267. Kiezspaziergang: Wilmersdorf 1945 – Spuren von Krieg, Leid und Neuanfang

Friedhof Wilmersdorf Berliner Straße mit Baum

Herzlich willkommen! Mein Name ist Detlef Wagner, der stellvertretender Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf und Leiter der Abteilung Jugend und Gesundheit und begrüße Sie alle recht herzlich zu unserem 267. Kiezspaziergang.

Am 8. Mai 2025 jährte sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 80. Mal. Aus diesem Anlass bietet der Kiezspaziergang die Gelegenheit, Spuren dieser Zeit in Wilmersdorf zu entdecken. Im Mittelpunkt stehen dabei Geschichten von Zerstörung und Überleben, von Verfolgung und Neubeginn – und wie der Stadtteil nach dem Krieg wieder zum Leben fand.

Bevor es aber losgeht, schon einmal der Hinweis auf den nächsten Kiezspaziergang am Samstag, 14. Juni, um 14 Uhr. Anlässlich des langen Tags der Stadtnatur besuchen wir die Mierendorffinsel. Bezirksbürgermeisterin Kirstin Bauch übernimmt die Führung. Treffpunkt ist am Brunnen am Mierendorffplatz.

Wilmersdorf war in der Weimarer Republik ein bürgerlich geprägter, lebendiger Stadtteil mit einem hohen Anteil jüdischer Bevölkerung. Künstler, Intellektuelle und politisch Engagierte prägten das Viertel. Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten veränderte sich das Leben hier radikal. Verfolgung, Vertreibung und Gewalt hielten auch in Wilmersdorf Einzug.

Viele jüdische Familien mussten ihre Wohnungen verlassen, gingen ins Exil oder wurden deportiert. Die Synagogen des Bezirks wurden in der Reichspogromnacht 1938 zerstört. Rund um den Fehrbelliner Platz entstanden NS-Verwaltungsbauten, in Grunewald begann wenig später die organisierte Deportation jüdischer Menschen. Auch der Alltag im Stadtteil wurde von den Mechanismen der Diktatur durchdrungen – durch Zwangsarbeit, Gleichschaltung und Jugendorganisationen wie die Hitlerjugend.

Wenn wir heute durch unseren Kiez spazieren, durch Straßen mit gewohnten Namen und vertrauten Fassaden, fällt es schwer, sich vorzustellen, welche Umbrüche, Erschütterungen und Traumata dieser Ort im Frühjahr 1945 erlebt hat.

Die letzten Kriegstage Ende April 1945 waren von schweren Kämpfen und Bombardierungen geprägt, bis Berlin am 2. Mai kapitulierte. Der 8. Mai markierte das Ende des Krieges – für die einen war es Niederlage, für andere Befreiung. Doch der Alltag nach dem Waffenstillstand war von Chaos, Zerstörung und Not geprägt.

In Wilmersdorf, wie in ganz Berlin, fehlte es an Wohnraum, Wasser, Strom, Lebensmitteln – das Überleben wurde zur zentralen Herausforderung. Hinzu kamen hunderttausende Flüchtlinge, die durch die Stadt zogen.

Die ersten Begegnungen mit der sowjetischen Besatzungsmacht waren für viele Menschen ambivalent. Neben Hilfsaktionen und Bemühungen um Ordnung, kam es auch zu massiven Plünderungen und sexualisierter Gewalt, die Frauen – aber auch Männer und Kinder – durch alliierte Soldaten erleiden mussten.

Über die große Zahl an Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten ist inzwischen öffentlich mehr bekannt, wenn auch oft vereinfacht und instrumentell dargestellt. Weniger präsent im kollektiven Gedächtnis ist, dass auch amerikanische, französische und britische Soldaten sexuelle Gewalt verübten.

Trotz aller Herausforderungen gelang es unter der Leitung des sowjetischen Stadtkommandanten Nikolai Bersarin, erste Schritte zur Versorgung der Bevölkerung und zur Wiederinstandsetzung der Infrastruktur einzuleiten.

Nach dem Krieg blieb Wilmersdorf lange von den Bombardierungen gezeichnet, fast die Hälfte aller Wohnungen war zerstört. Der Wiederaufbau orientierte sich vielfach an verkehrstechnischen Interessen – nicht immer zum Vorteil des Stadtbildes.
Unser Spaziergang führt uns zu ausgewählten Stationen zwischen Wilhelmsaue, Bundesallee und Bundesplatz.

Wir machen Halt an Gedenkorten, historischen Gebäuden und auf den ersten Blick unscheinbaren Orten, die eng mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegsjahre verbunden sind.
Wir gehen jetzt ein paar Meter weiter zu den Grabfeldern für die Kriegsopfer.

267. Kiezspaziergang Friedhof Wilmersdorf

Friedhof Wilmersdorf

Wir beginnen unseren Spaziergang an einem stillen Ort – dem Friedhof Wilmersdorf. Ein Ort der Trauer, aber auch der Erinnerung. Hier liegen über zweitausend Menschen begraben, die in beiden Weltkriegen ums Leben kamen. Darunter Soldaten und Zivilistinnen, Frauen, Männer und Kinder. Drei große Sammelgräber machen das Ausmaß des Leids sichtbar, das der Zweite Weltkrieg über Berlin brachte.

Der 8. Mai 1945 markiert das Ende des Krieges. Doch was bedeutete das konkret? Für Berlin: eine Trümmerlandschaft. Weite Teile der Stadt lagen in Schutt und Asche. Auch hier auf dem Friedhof wurden Spuren der Zerstörung sichtbar: Die einstige Friedhofskapelle, ein prachtvoller Klinkerbau aus dem Jahr 1887, wurde im Krieg schwer beschädigt und nach dem Kriegsende abgetragen. Ihr Standort ist heute nur noch zu erahnen – mit Rhododendron bepflanzt, bleibt er ein stiller, fast versteckter Hinweis auf das, was verloren ging.

Der Friedhof wurde ursprünglich im Jahr 1885 als Begräbnisstätte der Landgemeinde Deutsch-Wilmersdorf angelegt – damals nur ein Hektar groß. Heute erstreckt er sich über mehr als zehn Hektar. Er ist nicht nur ein Ort des Abschieds, sondern auch ein Stück Stadtgeschichte: mit alten Alleen, monumentalen Wandgräbern und Mausoleen. Viele dieser kunstvoll gestalteten Gräber stammen aus der Kaiserzeit – und doch sind es die Grabfelder für die Kriegsopfer, die bis heute besonders berühren.

Diese Felder wurden nach Kriegsende angelegt, um den vielen Toten einen würdigen Ort zu geben. Viele der hier Ruhenden blieben namenlos, und ihre Angehörigen erfuhren nie, wann und wo sie gestorben sind. Sie erinnern an das Leid des Krieges – leise, aber eindringlich. Die Gräber unterliegen dem sogenannten Gräbergesetz. Es verpflichtet uns, diese Stätten dauerhaft zu erhalten – als Mahnung an die Folgen von Krieg und Gewalt, und als Ort des kollektiven Erinnerns.

Unsere nächste Station ist Wilhelmsaue 39. Dazu gehen wir entlang der Berliner Straße, biegen rechts in die Mannheimer Straße ein und dann links in die Wilhelmsaue.

267. Kiezspaziergang Wilmhelmsaue 39-40

Wilhelmsaue 39/40

Wir stehen hier vor einem Ort, der heute ganz unscheinbar wirkt – einem ganz normalen Gebäude in der Wilhelmsaue 39/40. Doch während des Zweiten Weltkriegs war dies ein Zwangsarbeiterlager.

Auf der Tafel steht:
„An diesem Ort befand sich im
Zweiten Weltkrieg ein vom
Bezirksamt Wilmersdorf geleitetes
Zwangsarbeiterlager.
Über 50 Menschen aus Polen, Jugoslawien,
der Tschchoslowakei, Frankreich und den
Niederlanden waren hier untergebracht.
Die Bezirksverwaltung Wilmersdorf
setzte sie bei der Trümmerbeseitigung
und anderen kommunalen Aufgaben ein.
Zwangsarbeit war Teil der national-
sozialistischen Kriegswirtschaft und
im Berliner Alltag unübersehbar.

Mehr als 50 Menschen lebten und arbeiteten hier unter Zwang. Sie kamen aus Polen, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Frankreich und den Niederlanden. Sie mussten für den Bezirk Wilmersdorf arbeiten – vor allem nach Luftangriffen: bei der Trümmerbeseitigung, der Bergung von Toten und bei der Versorgung der Bombenopfer.

Ein Beispiel ist der damals 15-jährige Józef Rosiński aus Polen. Er wurde 1943 nach Berlin verschleppt und hier untergebracht. In einem späteren Brief beschreibt er, wie er Tote aus Ruinen holen und verletzte Menschen versorgen musste:

„Zu unseren Pflichten gehörte auch die Enttrümmerung der Straßen und Kreuzungen sowie die Beseitigung der Toten, um einer Epidemie vorzubeugen. Darunter waren auch Pferde, welche nach dem Transport an den Stadtrand von der Haut beseitigt/befreit in Bombentrichtern von uns begraben wurden. Nach den Anflügen suchten wir zuerst die toten Einwohner von Berlin.“

Die Unterbringung erfolgte meist notdürftig – nicht in eigenen Baracken, sondern in ungenutzten Gebäuden. Vielleicht war es früher ein Wohnhaus oder eine Gaststätte. Genaueres wissen wir nicht, denn viele Unterlagen fehlen oder wurden nie geführt.

Doch fest steht: Das Lager war Teil eines riesigen Systems. In ganz Berlin gab es fast 3.000 solcher Lager – in Hinterhöfen, auf Firmengeländen, in Kirchen und Verwaltungsgebäuden. Etwa eine halbe Million Menschen mussten hier unter Zwang arbeiten.

Nach dem Krieg wurde dieser Ort lange vergessen. Erst 2017 brachte die Berliner Geschichtswerkstatt eine provisorische Gedenktafel an. 2021 folgte dann eine dauerhafte Tafel – angebracht vom Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf.

Mit dieser Tafel übernimmt der Bezirk heute Verantwortung. Sie soll erinnern – an die Menschen, die hier litten. Und daran, dass Zwangsarbeit nicht nur in Fabriken stattfand, sondern mitten in der Nachbarschaft.

Unsere nächste Station ist das Kino Eva Lichtspiele. Dazu gehen wie die Wilhelmsaue entlang biegen rechts in die Blissestraße ein und treffen uns vor der Hausnummer 18 wieder.

267. Kiezspaziergang Eva-Lichtspielhaus

Eva Lichtspiele

Dieses kleine Kino in der Blissestraße ist eine echte Berliner Institution. Gegründet wurde das Kino 1913 unter dem Namen „Roland Lichtspiele“. Schon in den frühen Jahren war es ein Ort der besonderen Atmosphäre. Die Filme liefen zunächst mit Live-Musikbegleitung – erst durch eine einzelne Violinistin, später sogar durch ein ganzes Orchester. Das war damals durchaus üblich, aber nicht in jedem kleinen Kino so aufwendig umgesetzt.

Das Kino gehörte zu den vielen kleinen Lichtspielhäusern, die sich damals in Wohnhäusern befanden. 1924 gab es allein in Wilmersdorf elf, drei Jahre später bereits siebzehn. In unmittelbarer Nähe der Eva Lichtspiele entstanden in den späten 1920er Jahren auch große Kinos wie das „Atrium“ oder das „Universum“. Der Wettbewerb nahm deutlich zu.

In den 20er und 30er Jahren wandelte sich dieses Kino: Es bekam seinen heutigen Namen „Eva Lichtspiele“, benannt nach der Frau des damaligen Betreibers.

Und es stellte früh auf Tonfilm um – ein mutiger Schritt, denn die Umrüstung war teuer für so ein kleines Kino war das eine große Investition. Es gab auch Kritik an der neuen Technik: „Tonfilm ist Kitsch“, hieß es in Flugblättern, „geistiger Mord“. Doch die Eva Lichtspiele gingen mit der Zeit.

Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, wurde auch das Kino Teil des NS-Kontrollsystems. Die Filmproduktion und das Kinoprogramm wurden nun zentral gesteuert.

Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, übernahm die Kontrolle über die gesamte deutsche Filmindustrie. Sein Ziel: Kino als politisches Instrument. Die Inhalte wurden streng zensiert. Zwar dominierte auf den ersten Blick die scheinbar harmlose Unterhaltung – Komödien, Heimatfilme, Melodramen –, doch diese waren Teil einer Strategie. Denn auch Unterhaltung erfüllte im Nationalsozialismus eine politische Funktion: Sie sollte von der Realität ablenken, das Regime stabilisieren und unterschwellig seine Werte vermitteln.

Konkrete Filmtitel, die im Eva-Lichtspiele zu der Zeit liefen, sind leider nicht überliefert. Das Programm bestand wahrscheinlich aus einer Mischung aus Unterhaltungs- und Propagandafilmen – wie in allen deutschen Kinos jener Zeit.

Dann kam der Krieg. Und mit ihm eine Realität, die für viele kaum zu ertragen war. Bombennächte, Hunger, Angst. In dieser dunklen Zeit wurde das Kino zu einem Zufluchtsort. In einer Zeit, in der Theater, Schulen und andere Kultureinrichtungen schließen mussten, blieben Kinos geöffnet – mit politischer Absicht.

Selbst der Umbau von Kinos in Lazarette wurde verhindert, obwohl diese dringend benötigt wurden. Noch 1944 waren in Berlin Flak-Truppen zum Schutz von Kinos abgestellt. Dennoch sind viele Kinos in Berlin beschädigt oder zerstört worden. Trotz Luftangriffen und Stromausfällen konnte der Betrieb in den Eva Lichtspielen aber offenbar fast durchgehend aufrechterhalten werden. In einem der wenigen erhaltenen Fotos aus der frühen Nachkriegszeit sieht man Menschen in der Schlange an der Kinokasse stehen.

Nebenan war das Wohnhaus völlig zerstört – das Kino aber spielte weiter.

Für viele Menschen war der Kinosaal in Kriegszeiten ein Ort der Ablenkung. Während draußen der Bombenkrieg tobte, bot das Kino eine kurze Flucht aus dem bedrückenden Alltag.

Wir gehen zurück zur Berliner Straße, wechseln an der Apel die Straßenseite und treffen uns Ecke Uhlandstraße.

267. Kiezspaziergang Gedenktafel Mittelstreifen Uhlandstraße

Gedenktafel für einen ermordeten Deserteur in Wilmersdorf - Mittelinsel vor Uhlandstraße 103

Die Gedenktafel für einen ermordeten Deserteur in Wilmersdorf, um die es hier geht, steht auf der Mittelinsel der Uhlandstraße. Da wir dort nicht alle Platz haben, erzähle ich Ihnen hier etwas darüber. Wenn wir gleich über die Ampel gehen, können Sie sich die Gedenktafel anschauen.

Auf der Tafel steht:
Hier wurde in den letzten Tagen des April 1945
ein 17-Jähriger von Nationalsozialisten erhängt.
Zur Erinnerung an ihn und alle anderen,
die sich der Teilnahme am Krieg verweigerten
und deshalb ermordet wurden.

Ein 17-jähriger Junge wurde von SS-Männern erhängt. Man hatte ihn in einem Keller versteckt gefunden – ob er tatsächlich zur SS gehörte oder nur eine SS-Uniform trug, weil er nichts Anderes hatte, ist bis heute unklar. Sicher ist: Er wollte nicht mehr kämpfen.

Der Krieg war längst verloren. Die Rote Armee stand kurz vor dem Alexanderplatz. Die Lage war aussichtslos – doch das NS-Regime klammerte sich bis zuletzt an seine Macht. Es befahl: „Bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone!“ Selbst Jugendliche wurden noch zwangsverpflichtet. Wer sich dem widersetzte, riskierte sein Leben.
So auch dieser 17-Jährige. Die SS schleifte ihn auf die Straße. Sie holten eine Wäscheleine, hängten ihn an eine Laterne. Um seinen Hals banden sie ein Schild: „Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen.“

Tagelang blieb seine Leiche hängen – zur Abschreckung.
Solche sogenannten „Endphaseverbrechen“ waren in den letzten Tagen des Krieges keine Ausnahme. SS-Chef Heinrich Himmler erließ noch im März 1945 einen Befehl, der die Kapitulation unter Todesstrafe stellte. Allein in Berlin wurden in den letzten Kriegswochen Hunderte hingerichtet, weil sie nicht mehr kämpfen wollten. Zwischen Januar und April 1945 erschoss die Wehrmacht über 270 eigene Soldaten allein in der Murellenschlucht in Ruhleben. Die tatsächliche Zahl der Opfer liegt wohl deutlich höher.

Auch nach dem Krieg wurden Deserteure lange Zeit nicht als Opfer gesehen, sondern als Feiglinge oder Vaterlandsverräter. Erst in den 1980er Jahren kam ein gesellschaftliches Umdenken in Gang. 1998, mehr als 50 Jahre nach Kriegsende, hob der Bundestag die Urteile der Standgerichte dann pauschal auf.

Unsere nächste Station ist die Auenkirche. Dazu gehen wir über die Ampel, biegen rechts ab in die Uhlandstraße und dann links in die Wilhelmsaue.

267. Kiezspaziergang Auenkirche

Auenkirche, Wilhelmsaue 119

Wenn wir vor diesem schönen Gebäude stehen, fragen wir uns: Wie sah die Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus aus?

Die historische Bilanz ist ernüchternd. Viele Pfarrer und Kirchenführer begrüßten 1933 den Aufstieg Hitlers. In der evangelischen Kirche herrschte breite Zustimmung. Viele waren sogar Mitglied in der NSDAP oder SA. Einige predigten offen für den Nationalsozialismus – und das von der Kanzel. Sie nutzten ihre geistliche Autorität, um politische Propaganda zu machen.

Warum? Ein wichtiger Grund war der gemeinsame Feind: der Kommunismus. Viele Kirchen fürchteten den Einfluss der politischen Linken mehr als den Rassismus der Nazis. Dazu kam ein tief verwurzelter Antisemitismus, der auch in der Theologie verbreitet war. Der Wunsch, kirchliche Strukturen zu erhalten, spielte ebenfalls eine Rolle. Man arrangierte sich – und schaute weg.

Selbst in der sogenannten Bekennenden Kirche, die sich gegen die Gleichschaltung der Kirchen wehrte, gab es viele, die Hitler persönlich verehrten.

Widerstand war selten. Doch es gab ihn. Der bekannteste Name ist Dietrich Bonhoeffer. Er war früh ein entschiedener Gegner des Regimes. Seine Texte, etwa aus der Haftzeit, gelten bis heute als wegweisend. Bonhoeffer wurde 1945 im KZ Flossenbürg ermordet.

Die katholische Kirche verhielt sich etwas zurückhaltender, aber auch sie protestierte kaum. Kardinal Adolf Bertram, der mächtigste Bischof seiner Zeit, versuchte die Interessen seiner Kirche zu wahren – nicht aber die der verfolgten Juden. Er gratulierte Hitler sogar öffentlich zum Geburtstag. In deutschen Bistümern blieb offener Widerspruch die Ausnahme.

Nach dem Krieg taten sich beide Kirchen schwer mit der Aufarbeitung. Zwar kam es 1945 zu ersten Schuldbekenntnissen

– etwa dem Stuttgarter Schuldbekenntnis der evangelischen Kirche – doch sie blieben vage. Stattdessen betonte man die eigene Opferrolle. Viele belastete Pfarrer blieben im Amt oder wurden einfach versetzt. Es dauerte Jahrzehnte, bis eine ehrliche Auseinandersetzung begann.

Heute erinnern Kirchen wie die Auenkirche nicht nur an die Opfer, sondern auch an das eigene Versagen. Gedenkgottesdienste, Stolperstein-Projekte, Ausstellungen und Schulprojekte zum Thema gehören zum kirchlichen Alltag.

Unsere nächste Station ist das Schoeler-Schlösschen. Dazu gehen wir die Wilhelmsaue einfach weiter.

267. Kiezspaziergang Schoeler Schlösschen

Schoeler-Schlösschen

Willkommen am Schoeler-Schlösschen – einem Ort mit einer langen Geschichte, aber auch mit einem dunklen Kapitel. In der Zeit des Nationalsozialismus war dieses Gebäude ein zentraler Ort zur Indoktrination von Kindern und Jugendlichen im Bezirk Wilmersdorf.

Im Jahr 1935 wurde das barocke Haus, das ursprünglich aus dem 18. Jahrhundert stammt, um ein zweites Stockwerk erweitert. Fortan diente es als Heim der Hitlerjugend – kurz HJ. Das war die zentrale Erziehungsorganisation des NS-Regimes. Hier trafen sich regelmäßig Jungen zu Veranstaltungen, Schulungen und Aufmärschen. Es ging nicht um Freizeitspaß, sondern um politische Erziehung im Sinne des Nationalsozialismus.

Auch ranghohe NS-Funktionäre kamen hier zusammen.
In der Umgebung fanden regelmäßig weitere NS-Veranstaltungen statt: Mädchen aus dem Bund Deutscher Mädel, dem weiblichen Pendant zur HJ, marschierten jedes Jahr zum nahegelegenen Schlageter-Denkmal – Leo Schlageter wurde von den Nationalsozialisten als „erster Soldat des Dritten Reiches“ verehrt. Der nahe Viktoriagarten wurde als NSDAP-Versammlungslokal genutzt, und in der heutigen Bundesallee saß die Inspektion der Konzentrationslager.

Das Schoeler-Schlösschen war somit Teil eines größeren Systems, das Jugendliche ideologisch prägen sollte – nicht nur durch Worte, sondern auch durch Symbole, Rituale und Gemeinschaftserlebnisse. Die HJ versprach Abenteuer, Lagerfeuer, Kameradschaft – aber diente nur einem Ziel: der systematischen Erziehung zum Nationalsozialisten.

Was das konkret bedeutete, hat Hitler selbst 1938 in einer Rede deutlich gemacht. Er sagte sinngemäß: Wenn Kinder mit zehn Jahren in die HJ kommen, geben wir sie nicht mehr zurück.

Sie durchlaufen die Organisation, dann die Partei, den Arbeitsdienst, das Militär – bis sie vollständig in die NS-Ideologie eingebunden sind.

Diese Strategie ging weit über klassische Erziehung hinaus. Sie zielte auf totale Kontrolle. Wer nicht mitmachte, galt schnell als Außenseiter – auch die Eltern standen unter Druck. Besonders perfide war: Die Jugendlichen wurden dazu gebracht, sich selbst zu disziplinieren, zu gehorchen, zu kontrollieren. Die NS-Führung wusste: Wer die Jugend hat, hat die Zukunft.

Mit dem Ende des Krieges 1945 endete auch die Nutzung des Schoeler-Schlösschens. Das Gebäude war stark beschädigt, das Dach halb zerstört. Noch im selben Jahr wurde ein Notdach errichtet, 1946 zog eine Kindertagesstätte ein – ein radikaler Wandel. Aus einem Ort der Gleichschaltung wurde ein Ort der Fürsorge. Die Kita blieb bis 2003.

Nach einem Brand stand das Haus danach lange leer. Erst ab 2006 wurde über neue Nutzungen diskutiert:

Eine Bibliothek war geplant, auch ein Kultursalon mit Ausstellungen und Veranstaltungen. Doch viele Projekte scheiterten an fehlender Finanzierung oder Konzepten.

Inzwischen wird das Schoeler-Schlösschen aufwendig saniert. Das aufgestockte NS-Dachgeschoss wurde wieder entfernt, die ursprüngliche barocke Gestalt wird wiederhergestellt. Bald soll hier ein barrierefreies Kultur- und Nachbarschaftszentrum entstehen – offen, kreativ, vielfältig.
Ein Ort, der heute für das Gegenteil von dem steht, was er einmal war: Begegnung statt Ausgrenzung, Teilhabe statt Kontrolle.

Wir gehen jetzt zur Prinzregentenstraße 69. Dazu biegen wir vorne an der Bundesallee links ab, gehen Ecke Badensche Straße nach rechts und dann nochmal rechts in die Prinzregentenstraße.

267. Kiezspaziergang Synagoge Prinzregentenstraße Wilmersdorf

Synagoge Prinzregentenstraße 69 (Gedenktafel)

Hier, in der Prinzregentenstraße 69/70, stand einst die große Synagoge von Wilmersdorf – ein bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens in diesem Stadtteil. Geweiht wurde sie am 16. September 1930. Der Bau war modern, rund und überkuppelt – eine bewusste architektonische Entscheidung, die das Gemeinschaftsgefühl der Gläubigen stärken sollte. Es war ein Ort für 2.300 Menschen, offen und liberal:

Es gab keine Geschlechtertrennung mehr, der Gottesdienst wurde von Orgelmusik begleitet – für viele ein Ausdruck der Zugehörigkeit zum deutschen Bürgertum.

Wilmersdorf war damals ein Zentrum jüdischen Lebens in Berlin. Etwa 13 Prozent der Bevölkerung waren jüdisch – so viel wie in kaum einem anderen Bezirk. Viele Familien waren wohlhabend, gebildet, engagiert in Kultur, Wissenschaft, Handel und Politik. Es gab jüdische Schulen, Cafés, Theater, Sportvereine, Literaturkreise. Jüdinnen und Juden waren Teil des städtischen Lebens – sichtbar, aktiv, geschätzt.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 änderte sich alles. Schritt für Schritt wurden jüdische Bürgerinnen und Bürger entrechtet, aus dem Berufsleben gedrängt, öffentlich diffamiert. Doch die jüdische Gemeinde hielt zusammen. Die Synagoge wurde in dieser Zeit nicht nur ein Ort des Glaubens, sondern auch ein Kulturzentrum. Hier fanden Konzerte, Lesungen und Veranstaltungen statt – ein Versuch, jüdisches Leben zu bewahren und zu stärken.

Dann kam der 9. November 1938 – die sogenannte Reichspogromnacht. In Berlin brannten die Synagogen. Auch die in der Prinzregentenstraße wurde angezündet. Der Brand zerstörte das Dach, Teile der Mauern drohten einzustürzen. Die Stadt sperrte den Gehweg – helfen durfte niemand. Im Gegenteil: Die jüdische Gemeinde wurde gezwungen, den Schaden selbst zu bezahlen. Und ausgerechnet Alexander Beer, der Architekt der Synagoge, musste den teilweisen Abriss seines eigenen Bauwerks leiten.

1941 hat die Jüdische Gemeinde das Grundstück für einen Bruchteil seines Wertes an die Stadt „verkauft“ – unter Zwang. 1958 wurde die Ruine vollständig abgetragen.

Heute erinnert eine Gedenktafel an diesen Ort. Dort heißt es:

An dieser Stelle stand einst
die Synagoge Wilmersdorf
erbaut von Alexander Beer 1928-1930
eingeweiht am 16.9.1930
angezündet und zerstört von
Nationalsozialisten am 9.November 1938
Die Pogromnacht
“hat nicht nur Glas zerschlagen,
sondern auch unsere Träume und Hoffnungen,
ein gesichertes Leben in unserem Heimatland
führen zu können”.

Der letzte Satz ist ein Zitat von Rabbiner Manfred Swarsensky – einer der vielen, die fliehen mussten, weil ihnen in Deutschland jede Zukunft genommen wurde.

Nach dem Krieg entstand hier Wohnraum für Blinde. Die Stadt stellte das Grundstück dem Allgemeinen Blindenverein zur Verfügung. Eine neue Synagoge wurde nicht gebaut – der Verlust war zu groß. Nur wenige Jüdinnen und Juden kehrten zurück. Die jüdische Gemeinde musste von vorn beginnen, unter schwierigen Bedingungen. Viele überlebende Familien emigrierten, andere kamen später aus Osteuropa hinzu. Heute gibt es wieder jüdisches Leben in Wilmersdorf. Aber der Schmerz über den Verlust bleibt.
Wir gehen jetzt zu unserer letzten Station – dem Bundesplatz. Dazu biegen wir an der Waghäuseler Straße rechts. Gehen dann bis zur Bundesallee, biegen dort links ab und gehen bis zum Bundeplatz.

267. Kiezspaziergang Bundesplatz

Bundesplatz

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag Berlin in Trümmern – und mit ihm auch Wilmersdorf. Die einst lebendige Kulturlandschaft des Neuen Westens war zerstört.

Viele der Gebäude waren zerbombt, ganze Straßenzüge lagen in Schutt und Asche. Der Bundesplatz ist ein Symbol für diesen tiefgreifenden Bruch – aber auch für den Neuanfang danach.

Zunächst herrschte ein Gefühl von Schweben – zwischen dem „Nicht-mehr“ des untergegangenen NS-Staats und dem „Noch-nicht“ einer neuen Ordnung, wie Erich Kästner es ausgedrückt hat. Viele Menschen hatten Angehörige verloren, Wohnungen waren unbewohnbar, die Versorgungslage war katastrophal, das jüdische Leben nahezu ausgelöscht. Trotzdem begann unmittelbar nach Kriegsende der Wiederaufbau – aus Ruinen, mit bloßen Händen, unter schwierigsten Bedingungen.

Einer der ersten Schritte war die Versorgung der Bevölkerung mit dem Nötigsten: Nahrung, Obdach, Schutz. Dafür wurden Verwaltungsstrukturen geschaffen – zunächst improvisiert, dann zunehmend geordnet. Die Bezirksbürgermeister, auch hier in Wilmersdorf, mussten schnell Verantwortung übernehmen, obwohl es an fast allem fehlte.

Das einzige, das es im Überfluss gab, waren Trümmer – und die nutzte man: Ganze Steine, halbe Steine, Schutt – alles, was brauchbar war, kam wieder zum Einsatz. Innerhalb von drei Jahren wurden 280 Millionen Steine geborgen.

Gleichzeitig begannen Stadtplaner mit der Diskussion: Wie sollte Berlin wieder aufgebaut werden? Eine Gruppe um den bekannten Architekten Hans Scharoun wollte eine radikal neue Stadt entwerfen – modern, grün, gegliedert nach Funktionen. Der alte Stadtgrundriss sollte aufgegeben werden.

Es war ein utopisches Projekt mit Nähe zur sowjetischen Besatzungsmacht, das aber bald verworfen wurde. Stattdessen setzte sich ein pragmatischerer Ansatz durch – angelehnt an den historischen Stadtkern, aber doch mit modernen Elementen.

Die autogerechte Stadt wurde zur Leitidee. Breite Straßen, Durchgangsverkehr, Parkplätze – der Mensch am Steuer stand bin in der 70er Jahre im Zentrum der Planung. Hier am Bundesplatz sieht man, wohin das in der Praxis führte.

Die Bundesallee wurde autobahnähnlich ausgebaut und zerschneidet das Quartier bis heute. Historische Bausubstanz musste weichen, auch wenn sie den Krieg überstanden hatte. Wohnviertel, die früher lebendig und gewachsen waren, wurden plötzlich von Schnellstraßen durchschnitten.
Diese Planung entsprach dem Zeitgeist der 50er- und 60er-Jahre: Fortschritt, Modernität, Effizienz. Doch sie hatte ihren Preis – viele gewachsene Strukturen, auch soziale, gingen verloren.
Die Menschen lebten im Grünen, pendelten aber zur Arbeit, oft weit entfernt. Fußgängerzonen wurden verlagert, Plätze wie der Bundesplatz verloren an Aufenthaltsqualität.
Gleichzeitig war dies aber auch eine Zeit des demokratischen Neuanfangs. In der jungen Bundesrepublik entstand ein neues Staatswesen, das aus den Fehlern der Vergangenheit lernen wollte. Der Aufbau von Verwaltung, Infrastruktur und Wohnraum war nicht nur eine technische, sondern auch eine politische Aufgabe.
Die Trennung von Diktatur und Demokratie wurde im Alltag sichtbar – etwa in der neuen Verwaltungskultur, die sich in den Bezirken entwickelte.
Der Bundesplatz erinnert uns heute an diesen doppelten Neuanfang: An die gewaltige Aufbauleistung nach dem Krieg – und an die gesellschaftliche Neuausrichtung, weg vom Totalitarismus hin zu einer demokratischen Ordnung.
Er zeigt uns vor allem auch, dass Stadtplanung immer auch Gesellschaftsplanung ist – mit bleibenden Folgen bis in unsere Gegenwart.
Damit haben wir das Ende des heutigen Kiezspaziergangs erreicht. Vielen Dank, dass Sie dabei waren. Zum Abschluss noch ein Hinweis auf den nächsten Kiezspaziergang: Der findet am Samstag, 14. Juni, statt. Treffpunkt ist um 14 Uhr am Brunnen am Mierendorffplatz

  • 267. Kiezspaziergang Friedhof Wilmersdorf

    Friedhof Wilmersdorf

  • 267. Kiezspaziergang Bundesplatz

    Bundesplatz

Kontakt

Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Verkehrsanbindungen