mittels eines dicken deutschen Physikbuches, das er – angeblich – ins englische übersetzen lassen wollte, davon zu überzeugen, dass sein vorübergehender Aufenthalt in England zwingend sei. Er wohnte bei den Freunden in London und konnte so das Gespräch in Cambridge wahrnehmen. Das Ergebnis sollte den Freunden in London übersandt werden. Die Gefahr, dass ein Brief aus England in Berlin geöffnet wurde, war zu groß. Sie verabredeten einen Code mithilfe dessen Otto Kantorowicz mitteilen sollte, ob Gert den Posten bekommen hätte – und zu welchen Konditionen. Dieser Brief sollte nicht an Gerhard Liebmann sondern an Gertrude gesandt werden, da Frauen damals weniger im Focus der Nazis standen als Männer.

Kurze Zeit später kam der ersehnte Brief von Otto des Inhalts:“Der Amperemeter funktioniert zufriedenstellend mit einer Sekunde Schwingzeit und 500 Milliampere durchschnittlichen Verbrauch”. Das bedeutete: der Job ist ok mit einem Ein-Jahres– Vertrag und 500 Pfund pro Jahr. Gert sollte so schnell wie möglich anfangen und sagte für den 1. Januar 1937 zu. Unglücklicherweise erzählte er dies seinem Chef bei Osram mit der Folge, dass sein Pass konfisziert wurde. Nach drei Wochen Unsicherheit bekam er ihn zurück, nahm den nächsten Zug nach Paris reiste und von dort nach England. Er trat seine Stelle bei Pye also mit einigen Tagen Verspätung an. Dodo packte ihr ganzes Leben binnen 36 Stunden zusammen und folgte ihm.

Zunächst lebten sie bei Freunden in London, zogen dann nach Cambridge. 1938 wurde Gert kurzzeitig nach London versetzt, im Herbst 1939 – kurz vor Ausbruch des Krieges – aber wieder nach Cambridge. Es gelang ihnen, Gerts Eltern im März 1939 nach England zu holen. Ab Kriegsbeginn nutzten Gert und Dodo englisch als Alltagssprache – sie ertrugen die deutsche Sprache nicht mehr. Beide wurden 1939/40 neun Monate als “enemy aliens” auf der Isle of Man in unterschiedlichen Lagern interniert. Nach der Entlassung nahm Gert seine Arbeit bei Pye wieder auf. Dodo hätte auch gerne gearbeitet, bekam aber nicht die Erlaubnis. 1942 bzw. 1945 wurden die beiden Kinder Marian und Stephen geboren. Das Geld war immer knapp, da sie neben ihrer eigenen wachsenden Familie auch Gerts Eltern finanziell unterstützten. Unmittelbar nach Kriegsende beantragten Gert und Dodo die britische Staatbürgerschaft, die sie 1946 bekamen.

Gert in England

Gert in England

In Deutschland hatten beide an Widerständen für Radios gearbeitet und Gert hatte alle Instruktionen vor der Flucht fotographiert. So brachten sie ein Verfahren für die Herstellung von hochstabilen Carbon-Widerständen mit, das sie an ein bereits existierendes Unterehmen verkaufen wollten. Aber niemand glaubte, dass das funktionieren würde. So gründeten sie 1946, als Gert bei Pye entlassen wurde, ihre eigene Fabrik – die Cambridge Electrical Components Ltd. (CELCO). Zunächst arbeiteten sie beide in ihrer eigenen Firma, aber Gert nahm 1947 einen neuen, besseren Posten fern von Cambridge an. Dodo führte also das Unternehmen weiter und konnte es – nachdem bewiesen war, dass das Verfahren funktionierte – 1949 an eine größere Firma, die expandieren wollte, verkaufen. Sie wurde für die nächsten drei Jahre als Consultant verpflichtet mit einem Honorar, das einen großen Unterschied für die Familienfinanzen machte.

Während Gert bei Pye eher mit der Entwicklung kommerzieller Bereiche beschäftigt gewesen war, konnte er in seiner neuen Aufgabe bei Associated Electrical Industries (AEI) in Aldermaston, Berkshire, wieder seinen Forschungsinteressen nachgehen. Alle Mitarbeiter lebten in dem alten manor house, in dem die Firma sich befand. Gert hatte abends und in der Freizeit wieder mit der Malerei begonnen, sammelte Pilze wie früher in Deutschland und entwickelte ein Elektronen-Mikroskop. Allerdings konnte er seine Familie nur jedes dritte Wochenende besuchen und überließ es Dodo, sich um die Kinder, das eigene Unternehmen und seine betagten Eltern zu kümmern. Erst nachdem Dodo 1949 die CELCO verkauft hatte, konnte sie 1950 mit den Kindern nach Aldermaston ziehen und so die Familie wieder vereinen.

Nachdem mehrere Unterkünfte ihnen nicht zusagten, kauften sie ein Grundstück in Reading, der ca. 20 km von Aldermaston entfernten Stadt. Sie erwarben zudem viele Bücher über Architektur, entwarfen ihr Haus selbst und überwachten den Baufortschritt. 1954 konnten sie einziehen.

Gert wurde für seine Arbeiten im Bereich der Elektronen-Mikroskopie sehr bekannt, publizierte mindestens 40 Artikel und Monographien und erhielt Einladungen zu Vorträgen in vielen Ländern, u.a. den USA. 1954 reiste die ganze Familie in den Ferien nach Österreich und besuchte in München Wally, ihr Hausmädchen aus Berliner Zeiten. Gert wollte sie unbedingt noch einmal zu ihren Lebzeiten sehen.

Gert, Marian, Wally, Dodo 1954 in München.

Gert, Marian, Wally, Dodo 1954 in München.

Gert Liebmann

Gerhard Liebmann starb plötzlich und unerwartet am 18. Juni 1956 – 11 Tage vor seinem 50. Geburtstag – an einem Herzinfarkt beim Tennisspiel mit seinen Kollegen. Er wurde eingeäschert und seine Asche in Reading beigesetzt. Bei einer späteren Gedenkfeier in Aldermaston würdigten ihn viele seiner Kollegen. Er hinterließ Dodo mit den beiden 14 bzw. 10 Jahre alten Kindern.

Recherche: Marian Liebmann, Tochter von Gert und Dodo Liebmann
Leicht verkürzte Übertragung der Biographie aus dem Englischen: Gisela Morel-Tiemann

  • Biografie Gerhard (Gert) Liebmann (englisch)

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Stolperstein Dora Minna Liebmann

HIER WOHNTE
DORA MINNA
LIEBMANN
JG. 1906
FLUCHT 1937
FRANKREICH
ENGLAND

Ilse und Dodo mit Erich

Dora Minna Badt (Dodo genannt) wurde1906 in Berlin geboren und lebte hier bis zu ihrer Flucht 1937. Sie hatte zwei Geschwister – die ein Jahr ältere Schwester Ilse und den elf Jahre jüngeren Bruder Erich. Ihm war sie ganz besonders verbunden.

Dodo mit 6 bis 8 Jahren

Dodos Vater Albert Badt war Geschäftsmann, seine Frau Emmy, geb. Wolff, führte den Haushalt mit Hilfe mehrerer Bediensteter. Das Geschäft lief über viele Jahre gut, ging aber in der Inflation in den 1920er Jahren pleite. Dodos Vater entstammte einer orthodoxen jüdischen Familie, die Mutter kam aus einer liberalen jüdischen Familie. Sie feierten die wichtigsten jüdischen Feste, beschäftigten sich aber sonst nicht mit Religion. Dennoch bewegte sich die Familie vornehmlich in jüdischen Kreisen, da der Antisemitismus weit verbreitet war. Es gab beiderseits viele Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, sodass die meisten Feste im Familienkreis stattfanden.

Dodo war von klein auf sehr intelligent, aber es brauchte sehr viel Überzeugungskraft, damit sie auf ein Gymnasium gehen durfte. Von 1912 bis 1921 besuchte sie die Auguste-Victoria-Schule, danach bis 1925 die Fürstin-Bismarck-Schule – beide in Charlottenburg. Ihr Abitur absolvierte sie mit sehr guten Noten und schrieb sich an der Berliner Universität als Studentin der Physik ein. Sie war die erste Akademikerin in ihrer Familie. Sie wechselte an die Universität Heidelberg, musste aber nach einem Semester wieder nachhause kommen, da ihr Vater 1926 unerwartet starb. Es war für sie eine prägende Zeit, da sie bei vielen Professoren und Tutoren lernte, die namhaft in den Bereichen Relativitätstheorie und Unschärferelation waren.

Dodo und ihre Familie durchlebten schwierige Zeiten in Deutschland. Während des Ersten Weltkrieges war sie ein Kind und erinnerte sich daran, dass sie für ihren Onkel, der Soldat war, Socken strickte. Kurz nach Kriegsende litt Deutschland unter der großen Inflation, durch die die Familie nicht nur ihr Geld verlor, sondern auch allen Schmuck verkaufen musste. Sie mussten in eine preiswertere Wohnung umziehen, was zu Problemen zwischen Dodo und ihrer Mutter führte, sodass sie 1930 in ein möbliertes Zimmer zog.

Wegen der schwierigen finanziellen Lage musste Dodo neben dem Studium Geld verdienen. Zunächst gab sie Schulkindern Nachhilfe, dann arbeitete sie im Forschungslabor bei Osram. Sie musste sich daher sehr anstrengen, um ihr Studium zu beenden. Aber es gelang und sie forschte weiter bei Osram für ihre Promotion. Ihr späterer Ehemann Gerhard Liebmann (Gert) arbeitete zufällig als Werkstudent in derselben Abteilung. Sie waren sich schon im Alter von 20 Jahren an der Universität begegnet, heirateten aber erst 1936 als sie 29 Jahre alt waren.

1931 verließ Dodo Osram „auf Anraten“ wegen Problemen mit ihrem Chef und war einige Monate arbeitslos. Gert hatte inzwischen seinen Abschluss gemacht und arbeitete in der Radiofabrik Loewe. Dort konnte er sie in einen Assistentenposten vermitteln – ihre Beziehung mussten sie natürlich geheim halten. Abends arbeitete Dodo an ihrer Dissertation. Im November 1933 wurde ihr gekündigt, weil sie eine unbezahlte Auszeit genommen hatte, um ihre Doktorarbeit zu beenden. Sie befürchtete nämlich, nach der Machtübergabe an Hitler im Januar 1933 nicht mehr zur Promotion zugelassen zu werden, wenn sie die Abgabe der Arbeit noch länger hinauszögerte. Gert hingegen konnte weiter bei Loewe arbeiten, da einer der Direktoren jüdisch war und nicht alle jüdischen Angestellten hinausgeworfen wurden – wie es in vielen anderen Unternehmen der Fall war.

Bereits seit 1931 hatte Dodo sich politisch engagiert und trat 1933 in die Kommunistische Partei ein. Sie sah diese Partei als einzige Gruppierung an, die Untergrundaktivitäten organisierte, ohne Juden zu diskriminieren. Sie verteilte verbotene Schriften und traf sich mit anderen Mitgliedern der Gruppe. Bei mehreren Gelegenheiten gelang es ihr, beim Eintreffen der Gestapo Untergrund-Papiere zu verbrennen oder in der Toilette zu versenken. Um in dieser gefährlichen Lebenslage bei Verstand zu bleiben, verbrachten Dodo und Gert Wochenenden auf ihrem kleinen Segelboot auf einem der Seen im Grunewald.

Im Februar 1934 absolvierte Dodo schließlich ihr Doktorexamen. Neben der Doktorarbeit hatte sie vier mündliche Prüfungen zu bestehen – theoretische und experimentelle Physik, Mathematik und Philosophie. Sie musste für jedes Fach Professoren finden, die bereit waren, sie zu prüfen. Das war kein einfaches Unterfangen, denn etliche waren antisemitisch eingestellt und manche zudem frauenfeindlich.

Nach der erfolgreichen Promotion fand Dodo eine Beschäftigung als ungelernte Arbeiterin in der Radio-Industrie, wurde aber Ende 1934 erneut arbeitslos. So gab sie als Selbständige das Monatsjournal „Fortschritte der Funktechnik“ heraus, dass sie erfolgreich an europäische Universitäten und Museen verkaufte. Sie sollte eine Stelle in der Technischen Universität Berlin bekommen, um diese Arbeit von dort aus fortzusetzen. Die Zusage wurde aber zurückgezogen, weil sie Jüdin war. Bald darauf stellte sie die Herausgabe der Zeitschrift ein, um nicht unter Verdacht zu geraten. Sie beschrieb dies als ihre schlimmste antisemitische Erfahrung. Solange sie noch in Deutschland war, gab sie Unterricht und machte Studien- und Prüfungstrainings sowie Literaturrecherchen für Wissenschaftler.

Dodo und Gert heirateten 1936 – ein Teil ihres Fluchtplans. Wenn Gert eine Anstellung im Ausland fände, könnte Dodo nachkommen. Mit Hilfe von Freunden in London, die seine Bewerbung betrieben und das positive Resultat in einem kodierten Brief mitteilten, gelang das und Gert reiste innerhalb von Tagen über Paris nach London. Dodo packte binnen 36 Stunden ihr ganzes Leben ein und folgte ihm. Zunächst lebten sie bei den Freunden in London, zogen dann nach Cambridge, wo Gert im Januar 1937 seine Stelle bei der Firma Pey antrat.

In dieser Zeit beherbergte Dodo Besucher und Flüchtlinge auf der Durchreise, die versuchten Kontakte in England zu knüpfen. Im August 1937 wählte ihre Schwester Ilse, verheiratete Lichtwitz, den Freitod (Stolpersteine Kantstraße 30), Ihre Mutter Emmy im Januar 1939 ebenfalls – wie es damals so viele von den Nazis verfolgte Menschen taten. Dodo konnte natürlich nicht zu den Beerdigungen fahren. Es gelang Gert und Dodo aber, Gerts Eltern aus Deutschland nach England zu holen und ganz in ihrer Nähe eine Wohnung für sie zu finden. Dodo engagierte sich im Woburn House bei der Rettung von Kindern und Jugendlichen aus Deutschland mittels Kindertransporten.

Nach Kriegsausbruch wechselten Dodo und Gert ihre tägliche Umgangssprache von deutsch zu englisch. Sie konnten die deutsche Sprache einfach nicht mehr ertragen. Beide wurden 1939/1940 für neun Monate als „enemy aliens“ in unterschiedlichen Lagern auf der Isle of Man interniert – für Frauen eine eher ungewöhnliche Maßnahme. Dodo half in ihrem Lager, Entlassungsanträge auf den Weg zu bringen. Nach der Entlassung nahm Gert seine Arbeit bei Pye wieder auf. Dodo hätte auch gerne gearbeitet, erhielt aber nicht die dafür notwendige Erlaubnis.

1942 bzw.1945 wurden ihre beiden Kinder Marian und Stephen geboren. Unmittelbar nach Kriegsende beantragten Dodo und Gert die britische Staatsbürgerschaft, die ihnen 1946 gewährt wurde. Finanzielle Mittel waren immer knapp, zumal sie neben ihrer eigenen wachsenden Familie auch noch Gerts Eltern unterstützten.

In Deutschland hatten Gert und Dodo an Widerständen für Radios gearbeitet und ein Verfahren für die Herstellung von hochstabilen Carbon-Widerständen entwickelt und nach England mitgebracht. Das wollten sie einem bereits existierenden Unternehmen verkaufen, aber niemand glaubte, dass dies Verfahren funktionierte. So gründeten sie 1946 ihr eigenes Unternehmen – die Cambridge Electrical Components Ltd. (CELCO). Zunächst arbeiteten beide in ihrer eigenen Firma, aber nach der Kündigung von Pye 1947 nahm Gert einen neuen, besser zu ihm passenden Posten fern von Cambridge an. Dodo führte also das Unternehmen alleine weiter und konnte es – nachdem bewiesen war, dass das Verfahren funktionierte – 1949 an eine größere Firma verkaufen. Sie wurde für die nächsten drei Jahre als Consultant verpflichtet mit einem Honorar, das einen großen Unterschied für die Familienfinanzen machte.

Gert war also in Aldermaston, konnte nur jedes dritte Wochenende zu seiner Familie kommen und überließ Dodo die Erziehung und Versorgung der Kinder, die Führung des Unternehmens und die Unterstützung seiner alternden Eltern. Erst nach zweieinhalb Jahren, als Dodo die CELCO verkauft hatte, konnten sie mit den Kindern 1950 nach Aldermaston ziehen, sodass die Familie wieder vereint war. Das Leben in Aldermaston war einerseits angenehm, anderseits aber sehr isoliert. Die Familie wohnte in einer früheren schlecht isolierten Armeehütte und die Kinder mussten zehn Meilen zu ihrer Schule in Newbury fahren. Dodo verbrachte viel Zeit damit, alle zur nächsten Busstation zu fahren. Die Hausarbeit war ihr nicht genug – sie langweilte sich.

So suchten sie in der nächstgrößeren Stadt – Reading – ein Haus. Als ihnen keines zusagte, kauften sie ein Stück Land und eine Handvoll Architekturbücher, entwarfen ihr neues Heim selbst und überwachten den Baufortschritt. Es hatte vier Schlafzimmer – drei davon nach Süden – viele Bücherregale in den Kinderzimmern, eine Veranda, die groß genug für Tisch und Stühle war, ein kleines Arbeitszimmer für Gert, eine Garage, drei Nebengebäude und einen großen Garten. Dort erhielten sie einen großen Teil der alten Bäume des früheren Waldlandes. Dieses Vorhaben begann 1953 und im Dezember 1954 konnten sie einziehen.

Da die Kinder nun größer waren, wollte Dodo wieder im experimentellen Bereich arbeiten, aber auch Psychologie studieren. Sie schrieb sich also in der Universität Reading ein und hatte das erste Jahr fast beendet, als sie krank wurde und pausieren musste. Dann starb Gert ganz unerwartet 1956 an einem Herzschlag. Dodo musste also ihr Studium aufgeben und schnellstens eine Anstellung finden. Sie wurde am Reading Technical College als Mathematikdozentin eingestellt und arbeitete dort bis zu ihrer Pensionierung 1968.

Dodo mit Ende 50 Jahren

Eine unerwartete Folge von Gerts Tod war, dass Dodo ihren Neffen Heinz Lichtwitz wiederfand. (Stolpersteine Kantstraße 30). Dodo wusste, dass er mit einem Kindertransport nach England gekommen war, verpasste ihn aber, als er durch London kam. Sie hatte mehrfach erfolgslos nach ihm gesucht. Die Nachricht von Gerts Tod erreichte auf welchem Weg auch immer die beste Freundin von Dodos Schwester Ilse. Diese Freundin war ebenfalls aus Deutschland geflohen und lebte in Leicester. Ihr Sohn kannte Heinz Lichtwitz – der in England Henry Foner hieß – und so schloss sich der Kreis. Dodo und Henry trafen sich 1961 als er 29 Jahre alt war. Dodo pflegte zu ihm und seiner Familie – Frau und drei Kinder – lebenslang eine ganz besondere Beziehung.

Dodo litt einen Großteil ihres Lebens unter gesundheitlichen Problemen. Mehrere große Operationen und entsprechende Genesungsperioden waren die Folge. Sehr spät beantragte sie „Entschädigung“ für ihre angeschlagene Gesundheit und die aufgrund der Nazi-Verfolgung verhinderte Karriere – und bekam sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlebte sie finanzielle Sicherheit, die es ihr ermöglichte, die Hilfen zu finanzieren, deren sie nun bedurfte. Sie reiste gerne in Länder mit warmem Klima, wo sie schwimmen konnte. Aber sie vermied es absolut, nach Deutschland zu reisen oder in den Ferien mit Deutschen in Kontakt zu kommen.

Nach ihrer Pensionierung 1968 zog Dodo vom Reading nach London, um näher bei langjährigen Freunden zu sein und ihre erwachsenen Kinder zu treffen, wenn sie durch London kamen. Mit der Unterstützung ihrer Tochter schrieb sie ihre Memoiren, die sie 1977 fertigstellte: „We Kept Our Heads: Personal memories of being Jewish in Nazi Germany and making a new home in England“. Gerne hätte sie sich weiterhin ehrenamtlich engagiert, aber ihre schlechte Gesundheit ließ das nicht zu. Aber sie erfreute sich an einem neuen Hobby – der Töpferei – und interessierte sich sehr für die Aktivitäten ihrer Kinder und ihrer drei Enkelkinder.

Dodo Mitte der 80er Jahre

Dodo Mitte der 80er Jahre

Dora Liebmann starb im November 1989 während eines Besuches bei ihrer Tochter in Bristol, wo sie eingeäschert wurde. Ihre Asche wurde in Reading neben ihrem Mann Gert beigesetzt. Bei einer anschließenden Gedenkfeier in London wurden alle Trauergäste dazu aufgefordert, ein Stück von Dodos Töpfereien als Andenken mitzunehmen.

Recherche: Marian Liebmann, Tochter von Gert und Dodo Liebmann
Leicht verkürzte Übertragung der Biographie aus dem Englischen: Gisela Morel-Tiemann

  • Biografie Dora Liebmann (englisch)

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