Wilmersdorf: Bunter als sein Ruf

Die Wilmersdorfer Witwen sind weltberühmt. Als Inkarnationen von Antikommunismus und Fremdenfeindlichkeit treten Agathe, Kriemhild, Lotti und Martha in dem weltweit adaptierten Musical „Linie 1“ des Berliner Grips-Theaters auf, dessen Autor Volker Ludwig in Wilmersdorf aufwuchs. „Wir Wilmersdorfer Witwen verteidigen Berlin, sonst wär‘n wir längst schon russisch, chaotisch und grün. Was nach uns kommt, ist schiete, denn wir sind die Elite“, da sind sich die schwarzen Witwen sicher, die in ein deutschtümelndes Berlin wie im Dritten Reich zurückwollen. Zum Glück hat dieses satirische Klischee von Wilmersdorfer Weiblichkeit mit dem wirklichen Leben im Ortsteil nichts mehr zu tun, im Gegenteil. Wer mit offenen Augen durch die Straßen geht, sieht statt bornierter Spießigkeit überall die Spuren eines bunten Mit- und Nebeneinanders der Nationen und Kulturen.
Der Ortsteil Wilmersdorf ist im späten 19. Jahrhundert aus einem Dorf mit dem Namen „Deutsch-Wilmersdorf“ herausgewachsen und zählt heute rund 100.000 Einwohner. Davon hat jeder Vierte keinen deutschen Pass. Die amtliche Statistik, Stand 2023, weist 42.917 Personen mit Migrationshintergrund aus, nicht mitgezählt die Kindeskinder, die in dritter Generation in Berlin leben. Zahlenmäßig spiegelt die Statistik des Ortsteils ziemlich genau die Gesamtsituation im Großbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf mit seinen rund 340.000 Einwohnerinnen und Einwohnern wider. 44,7 Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund, damit liegt der Bezirk deutlich über dem Berliner Durchschnitt.

Russisch-Orthodoxe Christi-Auferstehungskathedrale, Innenraum 1959, Foto: Landesarchiv Berlin

Russisch-Orthodoxe Christi-Auferstehungskathedrale, Innenraum 1959

Zu seinen Besonderheiten gehört ein großer Anteil von Osteuropäern, darunter viele Auswanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und eine sehr sichtbare russische Community. Zwischen den Weltkriegen lebten schon einmal über 300.000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Russland in Berlin und „Charlottengrad“ wurde zu einem kulturellen Zentrum der Emigranten. Auf eine ähnlich dramatische Flüchtlingswelle mussten Verwaltung und Zivilgesellschaft 2022 reagieren, als Russlands schwelender Krieg gegen die Ukraine eskalierte.
Im Jahr 2016 war Charlottenburg-Wilmersdorf der Berliner Bezirk mit den meisten Notunterkünften für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan. Die Arbeitsmigration seit den 1950er–Jahren hatte zur Folge, dass hier die größte italienische Community in Berlin sesshaft geworden ist. Vor der islamischen Revolution im Iran flohen seit den Siebzigern viele Künstler und Intellektuelle mit ihren Angehörigen nach West-Berlin, wo sie sich politisch organisierten, aber auch die im Gottesstaat unterdrückten kulturellen Traditionen am Leben hielten. In Dutzenden von Vereinen und Initiativen haben sich Neubürger aus aller Welt inzwischen organisiert und vertreten ihre Interessen.
Mit einem Integrationsfonds fördert der Bezirk ihre Anliegen und Ideen auch finanziell. Ansprechpartner und Interessenvertreter im Rathaus ist der Integrationsbeauftragte des Bezirks mit seinem Team. Seine Position innerhalb der Verwaltung wurde 2021 durch ein neues Integrationsgesetz des Landes gestärkt. Er kann jetzt auf allen Ebenen der Verwaltung aktiv werden, um mehr Teilhabe und Integration von Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu befördern. In Zukunft, so das Ziel, soll die Verwaltung auf die Buntheit des Lebens im Bezirk besser reagieren können, weil sie in ihrer Zusammensetzung noch näher dran ist am wirklichen Leben.

Berliner Moschee

Ahmadiyya-Moschee

Ein schlankes weißes Minarett überragt die stattlichen Straßenbäume an der Berliner, Ecke Briennerstraße und lenkt den Blick auf die Kuppel, Zinnen und Türmchen des ältesten erhaltenen Moscheebaus in Deutschland. Er wurde 1924 bis 1928 von der damals noch in Britisch-Indien ansässigen Lahore Ahmadiyya Bewegung gebaut, um einen würdigen Gebetsort für die in Berlin weilenden Muslime zu schaffen. Der Berliner Architekt Karl Alfred Herrmann orientierte sich dabei am indischen Mogulstil nach dem Vorbild des Taj Mahal. Vom ersten Tag an war das exotische Gebäude ein offenes Haus, das Muslime aller Länder und Glaubensrichtungen zum Gebet einlud. Auch Anhänger anderer Religionen und Freidenker waren als Gäste und Gesprächspartner immer willkommen. Lediglich „von politischen Unterhaltungen jeder Art bittet die Moslemische Gemeinschaft abzusehen“, so hieß es bereits 1929 in einem Zeitungsporträt über das Gotteshaus. Sein damaliger Geschäftsführer, der Schriftsteller und Koran-Übersetzer Hugo („Hamid“) Marcus war vom Judentum zum Islam konvertiert, blieb aber Mitglied der Jüdischen Gemeinde und setzte sich weiterhin für die Rechte von Homosexuellen ein. Muslimische Glaubensbrüder halfen ihm 1938 bei der Flucht vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung in die Schweiz.
Die im Zweiten Weltkrieg stark zerstörte, notdürftig wiederaufgebaute Moschee wurde in den letzten Jahren denkmalgerecht wiederhergestellt und ist heute ein strahlendes Symbol für religiöses Miteinander und Toleranz. Ein paar Häuser weiter macht ein hölzerner Glockenturm am Straßenrand auf die 1967 eingeweihte Christianskirken aufmerksam, das schlichte Gotteshaus der dänischen Auslandsgemeinde in der Brienner Straße 12. Ein Hauch von Russland in Berlin weht um die Zwiebeltürmchen der russisch-orthodoxen Kirche am Hohenzollerndamm 66. Sie wurde in der NS-Zeit auf Staatskosten als Ersatz für ein abgerissenes Kirchengebäude errichtet und 1938 eingeweiht. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führte zu Spannungen in der Gemeinde und stellte das religiöse Miteinander auf die Probe: Nicht nur die ukrainischen Gemeindemitglieder, auch viele Russischstämmige lehnten den prorussischen und antiwestlichen Kurs des Moskauer Kirchenoberhaupts Kyrill I. ab.

Dienstgebäude Hohenzollerndamm, Stand 7/2020

Bürgeramt am Hohenzollerndamm 177

Seit 1970 ist das kroatische Split Partnerstadt von Wilmersdorf. Seinerzeit waren jugoslawische Restaurants in Berlin groß in Mode und deutsche Touristen machten sich in ihren Autos auf den Weg an die Adria. Zum 30-jährigen Jubiläum der Städtepartnerschaft stiftete die Stadt Split ein Denkmal, das vor dem Bürgeramt am Hohenzollerndamm 177 kaum zu übersehen ist. Überlebensgroß und nachdenklich steht da in Bronze der größte Sohn der UNESCO-Welterbestadt, einen dicken Folianten in den Händen: der kroatische Nationaldichter und Renaissancegelehrte Marko Marulic.

Das Verwaltungsgebäude am Hohenzollerndamm wird auch Flüchtlingsbürgeramt genannt, weil sich dort die Meldestelle für Geflüchtete befindet. In einem kleinen Theatersaal hat das Deutsch-jüdische Theater einen festen Spielort. 2001 wurde es an dieser Stelle unter dem Namen Bimah von dem Theaterregisseur Dan Lahav gegründet, vagabundierte jahrelang durch Berlin und kehrte nach Lahavs Tod 2017 an den Hohenzollerndamm zurück, unterstützt vom Kulturamt des Bezirks. In dem kleinen Team, das den Theaterbetrieb am Leben hält, arbeiten Menschen mit jüdischem, christlichem und muslimischem Hintergrund zusammen.

Kunst und Kommunalverwaltung wohnen hier Tür an Tür. Die Kommunale Galerie hat seit 1974 ihre Ausstellungsräume am Hohenzollerndamm. In der Artothek kann man sich Kunstwerke ausleihen und zu Hause an die Wand hängen. Gebaut wurde das große Bürohaus mit seiner konkav geschwungenen Fassade 1930 bis 1935 für den Deutschen Versicherungskonzern nach Plänen von Emil Fahrenkamp, dessen Shell-Haus am Landwehrkanal zu den Ikonen der Zwanziger-Jahre-Architektur in Berlin zählt. Die Mischnutzung des Bürohauses geht darauf zurück, dass es in der Nachkriegszeit als räumliche Ergänzung zum damaligen Rathaus Wilmersdorf auf der anderen Seite der Brienner Straße in Beschlag genommen wurde. Das Haus Fehrbelliner Platz 4 war Teil eines großen Verwaltungszentrums, das für nationalsozialistische Behörden und Organisationen errichtet wurde. Man sieht der ins Monumentale gesteigerten neuklassizistischen Formensprache der Architektur diese Herkunft noch an. Geplant für die Hauptverwaltung der Deutschen Arbeitsfront, zog 1943 die Wehrmacht-Verwaltungsstelle des Oberkommandos des Heeres in das Haus am Fehrbelliner Platz 4 ein. Von 1945 bis 1953 war es unter dem Namen „Lancaster House“ das Hauptquartier der britischen Besatzungsmacht in Berlin. Danach diente es als Rathaus für den Bezirk Wilmersdorf, bis 2014 dieser Standort aufgegeben wurde, um Kosten zu sparen.

Sieben Schwaben

Schwaben, Preußen, Asiaten

Das Kunstamt Wilmersdorf bewies Sinn für Humor, als es 1981 die Sieben Schwaben aus dem Grimmschen Märchen so aufstellen ließ, als wären sie geradewegs auf dem Weg ins damalige Rathaus. In bester Laune trotzen sie auf dem Mittelstreifen am Fehrbelliner Platz dem tosenden Verkehr: der Herr Schulz vorneweg, der Jackli, der Marli, der Jergli, der Michal, der Hans und der Veitli. Die wilden Kerle aus Stahlblech, geschaffen von dem Bildhauer Hans-Georg Damm, schleppen eine fünf Meter lange Hellebarde, als wollten sie die Amtsschimmel im Rathaus auf Trab bringen. In West-Berlin stellten die Schwaben eine der größten Zuwanderergruppen, schon weil man hier von der bundesdeutschen Wehrpflicht befreit war. Durch besondere Tapferkeit zeichnen sich die Sieben Schwaben auch im Grimmschen Märchen nicht aus. Einen richtigen Schrecken aber jagte das 25 Tonnen schwere Kunstwerk der Verkehrsverwaltung ein. Zu groß sei die Gefahr, befanden die Ordnungshüter, dass eines Tages jemand von der Fahrbahn abkommen und aufgespießt werden könnte, ein Motorradfahrer auf der Überholspur zum Beispiel. Erst nachträglich wurden die schweren Jungs auf ihren meterhohen Betonsockel gehoben.

Borussia im Preußenpark, 9.6.2007, Foto: KHMM

Borussia

Nebenan im Preußenpark stützt sich eine behelmte Kriegerin aus Marmor auf ein halb weggebrochenes Schwert. Diese Allegorie des preußischen Staates schuf 1885 der Bildhauer Reinhold Begas. Aus dem Zeughaus wurde die Borussia erst 1936 in den Preußenpark verpflanzt und dort 1981 durch eine Kopie ersetzt. Die Aufstellung der Borussia folgte also der Namensgebung der Grünanlage, die 1905 angelegt worden war und zunächst Preußenplatz hieß. Über den Bezirk hinaus berühmt und zu einem Kampfplatz der Kommunalpolitik wurde der Preußenpark durch den sogenannten Thaimarkt. Schon seit den 1990er-Jahren entwickelte sich dort ein Begegnungsort der asiatischen Community in Berlin: Man traf sich am Wochenende zum Kochen unter freiem Himmel, der würzige Duft der Leckereien lockte immer mehr Berliner und Touristen an, bis zuletzt der Park dem Massenansturm nicht mehr gewachsen war. Anwohner waren genervt, die Müllberge wuchsen, das Gras verschwand. Das Markttreiben war nicht legal, wurde aber von den Behörden geduldet.

Nelson Mandela Schule - Pfalzburger Str

Nelson-Mandela-Schule

Über den Schultoren lacht freundlich der südafrikanische Freiheitskämpfer und Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela. Die nach ihm benannte Schule wurde im Jahr 2000 vom Berliner Senat gegründet. Die begehrten Schulplätze in der Pfalzburger Straße 30 gehen vor allem an Kinder mit deutscher oder englischer Muttersprache, die dauerhaft in der Hauptstadt leben, und an Kinder aus „hochmobilen“ Familien. Dazu zählen etwa Beschäftigte in diplomatischen Vertretungen. Von der ersten bis zur dreizehnten Klasse wird zweisprachiger Unterricht angeboten, und in der Oberstufe kann man sich entscheiden, ob man die Schullaufbahn mit einem bilingualen Abitur oder einem englischsprachigen International Baccalaureate Diploma (IB) abschließen will. Als staatliche Schule erhebt die Nelson-Mandela-Schule kein Schulgeld. Als „UNESCO-Projektschule“ und Mitglied des „European Council of International Schools“ ist sie weltweit vernetzt.

Der in Kalifornien lebende Komponist Hans Zimmer, mehrfacher Oscar- und Grammy-Preisträger, finanzierte 2020 eine Gedenktafel an der Fassade der Nelson-Mandela-Schule. In ihren Kellerräumen befand sich von 1968 bis 1984 das Electronic Beat Studio, die Keimzelle der sogenannten „Berliner Schule“ für elektronische Musik. Wegbereiter neuer elektronisch erzeugter Klangwelten wie Klaus Schulze oder Edgar Froese, der mit seiner Band Tangerine Dream weltberühmt wurde, haben in der Pfalzburger Straße experimentiert. Was dort an Neuem entstand, blieb in der internationalen Musikwelt stärker in Erinnerung als in Berlin. Nach dem Auszug des Electronic Beat Studios rockten in den Kellerräumen Bands der Neuen Deutschen Welle wie Ideal oder die Neonbabies. Die damals noch unbekannte Band Rammstein spielte dort Demos für ihr Debutalbum „Herzeleid“ ein.

Güntzelstraße Ecke Trautenaustraße

Güntzel-, Ecke Trautenaustraße

Die Güntzelstraße heißt seit 1893 nach einem preußischen Oberstleutnant, der in seinen letzten Lebensjahren Gemeindevorsteher von Deutsch-Wilmersdorf war. Trautenau ist ein kleiner Ort in Böhmen, um den 1866 eine blutige Schlacht zwischen preußischen und österreichischen Truppen tobte. Wo die Güntzel- und Trautenaustraße sich treffen, hat sich ein Geschäftsleben etabliert, von dem Feinschmecker anderswo in Berlin nur träumen können: Biobäckerei, Fleischerei, Weinhandlung, Käseladen und ein Delikatessengeschäft, reihen sich unwiderstehlich aneinander; man kann auch griechisch, indisch, vietnamesisch essen gehen. Eine gut sortierte kleine Buchhandlung und ein Modegeschäft komplettieren das Angebot für Schöngeister. Savoir-vivre in Wilmersdorf!

In dem Eckhaus Trautenaustraße 12 ganz oben hatte der Maler und Grafiker George Grosz bis 1933 sein Atelier, eine Gedenktafel erinnert daran. Vor den Nationalsozialisten, die seine Kunst für „entartet“ hielten, floh Grosz ins Exil nach New York und nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Für die russische Dichterin Marina Zwetajewa und ihre Tochter wurde die Trautenaustraße 9 im Jahr 1922 zur Exiladresse. Während sie zuvor in Moskau kaum wahrgenommen worden war, wurde sie in Berlin als bedeutende Dichterin empfangen, umworben und gefeiert. Hunderttausende russische Bürgerkriegsflüchtlinge lebten damals in Berlin, zeitweise gab es 80 russische Exilverlage, innerhalb eines Jahres wurden fünf Gedichtbände Zwetajewas gedruckt. Die Gedenktafel in deutscher und russischer Sprache in der Trautenaustraße ist fast die einzige Markierung, die an das „Charlottengrad“ der Zwanzigerjahre erinnert.

Kirche am Hohernzollernplatz

Kirche am Hohenzollernplatz

Jeden Samstag ist Wochenmarkt am Hohenzollernplatz. Um die Mittagszeit öffnet die mächtige Backsteinkirche ihre Pforten zu einer An – dacht mit Vokalkonzert. Zum Noon Song ist das Kirchenschiff jedes Mal bis auf den letzten Platz gefüllt. Seit dem 1. November 2008 singt das professionelle Ensemble sirventes berlin unter der Leitung von Stefan Schuck jede Woche bei freiem Eintritt auf höchsten Niveau. Inspiriert wurde diese neue Wilmersdorfer Tradition durch Meditationen mit Gesang, wie sie in Klöstern üblich waren und bis heute in der anglikanischen Kirche ihren festen Platz haben. Träger dieses ungewöhnlichen Projekts ist ein Förderverein, der Spenden dafür sammelt, während die Kirchengemein – de den Ort dafür stellt.

Einen stimmungsvolleren Rahmen könnte es nicht geben: Von beiden Seiten strömt farbiges Licht in den Innenraum, der wie ein umgekehrter Schiffsrumpf geformt ist. Die Kirche am Hohenzollerndamm wurde 1930–1933 gebaut und zählt zu den beeindruckendsten Sakralbauten jener Zeit. Von außen wirkt sie mit ihrer Klinkerfassade und dem schlanken Turm wie ein Industriebau, was ihr den Beinamen „Kraftwerk Gottes“ eingetragen hat. Die Pläne dafür eingereicht hat der bekannte Hamburger Architekt Fritz Höger. Er trat 1932 in die NSDAP ein und entließ wenig später seinen jüdischen Büromitarbeiter Ossip Klarwein. Inzwischen gilt der in Warschau geborene Klarwein als wesentlicher Urheber der Kirche am Hohenzollernplatz. Klarwein emigrierte nach Palästina, wo er viele öffentliche Bauten plante und 1957 den Wettbewerb für einen Neubau der Knesset, des israelischen Parlaments, gewann.

Gänselieselbrunnen 17.8.2010, Foto: KHMM

Nikolsburger Platz

„Achtet auf Eure Nachbarn“, mahnt eine Glasstele am Nikolsburger Platz. Zwischen 1941 und 1944 wurden mindestens 110 jüdische Menschen aus der Nachbarschaft deportiert und ermordet. Die Cecilienschule am Nikolsburger Platz war damals eine Mädchenschule, bis 1939 musste rund die Hälfte der Kinder sie verlassen, weil sie aus jüdischen Familien stammten. Heute ist die Cecilienschule eine gemischte Grundschule. Man hört am Nikolsburger Platz auch viele spanisch sprechende Kinder, denn der Träger „Aventura Nikolsburg“ betreibt um den Platz herum drei deutsch-spanische Kitas.
Ein Kinderbuch hat dem Platz zu Berühmtheit weit über Wilmersdorf hinaus verholfen: In Erich Kästners Roman „Emil und die Detektive“ planen die Kinder aus dem Kiez dort die Verfolgungsjagd, die schließlich zur Verhaftung eines Diebes führt. Nicht erwähnt wird im Roman der Gänselieselbrunnen auf dem Platz. Das Motiv geht auf ein Märchen der Brüder Grimm zurück. 1910 aufgestellt, wurden die Brunnenfiguren im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen und 1988 wieder durch Kopien ersetzt. Noch ein weiteres Kinderbuch ist eng mit dem Nikolsburger Platz verbunden, es ist nämlich hier in der Cecilien-Grundschule aus einem Schüler-Projekt entstanden. Die Grafic Novel „Das Mädchen Susi“ von Birgitta Behr verarbeitet die Geschichte von Susi Collm, der Enkelin von Gertrud Cohn, die im Haus Nr. 4 lebte und in Treblinka ermordet wurde. Das Buch berichtet kindgerecht über die Verfolgung, das Verstecken und die Trennung der Familie in der Zeit des Holocaust. Inzwischen gibt es die Geschichte auch als Theaterstück und als Film.

Um den Märchenbrunnen blüht es vom Frühjahr bis Herbst prächtig, dank einer Anwohnerinitiative, die seit 2013 die Bepflanzung des Nikolsburger Platzes übernommen hat. Im ersten Jahr wurden schon rote Beete, Kürbisse und Tomaten geerntet. Das Konzept „Nikolsburger Platz zum Essen“ ging allerdings dauerhaft nicht auf – wegen der pinkelnden Hunde vor allem. Heute blühen hier in erster Linie Zierpflanzen, die Kräuter sind weniger zum Verzehr als für die Insekten da.

Das Pangea-Haus im neuen Anstrich

Pangea-Haus

Der Zentralrat der Russen in Berlin und Brandenburg und der Zentralverband der Ukrainer in Deutschland unter einem Dach, gemeinsam mit der Iranischen Gemeinde in Deutschland, einem brasilianischen Kulturzentrum und dem Sudanclub – das ist das Pangea-Haus in der Trautenaustraße 5. Der Name geht auf den Urkontinent Pangea zurück, aus dessen Zerfall die heutigen Weltkontinente hervorgegangen sind. Auf sechs Etagen arbeiten insgesamt 24 Vereine und Bildungsträger, deren Angebote sich an Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte richten. Dazu gehören eine Nachhilfeschule ebenso wie eine Schuldnerberatung und ein Projekt der Wohnungslotsenhilfe.
Seit 2009 gibt es diesen interkulturellen Begegnungsort. Die Gründung des Hauses geht auf Azize Tank zurück, die von 1990 bis 2009 Ausländer- bzw. Migrantenbeauftragte im Bezirk war. 1972 kam sie aus Istanbul in die Oberpfalz, arbeitete zunächst in einer Porzellanfabrik, zog dann nach Berlin, wurde 1975 Mitglied des türkischen Frauenvereins und kümmerte sich seit 1982 in dem von ihr mitbegründeten interkulturellen Verein Lisa e. V. und im Mädchen- und Frauenladen in der Charlottenburger Christstraße um türkische Frauen und Mädchen, die sie unter anderem im Lesen und Schreiben unterrichtete. 2013 zog Azize Tank als parteilose Abgeordnete für Die Linke in den Bundestag ein.
Das Pangea-Haus gehört dem Bezirk, der das Haus von 2019 bis 2021 sanieren und die Nutzung neu ausschreiben ließ. Seitdem präsentiert das Pangea-Haus sich einladender, öffnet sich mit seinem Café zur Trautenaustraße hin und weckt die Neugier, was in diesem einzigartigen Gebäude vor sich geht.

Prager Platz

Prager Platz

Auf dem Weg vom Pangea-Haus zum Prager Platz steht kurz vor der Bundesallee unauffällig eine Litfaßsäule. Das Exemplar ist neu, hatte aber eine Vorgängerin, die den Illustrator Walter Trier zu dem Cover für Erich Kästners Roman „Emil und die Detektive“ inspirierte. Die Bundesallee hieß früher Kaiserallee, an der Ecke Trautenaustraße steigen die Romanfigur Emil Tischbein und der Dieb Grundeis aus der Straßenbahnlinie 177. Emil schließt Freundschaft mit den Kindern aus dem Kiez, die ihm dabei helfen, den Dieb zu fangen. In der Entstehungszeit des Romans wohnte der Autor Erich Kästner um die Ecke am Prager Platz, daran erinnern ein Wandbild und eine Gedenktafel am Haus Prager Straße 6–10, in dem eine Kindertagesstätte untergebracht ist. Der kreisrunde Prager Platz ist das städtebauliche Gegenstück zum Nikolsburger Platz und dank der Planungen für die Internationale Bauausstellung von 1987 wieder ein belebter Kieztreffpunkt mit mehreren Straßencafés. In den 1920er Jahren befand sich an der Ecke Trautenaustraße die „Prager Diele“, ein Treffpunkt von Schriftstellern und Intellektuellen aus Prag und russischen Exilanten. Seit 2007 steht auf der gegenüberliegenden Straße eine von dem tschechischen Bildhauer Miroslav Vochta gestaltete Granitstele, ein Geschenk der Stadt Prag und des tschechischen Volkes. 2015 wurde ein ähnlicher Granitblock in Prag eingeweiht. Beide tragen eine Inschrift in roter Schrift, deutsch und tschechisch; es sind Verse des in Prag geborenen Dichters Rainer Maria Rilke: Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft werden weniger …… Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen.

Route Wilmersdorf

Route Wilmersdorf

Den Stadtspaziergang gibt es auch auf komoot. Weitere Informationen sind auf der Webseite von komoot zu finden.