Stolpersteine Fritschestraße 54

Hauseingang Fritschestraße 54

Die Stolpersteine für die Familie Silberstein wurden am 25.02.2020 verlegt. Sie wurden gespendet von Kerstin Pohle, Berlin.

Stolpertein Samuel Silberstein

HIER WOHNTE
SAMUEL
SILBERSTEIN
JG. 1868
DEPORTIERT 16.12.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET MAI 1944

Samuel Silberstein wurde am 1868 als Schmul Silberstein in Löbau/Westpreußen geboren. Seine Eltern waren Wolf und Minna Silberstein. Im Alter von 28 Jahren heiratete er 1896 die drei Jahre jüngere Ernestine Feibel. Sie kam aus einer Nachbargemeinde.
Der erste Sohn starb bald nach der Geburt. Töchterchen Meta wurde 1898 geboren, Sohn Hermann im Dezember 1899. Der 1901 ebenso in Löbau geborene Sohn Walter starb als junger Mann an einer Lungenentzündung.
Löbau hatte einst eine lebendige jüdische Gemeinde, aber ab den 1880er Jahren verließen viele jüdische Familien die Stadt, weil sie in größeren Städten eine bessere Zukunft sahen. So siedelten auch die Silbersteins Anfang des neuen Jahrhunderts in das rund 550 km entfernte Berlin um. Dort kamen 1909 noch die Nachzügler Bianka und Martin, ein Zwillingspärchen, zur Welt.
Die Silbersteins waren liberale Juden. Die Kinder besuchten öffentliche Schulen und wuchsen in großbürgerlichem Wohlstand auf. Nach mehreren Umzügen innerhalb Berlins bezogen die Silbersteins eine komfortable 4-Zimmer-Wohnung in der Fritschestr. 54 in Charlottenburg. Samuel war als Textilkaufmann selbständig und hatte ein Geschäft in der Fritzstraße in Charlottenburg. Er war beruflich viel unterwegs, begleitete seine Sprösslinge aber eng bei der Ausbildung und Berufswahl. „Schmuhl“ wurde schon damals als Spott- und Schimpfwort gegen Juden gebraucht; vermutlich nannte sich der Familienvater deshalb bald nach der Ankunft in Berlin nur noch ‘Samuel’.
Das Familienleben wurde von den Kindern als harmonisch, ihre Kindheit als glücklich und unbeschwert beschrieben. Ob es primär am engen familiären Zusammenhalt lag, dass Hermann und die Zwillinge auch im Erwachsenenalter noch in der elterlichen Wohnung wohnten, ist nicht überliefert.
Anfang 1933 fiel der erste große Schatten auf die Familie. Martin, der eine beeindruckende Karriere in einem Konfektionsbetrieb in Berlins Konfektionsviertel um den Hausvogteiplatz hingelegt hatte, wurde infolge der Judenboykotte arbeitslos und konnte auch in den Jahren danach keine Festeinstellung mehr finden. Die gefundenen Unterlagen deuten darauf hin, dass auch die Geschäftstätigkeit des Vaters in Laufe der 30er Jahre unfreiwillig deutlich zurückging.
Am 10. November 1938 erlebten Samuel und Sohn Hermann in dessen Ladengeschäft in der Kronenstr. 56 die Gewaltexzesse des Novemberterrors. Wie durch ein Wunder überlebte der Vater unverletzt;
Hermann aber kam nur knapp mit dem Leben davon und verlor kurz später mit seiner Firma seine wirtschaftliche Existenz.
Dies dürfte das einschneidendste Ereignis in der Familiengeschichte der Silbersteins gewesen sein, das nicht nur den Übergang von systematischer Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Vernichtung markierte; es bedeutete auch den Beginn eines drastischen sozialen Abstiegs und den Zerfall der Familie Silberstein. Hermann, Martin und Bianka gelang 1939/1940 die Flucht ins Ausland; Bianka lebte fortan in London, während Hermann und Martin auf Umwegen in die USA gelangten. Aller dreier Weg blieb aber bis zum Ende sehr steinig, geprägt vom Verlust der Familie, fehlenden beruflichen Perspektiven und wirtschaftlichen Notlagen, auch aufgrund erheblicher verfolgungsbedingter gesundheitlicher Probleme.
Die Eltern blieben in Deutschland. Sie hatten sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht zur Flucht entschliessen können. Oder fehlte es an den finanziellen Mitteln für eine Flucht? Der einstige Wohlstand der Familie dürfte zu dieser Zeit schon erheblich geschrumpft sein, zumal Juden immer mehr finanzielle Mittel über „Judenvermögensabgaben“ etc. entzogen wurden. Auch war es inzwischen insbesondere für ältere Menschen fast unmöglich geworden, eine Einreisegenehmigung in ein anderes Land zu bekommen. Ebenso ungeklärt ist, warum Meta in Berlin blieb, aber als älteste der Kinder fühlte sie sich sicher für die Eltern verantwortlich.
1941 wurden Samuel und Ernestine gezwungen, ihr Zuhause in der Fritschestr. zu verlassen und fast ihren gesamten restlichen Besitz zurückzulassen. Sie wurden in das Altersheim in der Großen Hamburger Straße gebracht. Mit Beginn der Deportationen nach Theresienstadt Anfang Juni 1942 wurde das Gebäude zu einem Sammellager umfunktioniert; die Möbel wurden entfernt, um möglichst viele Menschen unterzubringen. Statt Betten gab es nur noch Stroh auf nacktem Boden; die Fenster wurden vergittert.
Ob und, falls ja, unter welchen Umständen es noch Begegnungen zwischen den Eltern und ihrer Tochter Meta geben konnte, ist unbekannt. Ende Oktober 1942 wurden Meta und ihr Mann Bruno Pohle (siehe die Stolpersteine in der Bismarckstr. 108 in Charlottenburg) nach Riga deportiert. Samuel und Ernestine sollten keines ihrer Kinder je wiedersehen. Knapp zwei Monate später, am 16. Dezember 1942, wurden sie in einem der sogenannten Alterstransporte nach Theresienstadt deportiert. Ernestine starb im August 1943; Samuel schaffte es noch irgendwie, bis Mai 1944 zu überleben.

Quelle: Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin

Recherche und Text: Kerstin Pohle

Englisch version of the biography

Samuel Silberstein was born in 1868 with the given name Schmul in Löbau/West Prussia. His parents were Wolf and Minna Silberstein. In 1896, at the age of 28, he married Ernestine Feibel. She was three years younger and came from a town nearby.
Their first son died soon after birth. Their daughter Meta was born 1898, followed by Hermann in 1899 and then Walter in 1901.
Löbau boasted an active Jewish community, but from the 1880s many Jewish families left the town in hope of a better life in a bigger city. This was also the reason why the Silbersteins left Löbau behind in the early 1900s and settled down 550 km further west in Berlin. The twins Bianka and Martin were born in Berlin in 1909.
The Silbersteins were liberal Jews; the children attended public schools and grew up in upper middle class prosperity. After changing homes several times within Berlin, the Silbersteins moved into a comfortable four-room apartment in Fritschestr. 54 in Charlottenburg. Samuel was self-employed as a textile merchant and had a shop on Fritzstraße in Charlottenburg. He was traveling a lot due to his profession, but he was passionate when it came to the education and career choices of his children. Back then, “Schmuhl” was used as a derogatory term and curse word against Jews; this is probably why Samuel took on this adaptation of his given name soon after arriving in Berlin.
The children described family life as harmonious and their childhood as happy and carefree. It is not known whether it was primarily due to the close family ties why Hermann and the twins continued to live in their family home even as adults.
At the beginning of 1933, the first big cloud cast over the family. Martin, who within a few years had built an impressive career with his own clothing company in Berlin’s fashion district, became unemployed as a direct result of the Nazi boycott of Jewish businesses. After that and the years that followed, as a Jew, he was unable to find a permanent position. Documents hint that it was likely also the reason why his father’s business declined significantly during the course of the 1930s.
On November 10, 1938, Samuel and his son Hermann experienced first hand the brutal terror against Jews during the formerly so-called
“Reichskristallnacht”. They were attacked by a mob in Hermann’s shop on Kronenstr. 56. Miraculously, Samuel got away unharmed, but Hermann barely survived. He suffered significant injuries to his head and, due to internal bleeding, lost his hearing permanently. The little that Samuel had been able to save from the inventories in the aftermath, whilst his son Hermann was recovering in hospital, was lost shortly afterwards. Hermann was forced to shut down his business, thereby also losing his livelihood.
This was probably the most decisive event in the history of the Silberstein family, which not only marked the transition from systematic discrimination and disenfranchisement to systematic annihilation; it also marked the beginning of a drastic social decline and the disruption of the Silberstein family. Hermann, Martin and Bianka managed to escape abroad in 1939/1940; Bianka found refuge in London, while Hermann and Martin escaped to the USA; Hermann via Shanghai. The lives of all three siblings remained difficult until the end, marked by the loss of the family, a lack of professional prospects and precarious financial situations also caused by considerable persecution related health problems.
Samuel and Ernestine remained in Germany – were they indecisive about fleeing, or were they lacking the financial means? The family’s former wealth had presumably shrunk considerably by that time, especially since Jews were increasingly deprived of funds through “Jewish property levies” etc. In the meantime, it had become almost impossible, especially for older people, to get an entry permit to another country. It is also unclear why Meta stayed in Berlin, but as the oldest of the children, she certainly felt responsible for her parents.
In 1941, Samuel and Ernestine were forced to move out of their home in Fritschestraße and to leave behind almost all of their remaining possessions. They were taken to the old people’s home on Grosse Hamburger Straße. With the start of the deportations to Theresienstadt in early June 1942, the building was converted into a collection point; the furniture was removed to accommodate as many people as possible. Instead of beds, there was only straw on the bare floor; the windows were barred.
It is unknown whether, and if so under what circumstances, there could have still been encounters between the parents and their daughter Meta. At the end of October 1942, Meta and her husband Bruno Pohle (see the stumbling stones at Bismarckstraße 108 in Charlottenburg) were deported to Riga. Samuel and Ernestine were to never see any of their children again. Almost two months later, on December 16, 1942, they were deported to Theresienstadt in one of the so-called “old age transports”. Ernestine died in August 1943; Samuel somehow managed to survive until May 1944.

Research and text: Kerstin Pohle

Stolperstein Ernestine Silberstein

HIER WOHNTE
ERNESTINE
SILBERSTEIN
GEB. FEIBEL
JG. 1871
DEPORTIERT 16.12.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 8.8.1943

Ernestine Silberstein wurde 1871 in Heinrichsdorf in Westpreußen als Tochter von Max und Minna Feibel (geb. Cohn) geboren. Als junge Frau lernte Ernestine den aus dem 37 km entfernten Löbau stammenden Samuel Silberstein kennen. Sie heirateten 1896.
Der erste Sohn, Siegbert, starb im Kindsbett. Als nächstes kam 1898 Töchterchen Meta auf die Welt. Ebenso in Löbau wurde Sohn Hermann 1899 und Sohn Walter 1901 geboren. Danach siedelte die junge fünfköpfige Familie nach Berlin um, wie so viele andere vermutlich in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Im Alter von 38 Jahren brachte Ernestine am 15. April 1909 die Zwillinge Bianka und Martin zur Welt, ein ganz besonderes Geschenk für die ältere Schwester Meta, die an diesem Tag ihren 11. Geburtstag feierte.
Nach mehreren Umzügen innerhalb Berlins ließ sich die Familie bald nach der Geburt der Zwillinge in der Fritschestr. 54 nieder. Für die Erziehung der Kinder war die Mutter zuständig, da der Vater, ein selbständiger Textilkaufmann, beruflich viel unterwegs war. Das Familienleben wurde von den Kindern als harmonisch und eng bezeichnet; mittlerweile waren die Silbersteins völlig assimiliert und als liberale Juden spielte die Religion in der Familie nur eine untergeordnete Rolle.
Sohn Walter starb als junger Mann 1926 an einer Lungenentzündung; zu dieser Zeit hielt er sich in Frankfurt/Main auf – vielleicht studierte er dort?
Auch von Ernestine ist leider nur wenig überliefert. Zum weiteren Lebenslauf siehe die Kurzbiographie von Samuel Silberstein.
Ernestine starb im August 1943 angeblich an einer „Herzmuskelentartung“ in Theresienstadt; Samuel überlebte die schrecklichen Lebensbedingungen bis 1944.
Ernestine hatte noch drei Geschwister, die ebenso während der Shoah ermordet wurden. Ein Bruder, Tierarzt mit Wohnsitz in Hamburg, starb in Auschwitz; zwei weitere Geschwister wurden in der alten Heimat bei Culm-Weichsel von der Gestapo erschossen.

Quelle: Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin

Recherche und Text: Kerstin Pohle

English version of the biography

Ernestine Silberstein was born in Heinrichsdorf in West Prussia in 1871, as the daughter of Max and Minna Feibel née Cohn. As a young woman, Ernestine met Samuel Silberstein, who lived in the nearby town of Löbau. They married in 1896.
The first son, Siegbert, died of cot death. Their daughter, Meta was born in 1898, followed by their sons Hermann in 1899 and then Walter in 1901. The young family of five then moved to Berlin, like so many others, presumably in search of a better life.
At the age of 38, Ernestine gave birth to the twins Bianka and Martin on April 15th, 1909, a very special gift for the older sibling Meta, who was celebrating her 11th birthday that day. After moving several times within Berlin, the family finally settled at Fritschestr. 54, not long after the arrival of the twins. The mother was responsible for the upbringing of the children, since the father, an independent textile merchant, traveled a lot for work. Family life was described by the children as harmonious and close-knit; by now the Silbersteins had completely adjusted to their ways of life and, as liberal Jews, religion played only a minor role within the family.
Their son Walter died as a young man in 1926 from pneumonia; at that time he was in Frankfurt / Main – perhaps he was studying there?
Little is also known about Ernestine. Please see Samuel Silberstein’s short biography for more information on her life.
Ernestine died in August 1943 of an alleged “heart muscle degeneration” in Theresienstadt. Samuel survived the atrocious living conditions until 1944.
Ernestine had three siblings, who were sadly also murdered in the Shoah. Her brother, a veterinarian residing in Hamburg, died in Auschwitz and the two other siblings were shot by the Gestapo in their homeland near Culm-Weichsel.

Research and text: Kerstin Pohle

Stolperstein Hermann Silberstein

HIER WOHNTE
HERMANN
SILBERSTEIN
HERMAN SPENCER
JG. 1899
FLUCHT 1940
SHANGHAI

Hermann Silberstein, später Hermann Spencer, wurde Ende 1899 in Löbau/Westpreußen geboren; seine Schwester Meta war zu diesem Zeitpunkt ein Jahr und acht Monate alt. Nach dem Abschluss der Oberrealschule besuchte er drei Jahre lang eine kaufmännische Schule mit Schwerpunkt Konfektionsindustrie. Danach diente er zwei Jahre in der Armee.
Im Alter von 23 Jahren machte sich Hermann von der Familienwohnung aus als Kaufmann für Damenkonfektionen selbständig. Die Geschäfte liefen gut, und 1928 konnte er seine Firma im Zentrum der deutschen Modeindustrie, dem Konfektionsviertel um den Hausvogteiplatz, ansiedeln. Hermann beschrieb seine Geschäftstätigkeit ab dieser Zeit so: „Von dort aus kaufte ich nicht mehr von Schneidern, sondern bezog selbst Stoffe, Futter und Zutaten von Fabrikanten und Grossisten, ließ mir von Schneidern außer dem Hause einige Muster anfertigen und verkaufte nach diesen an meine alten Kunden und an größere Konzerne.“ Wegen anhaltenden Wachstums zog das Unternehmen auch innerhalb des Konfektionsviertels noch mehrfach um; zuletzt mietete Hermann das gesamte 1. Obergeschoss des Hauses in der Kronenstr. 56 und hatte zehn Angestellte.
In den Geschäftsräumen in der Kronenstr. 56 erlebten Hermann und sein Vater Samuel den Novemberterror 1938. Er berichtete später, am 10. November habe er um etwa 9 Uhr morgens eine große Menschenmenge wahrgenommen – er schätzte 1.000 bis 1.500 Personen – die sich mit unbändiger Zerstörungswut dem Haus Nr. 56 näherte. “Als es den Rädelsführern nicht schnell genug gelang, die Türen im Erdgeschoss aufzubrechen, zogen sie die Kronenstr. entlang, der Charlotten- und Markgrafenstr. zu, fast alle Geschäfte demolierend und plündernd.“ Hermann und sein Vater trauten sich noch nach Stunden kaum zu rühren. Sie beschlossen, bis zum Abend zu warten und dann im Schutz der Dunkelheit den Heimweg anzutreten.
Um 15 Uhr kam jedoch die Schlägertrupps zurück; jetzt wurden ganz gezielt die Geschäfte angegangen, die die erste Angriffswelle am Morgen überstanden hatten. “Jetzt kamen sie auch an unser Haus und nach kurzer Zeit brachen sie mit Brechstangen die unten gelegenen Haus- und Lokaltüren auf. Ich hatte natürlich die mit eisernen Platten versehenen Türen meines Lokals verschlossen. Doch innerhalb einiger Minuten waren auch diese aufgebrochen und herein stürzten etwa 20 bis 25 Männer, die mich und dann meinen alten Vater die Treppen hinunterstießen. Als ich auf der Straße einen Moment zur Besinnung kam, sah ich bereits einen großen Teil meiner Waren, fertige Kleidung, Stoffballen usw. auf der Straße, neben Scherben meiner zertrümmerten Glasscheiben liegen.”
Auch Stühle flogen aus den Fenstern. Ein paar Männer brachen die Stuhlbeine ab und begannen, damit auf Hermann einzuschlagen. Er rannte um sein Leben, gefolgt von rund 15 Männern, die auf ihn einschlugen. Vor allem zielten sie auf seinen unbedeckten Kopf. Endlich war ein Auto zu sehen und Hermann winkte um Hilfe, aber der Fahrer fuhr einfach weiter. Hermann rannte blutüberströmt weiter, noch immer verfolgt von den Schlägern, bis “zur Markgrafenstr., wo es mir gelang, in ein Taxi zu springen und die Türen zuzuhalten. Der mich bemitleidende Chauffeur fuhr sofort an und brachte mich nach der Unfallstelle in der Alexandrinenstr., wo ich verbunden wurde. Auf den Rat meines Arztes habe ich an demselben Abend noch eine Klinik in der Kaiserallee aufgesucht, in welcher ich wegen meiner schweren Kopfverletzung und eines Nervenzusammenbruchs […] 14-16 Tage verblieb.” Innere Blutungen führten jedoch dazu, dass Hermann sein Gehör auf beiden Ohren fast komplett verlor.
Irgendwie gelang es dem Vater, den Terrorangriff körperlich unversehrt zu überstehen. Das Geschäft seines Sohns war geplündert und zerstört. Das wenige, das er mit viel Mühe noch retten konnte, insbesondere aus dem Warenlager, musste kurz später zu Schleuderpreisen verkauft und das Unternehmen geschlossen werden. Hermann war seiner wirtschaftlichen Existenz beraubt.
Sehr spät, erst im Mai 1940, gelang Hermann noch die Flucht über Genua nach Shanghai. Er reiste mit dem Schiff, vermutlich auf der unter italienischer Flagge fahrenden „Conte Verde“; die Reise dauerte drei Wochen. Wenige Tage nach der Ankunft in Shanghai trat Italien in den Krieg ein; die Conte Verde kehrte nie wieder nach Italien zurück.
Hermann kam fast mittellos und nur mit Handgepäck in Shanghai an, aber er schaffte es trotz seiner Taubheit, wieder ein kleines Handelsgeschäft aufzubauen. Drei Jahre später verlor er es erneut, dieses Mal infolge der Zwangsumsiedelung in das Ghetto Shanghais. Im Ghetto überlebte er so schwere Krankheiten wie Flecktyphus und Amoebendysenterie, infolge derer er sein restliches Leben lang an Darmblutungen litt, und einen Luftangriff: „Am 17. Juli 1945 wurde unser Viertel von der Luft bombardiert, wobei in dem Schulhaus, in welchem auch ich untergebracht worden war und mich auch gerade befand, allein 12 getötet und viele verletzt wurden.“
Auch nach Kriegsende gab es noch jahrelang kein Entkommen aus Shanghai; kaum ein Land erklärte sich bereit, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Hermann konnte keine Arbeit finden und war körperlich schwer angeschlagen. Erst viereinhalb Jahre nach Kriegsende kam die Erlaubnis, in die USA auszuwandern. Als Staatenloser stellte ihm die IRO, die den Vereinten Nationen unterstehende internationale Flüchtlings-Organisation, am 29.09.1949 in Shanghai den benötigten Passersatz aus; nur zwei Tage später rief Mao Zedong die Volksrepublik China aus. Mitte November 1949 schaffte Hermann es nach Manila, wo er an Bord der SS Präsident Harrison ging.
Nach fast vier Wochen Schiffsreise in der Frachtklasse betrat Hermann am 5. Dezember 1949 in San Francisco wieder feste Boden. Er ließ sich in New York nieder, wo sein jüngerer Bruder Martin seit seiner Flucht aus Europa im Jahr 1939 gelebt hatte. Ungefähr zu dieser Zeit – die Suche nach verlorenen Verwandten dauerte oft Jahre – wurde traurige Gewissheit, was die Brüder längst befürchtet hatten: Ihre Eltern, ihre ältere Schwester, Martins Frau und deren Mutter waren alle in Konzentrationslagern gestorben. Hermann nahm, wie seine überlebenden Geschwister Martin und Bianka, den Familiennamen „Spencer“ an; die Familie Silberstein gab es nicht mehr.
Taub und gesundheitlich schwer angeschlagen konnte Hermann beruflich nie wieder Fuß fassen und musste sich als Hilfsarbeiter durchschlagen. Zumindest war ihm das Glück beschieden, in New York City seine künftige Frau Aloisia Goldman kennenzulernen. Aloisia war in Wien zur Welt gekommen und als Jüdin zunächst mit einem Visum für Haushaltshilfen nach London geflüchtet. 1940, im Alter von 37 Jahren, bekam sie schliesslich die Einreiseerlaubnis in die USA und wurde in New York City sesshaft.
Laut einer offiziellen Bestätigung reichte Hermanns Einkommen „für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie nicht aus, da er mit Sonderausgaben infolge seiner gesundheitlichen Schädigung belastet ist.“ Als Hermann auch noch arbeitslos wurde, folgten mehrere wirtschaftliche Notlagen. Hermann beantragte auf Basis des Bundesentschädigungsgesetzes finanzielle Unterstützung, aber wie bei so vielen anderen auch wurde sein Anspruch auf Entschädigung jahrelang immer wieder in Frage gestellt. 1 Zum Bittsteller degradiert erhielt er ab 1958 immerhin eine kleine Rente, die jedoch selbst für ein Leben in bescheidensten Umständen in New York nicht ausreichte, Auch diese kleine Rente wurde nach einiger Zeit per Änderungsbescheid durch das Entschädigungsamt gekürzt. Immer wieder wurde angezweifelt, dass seine Minderung der Erwerbsfähigkeit verfolgungsbedingt war.
Wie verzweifelt muss Hermann gewesen sein, dass er um 1959 nach Deutschland zurückzukehrte und hartnäckig versuchte, dort wieder Fuß zu fassen und an seine früheren unternehmerischen Erfolge anzuknüpfen. Erfolglos kehrte das Paar im Januar 1961 in die USA zurück. Da ihr Schiff in Southampton ablegte, liegt die Vermutung nah, dass Aloisia und Hermann vor der Abreise aus Europa noch einige Zeit mit seiner Schwester Bianka in London verbrachten. Nach der Rückkehr in die USA zog das paar nach San Francisco um, wo das Leben erschwinglicher und das Klima angenehmer war als in New York City.
Den letzte Lebensabschnitt begannen die Spencers als Untermieter. Erst rund 20 Jahre nach ursprünglicher Antragstellung war ihm die bescheidene Rente aus Deutschland sicher. Das Paar blieb kinderlos. Mehr ist über ihr Leben in San Francisco leider nicht zu erfahren.
Hermann starb am 18.6.1981 in San Francisco; Aloisia überlebte ihn noch um einige paar Jahre.

Quelle: Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin

Recherche und Text: Kerstin Pohle

1 So auch geschehen bei seinen Geschwistern Martin und Bianka, siehe deren Biografien.

English version of the biography

Hermann Silberstein, later Hermann Spencer, was born in Löbau/West Prussia at the end of 1999, less than two years after his sister. After graduating from high school, he attended a commercial school for three years specialising in the clothing industry. He then served two years in the army.
At the age of 23, Hermann started his own business from his family home, as a merchant for women’s fashion. By 1928 his company was so successful that Hermann could relocate his business to the Berlin fashion district around Hausvogteiplatz. Owing to the continuing growth of his business, he relocated to bigger premises several times. Finally, together with his ten employees he moved to Kronenstr. 56, where he rented the entire 1st floor.
It was there that Hermann and his father experienced the unprecedented brutality against Jews during the November Pogroms in 1938. At around 9 a.m. on November 10, Hermann became aware of a large aggressive crowd – he estimated around 1,000 to 1,500 people – coming closer very quickly, destroying whatever they could, demolishing and looting from almost all the shops along the street. It was only because the main door on the ground floor withstood the attacks of the fast moving mob, that the house on Kronenstr. 56 and Hermann’s business did not suffer much damage at that time; but Hermann and his father were so terrified that they didn’t dare to move from their premises for several hours after. They decided to wait until the evening and then head home in the cover of darkness.
However, the mob came back at 3 p.m. and now targeted all businesses that had not yet been destroyed during the first wave of the attacks. Hermann later recalled: „…after a short time, they had broken open the main door and shop entrances on the ground floor. Of course I had locked the door of my shop, which was protected by iron plates. But within a few minutes, it too was broken open and in rushed 20 to 25 men who pushed me and my old father down the stairs. When I came to my senses for a moment on the street, I already saw a large part of my merchandise, finished clothes, bales of fabric etc. lying on the street amid the shattered glass of the shop windows.”
Chairs came flying down, some men broke off the chairs’ legs and started attacking Hermann with them. As he ran for his life, he was followed by around 15 men who continued to hit him, aiming mainly at his uncovered head. When a car was approaching, Hermann – covered in blood – waved for help, but the driver did not stop. He continued to run and then managed to jump into a taxi and hold the doors shut, while the driver quickly left the scene and took Hermann to a clinic for first aid. Hermann was hospitalised for more than two weeks due to his severe head injuries and a nervous breakdown. Despite the treatment, internal bleeding led to a permanent loss of hearing in both ears.
Meanwhile, Hermann’s father who had somehow managed to escape the attackers, tried to salvage as much as possible of what was left of the business. However, shortly after his return, Hermann was forced to sell the remaining items at reduced prices and shut the company down. He was robbed of his livelihood.
It was already in May 1940 when Hermann finally had the means to flee from Germany. The ship he boarded in Genoa was presumably the SS Conte Verde, operating under the Italian flag. The voyage lasted 3 weeks. A few days after the arrival in Shanghai in early June, Italy entered World War II; the Conte Verde would never return to Italy.
Despite his physical handicap and having arrived in Shanghai with hand luggage only, Hermann set up a small trading business in Shanghai.Three years later, with the forced relocation to the Shanghai Ghetto, he also lost this livelihood. Together with many other Jewish refugees, he was housed in a former school building. There he survived serious illnesses like epidemic typhus, but also an air raid in which twelve other inhabitants of the building died and many others were injured.
Even so many years after the war had ended, many Jewish refugees had nowhere to go. In Shanghai, Hermann remained unemployed, was weakened by illness and suffering from the climate. Finally, in 1949, he was granted permission to immigrate to the USA. As a stateless person, the IRO (the United Nations’ international refugee organisation) issued him a passport substitute in Shanghai on September 29, 1949; just two days later, Mao Zedong proclaimed the People’s Republic of China. By mid-November 1949, Hermann had made it to Manila, where he boarded the SS President Harrison.
After almost four weeks on board in freight class, Hermann set foot in San Francisco on December 5, 1949. He settled down in New York City, where his younger brother Martin had been living since fleeing from Europe in 1939. It was around this time in which the process of searching for and finding lost relatives started and often took years. The siblings learned of the fates of their parents, older sister, Martin’s wife and her mother, who had all died in the Holocaust. Like his surviving siblings Martin and Bianka, Hermann took on the family name „Spencer“ instead of Silberstein.
Hermann was never able to resume his entrepreneurial career in the USA and had to make ends meet as an auxiliary worker. At least, he was blessed to meet his future wife Aloisia Goldman in New York City. Aloisia was born into a Jewish family in Vienna. She first fled to London on a domestic helper visa. In 1940, at the age of 37, she received permission to immigrate to the USA and settled down in New York.
According to an official confirmation, Hermann’s income was “not enough for him and his family’s subsistence, since he is burdened with special expenses due to his poor health.” The situation became even more precarious after Hermann became unemployed. Hermann sought financial support under the German compensation act (Bundesentschädigungsgesetz), but, as so many other refugees from the Nazi regime, was degraded to the status of a petitioner, with his entitlement for compensation being questioned again and again for years on end. 1 From 1958 he received a small pension, which, however, was not enough to live on in New York City, even in the most modest conditions. Even this small pension was reduced after some time via an amendment by the compensation office.
One can only imagine how much despair Hermann felt in order to return to Germany in 1959, in an attempt to gain a foothold and resume his professional career. Unsuccessful in his attempt, the couple returned to the USA in January 1961. As their ship departed from Southampton, it can perhaps be assumed that, before leaving Europe, Aloisia and Hermann spent some time with his sister Bianka in London. After their return to the USA the couple relocated to San Francisco, where life was more affordable and the climate more agreeable than in New York City.
The Spencers began the last phase of their lives as subtenants. Around 20 years after the original application to the compensation office, Hermann was finally granted a permanent, albeit modest, pension. The couple remained childless. Unfortunately, no other information on their life in San Francisco could be found.
Hermann died on June 18, 1981 in San Francisco; Aloisia lived on for a few more years after the death of her husband.

Research and text: Kerstin Pohle

1 This is what also happened to his siblings Martin and Bianka, see their biographies.

Stolperstein Bianka Silberstein

HIER WOHNTE
BIANKA
SILBERSTEIN
BIANKA SPENCER
JG. 1909
FLUCHT 1939
ENGLAND

Bianka Silberstein, später Bianca Spencer, wurde zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Martin am 15. April 1909 geboren. Exakt an diesem Tag feierte ihre große Schwester Meta ihren 11. Geburtstag. Die Zwillinge standen sich Zeit ihres Lebens besonders nah.
Nach dem Abitur besuchte Bianka ein Handelsseminar und machte eine Spezialausbildung in ‘ausländischen Kurzschriften’. Ab April 1927 war sie bei M. Straus & Co, einer Zerstäuberfabrikation, angestellt. Das Gros der Ausbildung zur Auslandskorrespondentin absolvierte Bianka abends, parallel zu ihrer Berufstätigkeit. Sie blieb bei diesem Arbeitgeber bis ihr wegen „Arisierung“ der Firma zum 31.01.1939 gekündigt wurde.
Im Arbeitszeugnis hiess es: „Die Entwicklung unseres Geschäftes zum Exportgeschäft gab Fräulein Silberstein Veranlassung, sich neben ihrer Geschäftstätigkeit intensiv dem Studium von Fremdsprachen zu widmen. In kurzer Zeit brachte sie es in Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch so weit, dass sie die Korrespondenz in diesen Sprachen nach Diktat aufnehmen und [bald danach] vollkommen selbständig führen konnte. Fräulein Silberstein hat dann [die Leitung der…] mit den Exportwegen zusammenhängenden Arbeiten, wie das Zusatzausfuhrverfahren, Abrechnung und Führung der Konten für die Golddiskontbank etc. [übertragen bekommen und] zu unserer vollsten Zufriedenheit ausgeführt.“ „[Sie war eine] stets angenehme Mitarbeiterin, die es auch verstanden hat, jederzeit dem ihr unterstellten und nebengeordneten Personal ein gutes Beispiel für Zuverlässigkeit, Fleiss und Pflichterfüllung zu geben.“
Zwillingsbruder Martin hatte schon 1933 seinen festen Arbeitsplatz verloren und kümmerte sich schon früh (1935) um eine Einreisegenehmigung in die USA. Mit Hilfe von Verwandten in den USA bekam er diese auch, blieb aber dennoch zunächst in Deutschland, vermutlich aus familiären Gründen (siehe Biografe Martin Silberstein). Schließlich flüchtete er 1938 mit seiner Frau zunächst in die Tschechoslowakei und von dort aus im Mai 1939 in die USA. Der älteste Bruder Hermann hatte mit Vater Samuel am 10.11.1938 im Zusammenhang mit den Novemberprogromen einen brutalen Überfall auf sein im Berliner Konfektionsviertel gelegenes Damenbekleidungsgeschäft erlebt; er erlitt dabei so schwere Kopfverletzungen, dass er auf beiden Ohren ertaubte. Kurz später wurde er gezwungen, sein Geschäft zu schliessen.
Bianka war sich daher sicher schon seit einiger Zeit dessen bewusst, dass sie Deutschland so schnell wie möglich verlassen musste. In England bot sich die Möglichkeit, mit dem Nachweis einer Stellung als Haushaltshilfe eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen; Alternativen dazu gab es kaum. Die Vorbereitungen für die Auswanderung beschrieb Bianka später als extrem kompliziert und sehr nervenaufreibend.
Anfang 1939 musste Bianka noch miterleben, wie eines Tages die Gestapo vor der elterlichen Wohnung stand und diese ohne jegliche Erklärung mitnahm. Die Eltern kamen bald danach körperlich unversehrt zurück, aber von da an litt Bianka unter Albträumen.
Am 22. Februar 1939 meldete sich Bianka in Berlin ab. Mit der Abfindung ihres Arbeitgebers (RM 1.536) konnte sie die Reisekosten und den Transport einiger persönlicher Gegenstände finanzieren, vor allem ihrer geliebten Bibliothek.
Von April 1939 bis Ende 1940 arbeitete Bianka für eine kleine wöchentliche Vergütung als Hausangestellte in London. Viele „domestic workers“, selbst aus osteuropäischen Ländern, berichteten später davon, wie schockiert sie von dem niedrigen Lebensstandard in England waren1. Was in der alten Heimat meist schon längst maschinell erledigt wurde, wie z.B. das Wäschewaschen, musste in England noch von Hand gemacht werden; daher auch der grosse Bedarf an Hausangestellten.
Bianka kam aus großbürgerlichen Verhältnissen; nun musste sie von einem Tag auf den anderen den Haushalt einer siebenköpfigen Familie führen. Neben Kochen, Putzen, Wäschewaschen und Bügeln gehörte auch das Kohletragen für die Zentralheizung und Warmwasserversorgung zu ihren Aufgaben. Es war harte körperliche Arbeit; vor allem das ungewohnte Tragen schwerer Lasten kostete die nur 154cm grosse Bianka ihre Gesundheit. Nur ein Vierteljahr nach ihrer Ankunft erlitt sie einen Bandscheibenvorfall. Obwohl sie unter unerträglichen Schmerzen litt, konnte es sich Bianka nicht leisten, sich in ärztliche Behandlung zu begeben; sie konnte es vor allem nicht riskieren, ihre Arbeit und somit die Aufenthaltserlaubnis in England zu verlieren.
Wie sie es schaffte, sich noch weitere 1 ½ Jahre so den Lebensunterhalt zu verdienen, ist kaum nachvollziehbar. Ihre Arbeitgeberin war jedenfalls höchst zufrieden mit ihr: „[Miss Silberstein] has done every sort of householdwork to my complete satisfaction and has proven to be honest, most reliable and efficient. She was always willing to work […] and […] has always proved a pleasant companion [… ] I regret that she is leaving me, the reason being that I am going away to America.“ Es ist nicht überliefert, ob die Beziehung zwischen Bianka und ihrer Arbeitgeberin im Lauf der Zeit etwas persönlicher wurde; aber viele „domestic workers“ berichteten später, dass sich niemand für ihre Ausbildung bzw. Berufserfahrung interessierte und ebensowenig für ihre Fluchtgründe und ihre Sorgen um die Zurückgebliebenen. Selbst von britischen Juden wurde ihnen oft mit Ablehnung begegnet.2
Bianca schaffte 1941 den Absprung von der Haus- zurück zur Büroarbeit; allerdings musste sie also Bürolehrling bei äußerst bescheidener Vergütung und ohne Anerkennung ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn beginnen. Ihren Beruf als Auslandskorrespondentin sollte sie nicht wieder aufnehmen können, was für sie sehr schmerzlich war.
Viel schlimmer aber waren die Sorgen um ihre Eltern: Albträume, aber auch die Schmerzen – der Bandscheibenvorfall hatte mittlerweile schon zu Dauerschmerzen in den Beinen geführt – liessen sie auch nachts nicht zur Ruhe kommen. Sie funktionierte irgendwie, vor allem getragen von der Hoffnung, nach Ende des Kriegs ihre Eltern wiedersehen zu können.
Endlich kam das ersehnte Kriegsende, aber erst dann konnte die Suche nach den verschleppten Angehörigen beginnen. Viel später kam die Nachricht, dass ihre Eltern und Schwester Meta nicht überlebt hatten.
Das Leben musste irgendwie weitergehen. Als klar war, dass sie in England bleiben würde, anglisierte Bianka ihren Namen in „Bianca Spencer“. Ihre Brüder folgten ihrem Beispiel und nahmen ebenso den Nachnamen „Spencer“ an.
1946 wurde Bianca von dem deutschen Unternehmer Francis Fischel als Büroangestellte beschäftigt, bei dem sie bis zum Schluss arbeitete. Auch hier genoss Bianca wieder großes Vertrauen und Wertschätzung, und ihr wurde immer mehr Verantwortung übertragen; so bekam sie auch Prokura. Aber ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich weiter; bald war sie gezwungen, die Arbeitszeit auf vier Stunden täglich zu reduzieren, natürlich mit den ensprechenden Gehaltseinbussen Das Geld reichte kaum zum Überleben; so musste Bianca weiter arbeiten, obwohl es für sie schon eine Qual war, „den Weg zum und vom Geschäft in überfüllten Verkehrsmitteln zurückzulegen“.
Die Schmerzen zwangen sie auch am Arbeitsplatz immer wieder zu Ruhepausen im Liegen, die ihr ihr Chef glücklicherweise auch gönnte; aber natürlich wurde sie für diese Zeit nicht bezahlt. Ihr Hausarzt musste wiederholt ins Büro kommen und sie „durch Infiltration mit Procaine so weit bringen […], dass man sie nach Hause transportieren und zu Bett legen konnte.“ Ein Orthopäde bescheinigte eine „irreparable Schädigung der Nerven [und] der von ihnen versorgten Muskel und Hautabschnitte“. Von einer operativen Behandlung wurde abgeraten; stattdessen wurde Bianca das ständige Tragen eines Stahlkorsetts verordnet.
1951 stellte sie beim Entschädigungsamt einen Antrag auf Rente. Damit begann auch für sie 1 ein Gutachtermarathon von Amts wegen. Alle Gutachter bescheinigten, dass Biancas verfolgungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mindestens bei 50% lag, aber das Entschädigungsamt blieb der Ansicht, die MdE läge bei unter 50%; deshalb sei auch die Voraussetzung für eine laufende Rente nicht gegeben. Dabei ging es nur um eine Summe von DM 100 mtl., die vor allem symbolischen Stellenwert hatte, denn auch damals schon lagen die Lebenshaltungskosten in London weit über denen deutscher Städte. 2
So verging Jahr für Jahr, obwohl auch vom Entschädigungsamt beauftragte Gutachter schrieben: „Wenn sie wenigstens eine kleine finanzielle Unterstützung für ihren Alltag bekäme, so lange sie krank ist, hätte das m.E. einen sehr positiven Einfluss auf ihre Psyche“ und „Sie litt und leidet auch seelisch unter der Sorge um ihre Zukunft […].”
Schließlich, Mitte 1961, musste sie ihr Recht vor Gericht erstreiten. Es ging um eine Rentennachzahlung in Höhe von DM 4.658,75 und um die besagte Rente in Höhe von DM 100 monatlich ab dem 1. August 1961. Das Gericht ordnete daraufhin die Vernehmung von Biancas Arbeitgeber an und forderte weitere medizinische Gutachen.
Nach einer Untersuchung am 20. Juni 1962 vermerkte der Arzt auf dem Deckblatt des Gutachtens: „Das Resultat meiner Untersuchung bestätigte die bereits im Middlesex Hospital gestellte Diagnose einer schweren, unheilbaren Blutkrankheit, die voraussichtlich in wenigen Monaten zum Ableben der Klägerin führen wird. Die baldmöglichste Erledigung der Klage ist daher dringlich.“ Bianca war erst seit Anfang März 1962 krankgeschrieben, obwohl sie sich seit Jahresanfang elend fühlte. Der Hausarzt nahm ihre Beschwerden offensichtlich nicht ernst; die Untersuchung im Middlesex Krankenhaus fand nur statt, weil Bianca darauf bestand.
Bianca starb am 12.7.1962 im Alter von 53 Jahren an Leukämie. Sie hinterließ keine Kinder. Das Entschädigungsamt verweigerte ihr bis zuletzt die monatliche Rente von DM 100.

Quellen: Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin

Recherche und Text: Kerstin Pohle

  • 1 Siehe auch die Biografien ihrer Brüder Martin und Hermann Silberstein
  • 2 DM 100 im Jahr 1965 entsprachen einem Wert von derzeit etwa EUR 213 (Stand 2020).

English version of the biography

Bianka Silberstein, later Bianca Spencer, was born on April 15, 1909, together with her twin brother Martin, on that same day their sister Meta celebrated her 11th birthday. The twins were particularly close to each other throughout their lives.
After graduating from high school, Bianka attended a trade seminar and did special training in foreign language stenography. From April 1927, she was employed by M. Straus & Co, a company specialising on the manufacturing of atomisers. Bianka completed most of her training as a foreign correspondent in the evenings, after her regular day-time work. She stayed with this employer until she had to be dismissed on January 31, 1939, due to the “aryanization” of the company.
In her job reference, it reads as follows: “The development of our business into an export business gave Miss Silberstein the opportunity to devote herself intensively to studying foreign languages. Within a short time she was able to write correspondence in English, French, Italian and Spanish from dictation, and [shortly thereafter] she handled the correspondence completely on her own. Miss Silberstein was then entrusted [the management of all] work related to our export activity […] and carried it out to our complete satisfaction.” „[She was] always a pleasant employee who at all times set a good example of reliability, diligence and fulfillment of duty to her subordinates and colleagues.“
Bianka’s twin brother Martin had already lost his permanent job in 1933 and successfully applied for an entry permit to the USA as early as 1935. However, he stayed in Germany for another three years, presumably for family reasons (see biography of Martin Silberstein). Finally, he and his young wife fled to Czechoslovakia in 1938, and in May 1939 he sought refuge in the United States. On November 10, 1938, the oldest brother Hermann had experienced a brutal attack on his women’s clothing store in Berlin’s fashion district, the „Konfektionsviertel“, with his father Samuel. He barely survived the terror attack, he endured severe head injuries, which left him deaf on both ears. He was forced to sell his business shortly thereafter.
Bianka was therefore acutely aware of the fact that she had to flee from Germany, as long as she still could. England offered the opportunity of obtaining a residence permit by proving a position as a domestic helper. In the absence of an alternative, Bianka pursued this way out; she later described the preparations for emigration as extremely complicated and arduous. During this time, Bianka became witness of the Gestapo standing outside her parents’ apartment and taking her parents into custody without any explanation. After some time, the parents were able to return to their family home, but this was an extremely traumatising experience for Bianka who, from then on, suffered from nightmares.
On February 22, 1939, Bianka registered her departure from Berlin. The severance payment from her employer (RM 1,536) allowed her not only to finance the travel expenses, but also the transport of some personal items, especially her beloved library.
From April 1939 to late 1940, Bianka worked as a domestic maid in London for a small weekly allowance. Many domestic workers, even from Eastern European countries, later reported how shocked they were by the low standard of living in England. In their homelands, it was typical that many household chores were carried out using machines, such as using the washing machine to wash clothes. However, tasks like these were still being done by hand in England; hence the great need for domestic workers.
Bianka came from an upper middle-class background; from one day to the next, she was responsible for a UK household of seven, doing all cooking, cleaning, washing clothes and ironing. In addition, she had to carry the coal for central heating and the hot water supply into the house. This was hard physical work, and Bianka was not accustomed to carrying such heavy loads. She was also only a small person, being just 154cm tall. Only three months after her arrival to England, she suffered a herniated disc. Bianka could not afford to seek medical attention and risk losing her job, alongside her residence permit in England, so she kept working despite excruciating pain.
It is hard to fathom how she managed to continue doing this work for another 1 ½ years . In any event, her employer was extremely satisfied with her: [Miss Silberstein] has done every sort of householdwork to my complete satisfaction and has proven to be honest, most reliable and efficient. She was always willing to work […] and […] has always proved a pleasant companion [… ]. I regret that she is leaving me, the reason being that I am going away to America.“ Despite the high regard, very likely Bianka’s status in that household never evolved from merely being a maid. Many “domestic workers” later stated that not only no one was interested in their prior training or work experience; also, there was no interest whatsoever in their reasons for fleeing from Nazi Germany and their worries about those left behind. Immigrant Jews were often considered second class citizens, even by British Jews.
Bianka managed to quit domestic work for an office job in 1941. However, she had to start as an office apprentice with very modest remuneration and without any recognition of her education and previous work experience. She would not ever be able to resume her job as a foreign correspondent, which was difficult for her to accept. Much worse, though, were her worries about her parents; nightmares, but also the pain – the herniated disc had already caused permanent pain in her legs – which troubled her throughout the night. Somehow, she managed to function, driven by the hope of being reunited with her parents after the war. Finally, the war did end; but only then would the search for her missing relatives begin. Bianka and her brothers learned little by little that neither their parents nor their sister Meta nor many others whom they knew, had survived the holocaust.
But life had to go on. When it became clear that there was no place to return to in Germany, Bianka took on the name “Bianca Spencer”. Her brothers followed her example and also adopted the surname “Spencer”.
In 1946, Bianca was offered a job by the German entrepreneur Francis Fischel; she continued to work for him until the end. As with previous employers, Bianca quickly gained great trust and appreciation. She was soon promoted to more demanding positions and was given power of attorney. However, her health continued to deteriorate; soon she was forced to reduce working hours to 4 hours a day – naturally with a decrease in her salary. The income was barely enough for Bianca to survive; so she had to continue working, even though just getting to work in crowded public transport under constant pain was agonising.
The pain kept forcing her to take breaks lying down at work. Her employer, fortunately, granted her this privilege, but of course she was not paid for the time she rested. Repeatedly, her doctor had to be called to the office to “get her so far by infiltration with Procaine […] that she could be transported home and put to bed.” An orthopaedic surgeon certified “irreparable damage to the nerves […] supplying muscles and skin”. Surgical treatment was not recommended; instead, Bianca was prescribed to wear a steel corset from then on.
In 1951, Bianca applied for financial support based on the German Federal Compensation- and restitution laws (Bundesentschädigungsgesetz). This led to a veritable medical assessment marathon. Despite the vast majority of the medical appraisers confirming that Bianca’s reduced earning capacity was a direct consequence of the persecution she had suffered and that her earning capacity was below the crucial threshold of 50%, the compensation office maintained their view that her earning capacity was above 50% and that therefore she did not have an entitlements. This, despite the fact that the amount of DM 100 per month, which Bianca was hoping for, was rather symbolic. Even back then the cost of living in London was far above that of German cities. DM 100 at that time is roughly equivalent to EUR 213 in 2020.
Years went by. Despite the fact that the very medical experts, which were appointed by request of the compensation office concluded, a.o.: „If, at least, she got a small financial support for her everyday life as long as she is sick, this could have, in my opinion, a highly beneficial impact on her psyche“, while another examiner stated „She is also suffering from uncertainties concerning her livelihood.“
Finally, in mid-1961, Bianca had to go to court against the compensation office to decide upon her entitlements. The small monthly pension payments which she had not received had accrued to DM 4,658,75 and she was also still pursuing the monthly pension of DM 100 from August 1, 1961. The court ruled that Bianca’s employer should be questioned and requested further medical opinions.
After an examination on June 20, 1962, the doctor noted in big letters on the cover of his report: “The result of my examination confirmed the diagnosis of a serious, incurable blood disease already made at Middlesex Hospital, which is likely to lead to the applicant’s death within a few months. It is therefore urgent to settle the complaint without any further delay.”
Bianca had only been on sick leave since the beginning of March 1962, although she had felt miserable since the beginning of the year. Obviously, her family doctor did not take her complaints seriously, and the tests at Middlesex Hospital were run only because Bianca insisted on them.
Bianca died from leukaemia on July 12, 1962. She was 53 years old. She left no children. Until the very end, the compensation office refused to pay her the pension of DM 100 monthly.

Research and text: Kerstin Pohle

Stolperstein Martin Silberstein

HIER WOHNTE
MARTIN
SILBERSTEIN
MARTIN SPENCER
JG. 1909
FLUCHT 1939
TSCHECHOSLOWAKEI
USA

Martin Silberstein, später Martin Spencer, wurde am 15. April 1909 in Berlin als Sohn des selbständigen Textilkaufmanns Samuel Silberstein und seiner Ehefrau Ernestine geboren, zusammen mit seiner Zwillingsschwester Bianka. Am Tag ihrer Geburt feierte ihre große Schwester Meta ihren 11. Geburtstag; die Brüder Hermann und Walter waren 9 und 7 Jahre alt.
Da der Vater beruflich viel unterwegs war, oblag der Mutter die führende Rolle bei der Erziehung der Kinder. Die Familie lebte gemäß Martin „in gesicherten und geordneten Verhältnissen“. Seine Kindheit bezeichnete er als „gut“; das Familienleben beschrieb er als „sehr harmonisch“ und „enggeschlossen“. Die Zwillinge standen sich Zeit ihres Lebens besonders nahe.
In den Archiven sind keine Fotos von Martin zu finden. Sein Aussehen als Erwachsener wird wie folgt beschrieben: 174 cm gross, blaue Augen, blondes Haar. Ein medizinischer Gutachter schätze ihn als überdurchschnittlich intelligent ein und bezeichnete ihn als „immer höflich, freundlich, zuvorkommend“.
Martin machte Anfang 1926 den Abschluss auf dem Königstädtischen Realgymnasium und trat dann, knapp 16-jährig, als kaufmännischer Lehrling bei der Modell-Damenkonfektionsfirma Cohn & Rosenbaum AG in der Mohrenstr. 44 (später Charlottenstr. 59) ein. 1 Martin konnte seine Lehrzeit bereits Ende 1927 nach nicht einmal zwei statt der regulären drei Jahre abschliessen. Er wurde nicht nur von seinem Lehrbetrieb in Festanstellung übernommen, sondern ihm wurden auch direkt die anspruchsvollen Aufgaben als Einrichter und Kalkulator übertragen; bald darauf wurde er zum Leiter der Abteilung Stoffeinkauf befördert. Martin schrieb später über diese Zeit: „Als Hitler zur Macht kam, war ich 24 Jahre alt. Ich war im besten Mannesalter. Ich habe viel Sport getrieben und lebte ein normales, ruhiges Leben.“
Fatalerweise war die Stammkundschaft seines Arbeitgebers „in den Regierungskreisen“. Durch den Boykott jüdischer Geschäfte wurde das Unternehmen so schwer getroffen, dass die Liquidation bereits im März 1933 unumgänglich war. Martin wurde arbeitslos. In seinem Arbeitszeugnis hiess es: „Herr Silberstein war uns ein äußert zuverlässiger Mitarbeiter, der sich durch Ehrlichkeit, Bescheidenheit und außerordentlichen Fleiß unser vollstes Vertrauen erwarb.“
In den kommenden Jahren war es Martin als Jude unmöglich, eine Festanstellung zu bekommen, und so schlug er sich mit Aushilfsjobs durch. An seine einstigen beruflichen Erfolge sollte er auch später nie wieder anknüpfen können. Während dieser existentiellen Krise war für ihn der Familienzusammenhang besonders wichtig, und Bruder Hermann beschäftigte ihn in dessen Konfektionsfirma so gut wie möglich.
1935 bekam Martin mit Hilfe von in Amerika lebenden Verwandten, der für ihn bürgten, die Einreisegenehmigung in die USA. Warum er dennoch in Deutschland blieb, ist nicht dokumentiert, aber um diese Zeit herum lernte er „ein Mädel aus der Tschechoslowakei“, kennen und die beiden verliebten sich. Kato, wie sie genannt wurde, wurde als Kateřina Vasová am 15.10.1913 im ungarischen Ungvár geboren, das zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens Uschhorod hieß und zur Tschechoslowakei gehörte; heute ist die Stadt im äußersten Westen der Ukraine gelegen. 2
Wie Martin kam Kato aus einem liberalen jüdischen Elternhaus. Die wohlhabenden Eltern – der Vater, Dr. Ignac Vas, war ein angesehener Rechtsanwalt – ermöglichten es Kato, als junge Frau längere Zeit in Berlin zu verbringen. Darüber, ob sie in Berlin vielleicht studierte oder arbeitete, liess sich in den Akten nichts finden. In einem Dokument hieß es, ihr Beruf sei ‘Kontorist’; später arbeitete sie aber als Krankenschwester im Krankenhaus ihrer Heimatstadt.
Möglicherweise lernten sich Martin und Kato in der Synagoge „Friedenstempel“ in Halensee kennen. Bei der Einweihung der 1.450 Menschen fassenden Synagoge nach liberalem Ritus im Jahr 1923 wurde erklärt „Der Tempel soll nicht allein religiösen Zwecken dienen, sondern auch eine Versammlungsstätte aller sein, die an der Herbeiführung eines wirklichen Friedens mitarbeiten wollen”. Die Gemeinde erlebte ab 1933 einen Aufschwung, weil immer mehr von den Nationalsozialisten terrorisierte Juden dort die Gemeinschaft suchten. In der Pogromnacht 1938 brannte das Gebäude aus und wurde später abgerissen.
Im Alter von 27 und 23 Jahren heirateten Martin und Kato 1936 „nach einigen Schwierigkeiten mit Pässen und Genehmigungen“. Die standesamtliche Hochzeit fand am 28. Oktober 1936 in Katos Heimatstadt statt, in der ihre Eltern nach wie vor lebten; durch die Heirat erlangte Kato die deutsche Staatsbürgerschaft. Am 8. Dezember 1936 folgte die jüdische Trauung in Berlin durch den im Friedenstempel tätigen Rabbiner Dr. Max Nussbaum. Die Wege von Martin und dem Rabbi sollten sich Jahre später in den USA wieder kreuzen. 3 Martin und Kato lebten zu Beginn ihrer Ehe in der Familienwohnung der Silbersteins in der Fritschstr. 54 und es darf angenommen werden, dass das ihre letzte freiwillige Adresse war. Für kurze Zeit waren Martin und Kato dann noch in der Kantstr. 125 im 1. Stockwerk als Untermieter gemeldet.
Martin beschrieb die Ehe als glücklich, auch wenn sie in diesen unsicheren Zeiten das Thema Kinder zurückstellen mussten. Die Verhältnisse in Deutschland wurden für das junge Paar immer aussichtsloser. Im August 1938 siedelten sie daher in der Hoffnung nach Uschhorod um, sich dort eine Existenz aufbauen zu können. Es war wohl insbesondere Katos Vater, der ihnen zu diesem Schritt riet, und im mehrstöckigen Haus der Eltern gab es auch eine freie Wohnung für sie, die sie beziehen konnten.
Der Traum von einer besseren Zukunft fand aber nach nur drei Monaten ein jähes Ende. Anfang November 1938 wurde Uschhorod durch den Ersten Wiener Schiedsspruch mitsamt dem südlichen Streifen der Karpatoukraine wieder Teil von Ungarn. Die ungarische Regierung hatte schon früh begonnen, sich der nationalsozialistischen Führung Deutschlands anzunähern und faschistische Kreise genossen in der Bevölkerung breite Unterstützung. Nun trat in Uschhorod von einen Tag auf den anderen ein antijüdisches Diskriminierungsgesetz in Kraft, das im Mai 1938 von der ungarischen Regierung verabschiedet worden war und später noch zweimal verschärft wurde.
Gemäß dem Gesetz hätte sofort die Enteignung der ungarischen Juden beginnen sollen. Weil aber die Mittelklasse in Ungarn fast ausschließlich von Juden gebildet wurde und sie somit für die Wirtschaft des Landes unentbehrlich waren, wurden die Juden zunächst verschont. Das Regime begann aber umgehend mit der Ausweisung von Flüchtlingen aus Deutschland; auch Martin drohte schon bald die Abschiebung. „Als ich den deutschen Konsul […] um eine Verlängerung [der Aufenthaltsgenehmigung] ersuchte, wurde mir geraten, nicht mehr nach Deutschland zurückzugehen, da ich sonst in ein Konzentrationslager gebracht werden würde“.
Da Martin ja Jahre zuvor bereits die Einreisegenehmigung in die USA bekommen hatte, stellte er bei der Amerikanischen Botschaft in Berlin den Antrag auf Erneuerung seines Visums, das von dort an das Amerikanische Konsulat in Budapest geschickt werden würde. Martin und Kato überbrückten die Wartezeit, indem sie bei Freunden in Budapest untertauchten. Im April 1939 kamen endlich die Einreisepapiere, aber nur für Martin. „Gezwungenermassen musste ich so […] meine Frau, die ich sehr liebte, zurücklassen“. „Die Trennung von meiner Frau war für mich unerträglich. Jedoch dies war die einzige Lösung.“
Ihr Plan war, dass Martin Kato schnellstmöglich nach Amerika nachholen würde. Die Ausweisung von Kato aus Ungarn, die ja aufgrund der Heirat die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt hatte, konnte nur durch eine pro forma Trennung von Martin und Kato verhindert werden, denn für das Bleiberecht musste Kato nun den Nachweis der ungarischen Staatsangehörigkeit erbringen.
Für Martin war auch der Verlust seiner Herkunftsfamilie traumatisch. Jahrzehnte später schrieb er: „Ich musste Europa verlassen, ohne mich von meinen lieben Eltern zu verabschieden. Dass ich nicht noch einmal meine Eltern umarmen konnte, habe ich bis heute nicht überwunden.“
Mittellos kam Martin am 10. Mai 1939 auf der SS Île de France in New York City an. Um für Kato die Einreisegenehmgiung zu bekommen, musste er eine finanzielle Bürgschaft für sie erbingen. Die Arbeitssuche gestaltete sich aber schwierig, da die Arbeitslosigkeit in den USA nach der Weltwirtschaftskrise noch immer hoch war. Für jüdische Flüchtlinge war es besonders schwer, einen Arbeitsplatz zu ergattern, und für Martins Ausbildung und Arbeitserfahrung interessierte sich niemand. Später schrieb er über diese Zeit: „Ich war einsam und verlassen […]. Nach einigen Wochen fand ich Beschäftigung als Hausmann und Fahrstuhlführer für $12.00 die Woche. Ich nahm auch alle Arbeiten als Porter in einem Lager eines Pelzgeschäfts u.ä. an und versuchte verzweifelt, die Mittel für die Bürgschaft für meine Frau zusammenzubekommen. Ich wohnte in einem schrecklichen Zimmer mit Ratten, für das ich $3.00 die Woche zahlte. Die Sehnsucht nach meiner Frau und meinen Eltern sowie die Sorge um sie waren unerträglich. Die Nächte waren furchtbar. Ich konnte entweder vor Sorgen nicht schlafen, oder wenn ich einschlief, hatte ich böse Träume.“
Martins erster Antrag auf Einreisegenehmigung für Kato wurde negativ beschieden, da seine Bürgschaft für Kato mit Hinweis auf seinen geringen Verdienst nicht akzeptiert wurde. Martin arbeitete fieberhaft daran weiter, dieses Problem zu lösen. Schliesslich gelang es ihm, einen finanzkräftigeren Bürgen für Kato aufzutun, aber als im Oktober 1939 die Einreisepapiere in der Post zu Kato waren, war es schon zu spät. Am 1. September 1939, keine vier Monate nach Martins Ankunft in New York, hatte mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen der Zweite Weltkrieg begonnen. Kato gelang die Flucht nicht mehr. Im gleichen Monat starb Katos Vater, möglicherweise nahm er sich das Leben. Kato war gerade 25 Jahre alt. Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass er sich große Vorwürfe machte, Kato nicht rechtzeitig zur Flucht geraten zu haben. Zunächst hielten Martin und Kato Briefkontakt, aber irgendwann riss dieser ab. Kato hielt auch noch so lange wie möglich den Kontakt zu ihren Schwiegereltern in Berlin und schickte sogar noch bis 1941 Lebensmittelpakete an sie.
Später schrieb Martin über diese Zeit: „Die folgenden Jahre waren für mich unerträglich. Ich litt mehr und mehr an Depressionen. Die Sorgen und Ungewissheit über meine Angehörigen nahm mir die Lust am Leben. [Ich] konnte nicht essen, da ich ständig an meine Familie denken musste, die den Berichten nach hungern mussten. Ich verlor alle Initiative. Es machte mir nichts aus, täglich Fußböden zu waschen und Latrinen zu reinigen. Ich betrachtete das als eine Selbst-Geißelung und Strafe, weil ich dem Gemetzel entkommen war und meine Lieben im Stiche gelassen hatte. – Es waren schreckliche Jahre.“ Zunehmend fühlte sich Martin auch körperlich schlecht.
Ein kleiner Trost war für Martin vielleicht, dass er es 1940 trotz unveränderter Arbeitsbedingungen schaffte, einen Kredit aufzunehmen, mit dem er gerade noch rechtzeitig die Flucht seines älteren Bruders Hermann nach Shanghai im Mai 1940 finanzieren konnte.
Martin hatte bald nach seiner Ankunft in den USA die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangt. 1941 bekam er die Einberufung zum Militär, wurde aber wegen hohen Blutdruckes und wegen einer „schweren Neurose“ 4 abgewiesen – ein weiterer Schlag für ihn. „Und ich hatte immer geträumt, dass ich als Held nach Berlin zurückkehren würde, um meine Familie zu befreien.“
Auch nach Kriegsende hielt der Zustand der Ungewissheit noch lange an; erst nach und nach erfuhren Martin, Bianka und Hermann, dass ihre Eltern nach Theresienstadt verschleppt und dort umgekommen waren. Kato war Ende 1944 im KZ Stutthof im Alter von 31 Jahren umgekommen. Die ältere Schwester Meta und deren Mann Bruno Pohle waren nach Riga gebracht und noch am Tag der Ankunft mit 800 anderen Deportierten in einem Wald bei Riga erschossen und in einem Massengrab verscharrt worden. Die drei Geschwister nahmen den Nachnamen „Spencer“ an; die Familie Silberstein gab es nicht mehr.
Martin später: „Seit dieser Zeit gab es für mich eigentlich keinen Lebensinhalt mehr. Ich habe auch niemals wieder geheiratet.“ Martin blieb bei der Firma Penn Fifth Avenue, bei der er als Hausdiener angefangen hatte. Er arbeitete sich allmählich empor; schliesslich war er als Lagerarbeiter im Versand tätig. Er brachte aber nicht die erforderliche Energie und Antriebskraft auf, um sich besser bezahlte Arbeit zu suchen. „Nach 13-jährigem Aufenthalt in den USA betrug sein Monatseinkommen $ 300, was sicher nicht für eine geglückte soziale Integration spricht“ resümierte später sein Anwalt, den Martin wegen des äusserst schleppenden Entschädigungsprozesses irgendwann einschalten musste.
1952 folgte Martin einem Freund nach Salt Lake City, der ihm dort Arbeit in seinem neu eröffneten Hotel anbot. Als das Hotel nur drei Jahre später verkauft wurde, zog Martin nach Los Angeles weiter. Für die Stadt sprach aus Martins Sicht vielleicht, dass Max Nussbaum, den Martin ja bereits aus Berlin kannte, nun in Hollywood als Rabbiner amtierte. 5 Auch Hazel Rheinstrom, die ihm gut bekannte Tochter der Verwandten, die ihm seinerzeit als Bürgen die Einreise in die USA ermöglicht hatten und ihm in den Jahren in New York immer wieder finanzielle und seelische Unterstützung geboten hatten, lebte mittlerweile in Los Angeles. Der Broterwerb gestaltete sich aber erneut sehr schwierig. In den folgenden Jahren schlug sich Martin zunächst als Vertreter eines Verlags mit dem Haus-zu-Haus-Verkauf von Lexika durch, dann als Versicherungsvertreter. Aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit beantragte Martin 1960 auf Empfehlung seines Arztes eine Umschulung als Buchhalter.
Als Anfang 1962 bei seiner Zwillingsschwester Bianka Leukämie diagnostiziert wurde, war das ein weiterer schwerer Schlag für Martin. Im März erlitt er, 52-jährig, den ersten von mehreren schweren Herzinfarkten. Ab jetzt waren es nicht nur die wiederkehrenden Albträume, sondern auch ständige von seiner Herzkrankheit verursachte Agina-Pectoris-Anfälle, die ihm trotz Schlafmitteln den Nachtschlaf raubten; er musste sich immer wieder wegen heftiger Brustschmerzen für längere Zeit aufsetzen, um sich etwas Erleichterung zu verschaffen. Er war kurzatmig und hatte Grauen Star auf beiden Augen. Er litt unter Angstzuständen und Depressionen. Martin war nun endgültig erwerbsunfähig; ein Arzt bezeichnete ihn als früh gealtert. Die Zwillinge lagen zur gleichen Zeit im Krankenhaus, er in Los Angeles, sie in London. Bianka verstarb im Juli 1962.
Die Rechnung für die 20-tägige stationäre Behandlung im Krankenhaus konnte Martin kaum bezahlen; wieder half Bruder Hermann aus, der mittlerweile in San Francisco lebte. Mehr denn je war er jetzt auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Beim Entschädigungsamt hatte er schon Jahre zuvor einen Antrag auf eine Rente gestellt 6, aber immer wieder abschlägige Bescheide bekommen, die mit der Behauptung begründet wurden, Martins gesundheitliche Probleme seien nicht verfolgungsbedingt. Und das, obwohl eine ganze Reihe von medizinischen Gutachtern, die er auf Verlangen des Entschädigungsamts im Lauf der Jahre aufsuchen musste, immer wieder bescheinigten, dass die erheblichen gesundheitlichen Probleme durchaus in einem direkten Zusammenhang mit der Verfolgung stünden.
Aber natürlich gab es auch Gutachter, die im Sinne des Entschädigungsamts argumentierten und das Verfolgungsschicksal bagatellisierten. Beispielhaft hierfür und den Entschädigungsprozess insgesamt sei hier aus einem Gutachten von einem Dr. Werner König, Nervenarzt und Vertrauensarzt des Deutschen Generalkonsulates in Los Angeles, zitiert: „Durch den geringgradigen Verfolgungsdruck und die notwendig gewordene Emigration und die darauffolgenden Anpassungsschwierigkeiten ist es bei M.S. zu keiner nennenswerten seelischen Störung […] gekommen und somit ist die verfolgungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht zu bewerten. Für das organische Psychosyndrom auf Grund einer allgemeinen cerebralen Arteriosklerose sowie in dem Spätzustand nach Coronarinfarkt besteht derzeitig eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit, doch steht diese in keinem Zusammenhang mit der NS-Verfolgung und muss als schicksalsmässig angesehen werden.“
Es wurde also argumentiert, die Herzkrankheit – und nur diese – würde sich auf Martins Psyche auswirken; und da die Herzkrankheit nicht verfolgungsbedingt sei, sei es auch sein „Psychosyndrom“ nicht. Dem widersprach ein anderer Gutachter entschieden; ihm zufolge lag ohne Zweifel eine „Entwurzelungsdepression“ vor, nicht nur ein organisches Psychosyndrom. Heutzutage ist natürlich schon längst ein starker Zusammenhang zwischen Angstzuständen, Depressionen, Erschöpfung u.a. und vielen chronischen Krankheiten, einschließlich koronarer Herzkrankheit und Herzinsuffizienz, nachgewiesen.
Nach über zwei Jahrzehnten eines entwürdigenden und zermürbenden Kampfes mit dem Entschädigungsamt bekam Martin ab Mitte 1972 endlich eine kleine Rente aus Deutschland, zusätzlich zur Mini-Rente in den USA. So war er finanziell abgesichert, wenngleich nur ein sehr bescheidener Lebensstandard möglich war. Seine letzten Jahre verbrachte er sehr zurückgezogen hauptsächlich mit Lesen und Briefeschreiben. Gelegentlich ging er in die Synagoge oder traf ein paar Freunde. Dieser Beschreibung fügte Martin noch hinzu, er fühle sich „sehr verloren und vereinsamt.“
Martin starb am 15.5.1991 in Los Angeles und mit ihm der letzte dieses Familienzweigs der Silbersteins.

Quellen: Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin

Recherche und Text: Kerstin Pohle

  • 1 1926 starb auch der erst 24-jährige Bruder Walter an Lungenentzündung und Tuberkulose in Frankfurt/Main
  • 2 Weitere Informationen zur Geschichte der Region und zum familiären Hintergrund Katos: Siehe ihre Kurzbiografie unter ihrem Namen Katerina Silberstein
  • 3 Max Nussbaum konnte 1940 noch in die USA flüchten und amtierte von 1943 bis 1974 am Temple Israel of Hollywood/Los Angeles als Rabbi. Mediales Interesse fand die Synagoge u.a. durch eine flammende Rede, die Martin Luther King Jr. auf Einladung von Max Nussbaum 1965 vor der Kongregation hielt.
  • 4 Etwas detaillierter wurde auch von “Nervosität” geschrieben, verstärkt durch Schlafstörungen und Angstzustände. Die Symptomatik würde heute wohl eher als Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet werden.
  • 5 Einen Kontakt zwischen den beiden gab es auf jeden Fall, denn Nussbaum bestätigte schriftlich die Eheschliessung von Martin und Kato durch ihn in Berlin.
  • 6 basierend auf dem sog. ‘Bundesentschädigungsgesetz’, dem Gesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, aus dem Jahr 1956.

English version of the biography

Martin Silberstein, later Martin Spencer, was born on April 15, 1909, in Berlin together with his twin sister Bianka. Their big sister Meta celebrated her 11th birthday on the day of their birth. The brothers Hermann and Walter were 9 and 7 years old. Their father Samuel was a textile merchant with his own business, and since he was traveling a lot for work, their mother Ernestine had the leading role in bringing up the children. According to Martin, the family lived “in a secure and a well-established financial position“. He described his childhood as “good” and family life as “very harmonious” and “close-knit”. The twins were particularly close throughout their lives.
There are no photos of Martin in the archives. His appearance as an adult was described as follows: 174 cm tall, blue eyes, blonde hair. A medical expert assessed his intelligence as above average and described him as “always polite, friendly, courteous”.
Martin graduated from Königstädtische Realgymnasium at the beginning of 1926 and then, before he turned 16 years old, started a commercial apprenticeship with the women’s fashion company Cohn & Rosenbaum AG in Mohrenstr. 44 (later Charlottenstraße 59). Martin was able to complete his apprenticeship in late 1927 in less than two years, instead of the regular three years. Not only was he then offered a permanent position with Cohn & Rosenbaum, he was also assigned the responsible position of set-up and calculation. Some time later he was promoted to head the company’s fabric purchasing department. Martin later wrote about this time: “When Hitler came to power, I was 24 years old. I was in the prime of life. I did a lot of sports and lived a normal, quiet life.”
The fact that the bulk of his employer’s regular customers were “in government circles” had disastrous consequences. The boycott of Jewish businesses hit the company so hard that liquidation was inevitable as early as March 1933. Martin became unemployed. According to his job reference, “Mr. Silberstein was an extremely reliable employee, who earned our full trust through honesty, modesty and outstanding diligence.”
During the coming years, as a Jew, Martin was unable to get a permanent job and was only offered odd jobs. He would never be able to build on his previous professional success. Family ties were particularly important to him during the existential crisis. His brother Hermann employed him at his clothing company.
In 1935, Martin was given permission to enter the United States with the help of relatives living in America, who provided a financial guarantee. The reason why he stayed in Germany is not documented, but around this time he got to know “a girl from Czechoslovakia” and the two fell in love. Kato, as she was called, was born as Kateřina Vasová on October 15, 1913, in Ungvár Hungary, which was called Uzhhorod and belonged to Czechoslovakia at the time Martin and Kato met; today the city is located in the far west of Ukraine. (For more information on the history of the region and Kato’s family background, see her short biography under her name Katerina Silberstein).
Like Martin, Kato came from a liberal Jewish home. The wealthy parents – Kato’s father, Dr. Ignac Vas, was a respected lawyer – who made it possible for Kato to spend an extended time in Berlin as a young woman. No information could be found regarding the purpose of her stay in Berlin and whether perhaps she was studying or learning a profession. According to one document, her profession was that of a ‘clerk’; but later on, back in her hometown, she worked as a nurse at the local hospital.
Martin and Kato may have met at the Synagogue “Friedenstempel” in Halensee. At the inauguration of this synagogue, which could seat 1,450 people and practiced the German Reform style of liturgy, it was declared that “the temple should not only serve religious purposes, but also be a meeting place for all who want to work to bring about real peace”. The synagogue community experienced an upswing from 1933, because more and more Jews terrorised by the Nazis sought fellowship there. The building burned down on the pogrom night in 1938 and was later demolished.
In 1936, at the age of 27 and 23, Martin and Kato married “after some difficulties with passports and permits”. The civil wedding took place on October 28, 1936, in Kato’s hometown, where her parents still lived; through the marriage, Kato acquired German citizenship. On December 8, 1936, their Jewish wedding was held in Berlin and was performed by Rabbi Dr. Max Nussbaum. The rabbi’s and Martin’s paths were to cross again in the United States years later. At the beginning of their marriage, Martin and Kato lived in the Silbersteins’ family home on Fritschestr. 54, which is assumed to be their last voluntary address. For a brief period, Martin and Kato were registered in Kantstr. 125 as subtenants.
Martin described the marriage as happy, even though they had to put off having children in these uncertain times. The situation in Germany became increasingly hopeless for the young couple. They therefore relocated to Uzhgorod in August 1938, in the hope of being able to build a better life there. It was in particular Kato’s father who advised them to take this step, and there was also a free apartment in her parents’ multi-story house, which they could move into.
The dream of a better future came to an abrupt end after only three months. At the beginning of November 1938, pursuant to the First Vienna Award, Uzhhorod and the southern strip of Carpathian Ukraine became part of Hungarian territory once more. The Hungarian government had sympathised with Germany’s National Socialist leadership from early on, and fascist circles enjoyed broad support from the population. From one day to the next, an anti-Jewish discrimination law became effective in Uzhgorod, which had been passed by the Hungarian government in May 1938. Following this time, these new laws were updated twice, increasing in severity.
According to the law, the expropriation of the Hungarian Jews should have started immediately. However, because the middle class in Hungary was formed almost entirely by Jews and they were therefore indispensable for the country’s economy, they were initially spared. The regime immediately began expelling refugees from Germany, and also Martin soon faced extradition.“When I asked the German consul […] for an extension [of the residence permit], I was advised not to go back to Germany, otherwise I would be taken to a concentration camp.”
Since Martin had already received the entry permit to the United States years earlier, he applied to the American Embassy in Berlin to have his visa renewed; from there, the documents would be sent to the American consulate in Budapest. Martin and Kato bridged the waiting time by hiding with friends in Budapest. In April 1939, the documents finally arrived, but only with a visa for Martin.“I was forced to […] leave my wife behind, whom I loved very much.” “The separation from her was unbearable for me. However, that was the only solution.”
Their plan was for Martin to obtain a visa for her asap after his arrival in the USA, so that Kato could follow him. The expulsion of Kato from Hungary, who had acquired German citizenship due to her marriage to Martin, could only be prevented by a pro forma separation of Martin and Kato, because she now had to provide proof of Hungarian citizenship.
Also losing his family was traumatic for Martin. Decades later, he wrote: „I had to leave Europe without saying goodbye to my dear parents. I still haven’t overcome the fact that I couldn’t hug my parents once more.”
Penniless, Martin arrived on the SS Île de France in New York City on May 10, 1939. In order to get the entry permit for Kato, he had to provide a financial guarantee for Kato. However, finding a job was difficult because unemployment was still high after the Great Depression. It was particularly difficult for Jewish refugees to land a job, and nobody was interested in Martin’s education and work experience. He later wrote about this time: “I felt lonely and abandoned […]. After a few weeks, I found a job as a janitor and elevator operator for $ 12 a week. I also took on any other odd job e.g. as a porter in a warehouse of a fur shop. I desperately tried to raise the funds in order to be able to provide the requested financial guarantee for my wife. I slept in a horrible room that I had to share with rats and that cost me $ 3.00 a week. The yearning for my wife and my parents and the worries about them were unbearable. The nights were terrible. I either couldn’t sleep because of perturbation or, when I fell asleep, I had nightmares.”
Martin’s first application for Kato’s visa was denied because his salary was deemed too low to provide the requested financial guarantee. Martin continued to work strenuously to solve this problem. In the end, he managed to find a financially stronger guarantor for Kato, but when the visa was on its way to Kato in October 1939, it was already too late. On September 1, 1939, less than four months after Martin’s arrival in New York, the Second World War had begun with the attack by the German Wehrmacht on Poland. Kato was no longer able to escape. Kato’s father died in the same month; did he perhaps take his own life? At that time Kato was just 25 years old, and it can be assumed that he felt guilty about not having recommended Kato to flee abroad whilst she still could. For some time, Martin and Kato were able to keep in touch, but eventually their letters were no longer delivered. Kato also kept in touch with her in-laws in Berlin for as long as possible and even sent packages with groceries to them until 1941.
Martin later wrote: “The following years were unbearable for me. I suffered more and more from depression. The worries about my relatives and the uncertainty about their fates consumed my lust for life. [I] could not eat because I kept thinking of my family who were reported to be starving. I lost all initiative. I didn’t mind washing floors and cleaning latrines every day. I considered this a self-flagellation and punishment for escaping the slaughter and leaving my loved ones in the lurch. – These were terrible years.” Martin also felt increasingly sick physically.
Perhaps it was a small consolation for Martin that in 1940, despite unchanged working conditions, he managed to take out a loan to finance his older brother Hermann’s last-minute escape to Shanghai in May 1940.
Martin had acquired American citizenship soon after his arrival in New York City. In 1941, he was drafted, but then rejected due to high blood pressure and a “severe neurosis” – another severe blow to him. “And I had always dreamed that I would return to Berlin as a hero to free my family.”
Even after the end of the war, the uncertainty about the fate of loved ones continued; only gradually did Martin, Bianka and Hermann learn that their parents had been taken to Theresienstadt and perished there. Kato died at the end of 1944 in the Stutthof concentration camp at the age of 31. Their older sister Meta and her husband Bruno Pohle had been taken to Riga and shot dead the day of their arrival with 800 other deportees in a forest near Riga. The three siblings adopted the surname“Spencer”; the Silberstein family name no longer existed. Martin later stated: “Since then, there has actually been no purpose in my life. I never remarried.” Martin stayed with his employer Penn Fifth Avenue, where he had started as a valet. He gradually worked his way up and had a position as a worker in the storage and shipping department. But he did not have the energy and drive to look for better paid work. “After a 13-year stay in the United States, his monthly income was $300, which certainly does not speak for successful social integration,” later summed up by his lawyer, whom Martin had to consult at some point, to address the extremely slow compensation process.
In 1952, Martin followed a friend to Salt Lake City who had offered him work in his newly opened hotel. When the hotel was sold just three years later, Martin moved on to Los Angeles. Perhaps he was drawn to that city because he knew some people who lived there. Max Nussbaum whom Martin knew from Berlin, was now officiated as rabbi in Hollywood; and Hazel Rheinstrom, the well-known daughter of the relatives, who had provided a financial guarantee for Martin to receive a visa to the US and who continued to give him financial and emotional support during the dire straits in New York, now also lived in Los Angeles. But earning a living proved very difficult once more. Martin tried to make ends meet by being a door-to-door salesman selling encyclopaedias for a publishing house, then he worked as insurance broker. Due to his ailing health, on the recommendation of his doctor, Martin applied for retraining as an accountant in 1960.
When Martin’s twin sister Bianka was diagnosed with leukemia in early 1962, it was another major blow to Martin. In March, at the age of 52, he suffered the first of several severe heart attacks. From now on, it was not just the recurring nightmares, but also constant angina pectoris attacks caused by his heart disease that robbed him of sleep, despite sleeping medication; during the nights he kept having to sit up for lengthy periods to get some relief from excruciating chest pain. He was short of breath and had cataracts in both eyes. He suffered from anxiety and depression. A doctor described him as having aged early. Martin was now permanently unable to work. The twins were hospitalised during the same period, he was in Los Angeles and she was in London. Bianka died in July 1962.
Martin was hardly able to pay the bill for the 20-day inpatient treatment at the hospital; his brother Hermann, who now lived in San Francisco, helped out once more. More than ever, Martin now needed financial support. He had filed an application for a pension with the german compensation offices 10 years earlier, but he had been repeatedly turned down based on the claim that Martin’s health problems were not related to persecution. This is despite the fact that a number of medical experts, who the compensation office requested to perform assessments of Martin, came to the conclusion that Martin’s significant health problems were directly related to the persecution he had suffered.
Of course, there were also medical experts who supported the compensation office’s negative attitude, trivialising the fate of persecution. An example of this and the compensation process as a whole is the report written by a Dr. Werner König, neurologist and medical examiner of the German Consulate General in Los Angeles, here an excerpt: “The low level of persecution pressure, the need to emigrate and the subsequent difficulties in adaptation have not resulted in any noteworthy mental disorder in M.S., which is why a persecution-related disability to earn one’s living cannot be opined upon here. As for the organic psycho-syndrome due to a general cerebral arteriosclerosis and in the late state after coronary infarction, there is currently a 100% incapacity to work, but this is not related to the persecution of the NS and must be regarded as fateful.“
Hence it was argued, that the heart disease – and only that – affected Martin’s psyche; and he went on to claim that since the heart disease was not related to persecution, so it could also not be the psycho-syndrome. Another expert vehemently contradicted this assessment, saying that there was absolutely no doubt that Martin suffered from an “uprooting depression”, rather than just an organic psycho-syndrome. Today, of course, research has long since shown a strong link between anxiety, depression, exhaustion a.o. and many chronic diseases, including coronary heart disease and heart failure.
After more than two decades of a degrading and demoralising fight with the compensation office, Martin finally was granted a small pension from Germany in mid 1972, in addition to the mini pension he acquired in the USA. Now, at last, he had financial security, of course allowing only for a very modest standard of living. Martin spent his last years in a very secluded manner, mainly reading and writing letters. Occasionally he went to the synagogue or met some friends. Martin added to this description that he felt “very lost and lonely.”
Martin died on May 15, 1991 in Los Angeles and with him the last of this family branch of the Silbersteins.

Research and text: Kerstin Pohle

Stolperstein Katerina Silberstein

HIER WOHNTE
KATERINA
SILBERSTEIN
GEB. VAS
JG. 1913
FLUCHT 1938
TSCHECHOSLOWAKEI
DEPORTIERT 1944
STUTTHOF
ERMORDET 9.12.1944

Katerina Silberstein, genannt Kato, wurde als Kateřina Vasová am 15.10.1913 in Ungvár geboren. Die heutige Stadt Uschhorod liegt im äußersten Westen der Ukraine im Dreiländereck zwischen Ungarn, der Slowakei und der Ukraine. Die Bewohner waren im Laufe der Jahrhunderte vielen Grenzverschiebungen ausgesetzt. Zu Katos Geburt war die Stadt Teil von Ungarn. Nach dem ersten Weltkrieg fiel die Stadt 1919 mit der Karpatoukraine an die neu gegründete Tschechoslowakei.
Kato hatte vermutlich keine Geschwister. Ihr Vater, Dr. Ignac Vas, war ein erfolgreicher Rechtsanwalt in Uschhorod. Die Familienwohnung befand sich in einem Mehrfamilienhaus im Stadtzentrum, das den Eltern gehörte; folgende Beschreibung liegt vor: „Die Wohnung bestand aus zwei Schlafzimmern, einem Speisezimmer, einem Herrenzimmer, einem Wohnzimmer, Küche, Bad und Kammer und war sehr gut eingerichtet. Im Herrenzimmer waren lederne Klubmöbel und da waren echte Teppiche, Silber, Handarbeiten und gutes Porzellan.“ In diesem Haus befand sich auch die Kanzlei des Vaters, die Praxis eines Augenarztes und vermietete Wohnungen.
Katos Eltern waren liberale Juden; diesem Umstand und ihrem Wohlstand war es sicher zu verdanken, dass Kato als junge Frau längere Zeit in Berlin verbrachte. Es ist nicht bekannt, ob sich Kato vielleicht zum Studieren oder Erlernen eines Berufs in Berlin aufhielt. In einem Dokument hieß es zu Katos Beruf, sie sei ‘Kontorist’; nach der Rückkehr in die alte Heimat im Jahr 1938 arbeitete sie aber als Krankenschwester im Krankenhaus von Uschhorod.
Während ihrer Zeit in Berlin lernten sich Kato und Martin kennen und lieben, möglicherweise in der später zerstörten Synagoge nach liberalem Ritus ‘Friedenstempel’ in Halensee. 1936, im Alter von 27 und 23 Jahren, heirateten sie „nach einigen Schwierigkeiten mit Pässen und Genehmigungen“. Die standesamtliche Hochzeit fand Ende Oktober 1936 in Uschhorod statt; Anfang Dezember 1936 folgte die jüdische Trauung im Friedenstempel in Berlin unter dem schon damals bekannten Rabbiner Dr. Max Nussbaum.
Das gemeinsame Leben stand allerdings von Anfang an nicht unter einem guten Stern. Martin hatte mit der Insolvenz seines Arbeitgebers infolge der Judenboykotte schon Anfang 1933 seine Arbeit in der Leitung eines grösseren Damenkonfektions-Betriebs verloren. Da er keine reguläre Arbeit mehr fand, schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, war aber auch oft arbeitslos. Schließlich beschäftigte ihn sein älterer Bruder in seinem Unternehmen.
Die Verhältnisse in Deutschland wurden für Martin und Kato immer aussichtsloser und unerträglicher. Sie siedelten daher im August 1938 von Berlin nach Uschhorod um in der Hoffnung, sich dort eine Existenz aufzubauen zu können. Insbesondere Katos Vater riet ihnen zu diesem Schritt, und im Haus der Eltern war auch eine Wohnung für das junge Paar frei. Martin beschrieb die Wohnumstände so: „Meine Frau und ich hatten eine kleinere Wohnung, die aus einem Schlafzimmer, einem Wohn-Esszimmer, Küche und Bad bestand. Diese Wohnung war einfach möbliert. Wir hatten jedoch dort unsere Hochzeitsgeschenke und die kostbare Ausstattung meiner Frau.“ „[Wir hatten] zwei Tafelservice, ein Kaffeeservice, Obstteller und Silberbesteck für 12 Personen. Ich erinnere mich, dass ein Tafelservice und das Kaffeeservice Rosenthal Porzellan war; das zweite Tafelservice war von Bavaria Porzellan. Wir hatten silberne Leuchter, Becher und Gewürzbüchsen, wie man sie in einem jüdischen Haushalt findet. Unter den Hochzeitsgeschenken war [auch] ein silberner Obstkorb […].“ Martin beschrieb die Ehe als glücklich, auch wenn sie in diesen unsicheren Zeiten das Thema Kinder zurückstellen mussten.
Eine Beschreibung von Uschhorod zu dieser Zeit: „Es war eine schöne Stadt, und sehr sauber. […] Dort lebten Tschechen, Ungarn, Deutsche, Juden, Ukrainer. Kurzum, eine internationale Mischung, und es spielte gar keine Rolle, welcher Nationalität man angehört hatte. Dort habe ich nicht zu spüren bekommen, dass irgendjemand einen anderen Menschen wegen seiner Nationalität gehasst oder nicht gemocht hätte.“ 1
Katos und Martins Traum von einer besseren Zukunft war nach nur drei Monaten zu Ende. Anfang November 1938 wurde Uschhorod durch den Ersten Wiener Schiedsspruch mitsamt dem südlichen Streifen der Karpatoukraine wieder Teil von Ungarn. Die ungarische Regierung hatte schon früh begonnen, sich der nationalsozialistischen Führung Deutschlands anzunähern, und faschistische Kreise genossen in der Bevölkerung eine breite Unterstützung. Nun galt in Uschhorod von einem Tag auf den anderen ein antijüdisches Diskriminierungsgesetz, das im Mai 1938 von der ungarischen Regierung verabschiedet worden war und das später noch zweimal verschärft wurde. Ab 1938 wurden mehr als 100.000 jüdische Männer zu Arbeitsbrigaden zwangsrekrutiert, in denen etwa 40.000 Juden ums Leben kamen.
Gemäß dem Gesetz hätte sofort die Enteignung der ungarischen Juden beginnen sollen. Weil aber die Mittelklasse in Ungarn fast ausschließlich von Juden gebildet wurde – in den 1930er Jahren waren mehr als 50 Prozent der niedergelassenen Ärzte, etwa die Hälfte aller Rechtsanwälte und mehr als ein Drittel der Gewerbetreibenden Juden – und sie damit für die Wirtschaft des Landes unentbehrlich waren, wurden sie zunächst verschont. Das Regime begann aber umgehend mit der Ausweisung von Flüchtlingen aus Deutschland; und Anfang 1939 stand auch Martin kurz vor der Ausweisung. „Als ich den deutschen Konsul […] um eine Verlängerung [der Aufenthaltsgenehmigung] ersuchte, wurde mir geraten, nicht mehr nach Deutschland zurückzugehen, da ich sonst in ein Konzentrationslager gebracht werden würde“.
Da Martin bereits Jahre zuvor einen Einreiseantrag in die USA bewilligt wurde, stellte er den Antrag erneut. Während der Wartezeit tauchten Kato und Martin bei Freunden in Budapest unter. Im April 1939 kam schließlich vom US-Konsulat in Budapest die Nachricht mit der Einreisegenehmigung, aber nur für Martin. „Gezwungenermaßen musste ich so […] meine Frau, die ich sehr liebte, zurücklassen“. Ihr Plan war, dass Martin sie schnellstmöglich nach Amerika nachkommen lassen würde.
In New York City angekommen machte sich Martin direkt mit Hochdruck daran, die Mittel für die finanzielle Bürgschaft für Kato zusammenzubekommen, die Voraussetzung für ihre Einreiseerlaubnis. Allerdings fand er erst nach Wochen eine schlecht bezahlte Arbeit. Er erinnerte sich später an diese Zeit: „Ich wohnte in einem schrecklichen Zimmer mit Ratten, für das ich $3.00 die Woche zahlte. Die Sehnsucht nach meiner Frau und meinen Eltern sowie die Sorge um sie waren unerträglich. Die Nächte waren furchtbar. Ich konnte entweder vor Sorgen nicht schlafen, oder wenn ich einschlief, hatte ich böse Träume.“
Martins erster Antrag auf das Visum für Kato wurde mit Hinweis auf sein geringes Einkommen abgelehnt. Martin setzte seine verzweifelten Bemühungen fort, fand schließlich einen Bürgen für Kato und bekam die Einreisegenehmigung. Aber während die Dokumente auf dem Weg nach Ungarn waren, war es bereits zu spät. Am 1. September 1939, keine vier Monate nach Martins Ankunft in New York, hatte mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen der Zweite Weltkrieg begonnen. Kato saß in Ungarn fest.
Kurz darauf, im Oktober 1939, starb Katos Vater. Die Todesursache ist nicht überliefert, aber er dürfte noch ziemlich jung gewesen sein, denn Kato war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 25 Jahre alt. Die Frage liegt nah, ob er sich vielleicht in den Tod flüchtete. Sicher dürfte sein, dass er sich schwere Vorwürfe machte, seiner Tochter nicht rechtzeitig zur Flucht in die Sicherheit geraten zu haben. Die Briefverbindung zwischen Kato und Martin riss kriegsbedingt irgendwann ab. Kato hielt zu ihren Schwiegereltern in Berlin so lange wie möglich Kontakt und schickte noch bis 1941 Essenspakete an sie.
Die ersten schwerwiegenden Angriffe auf Juden in Ungarn fanden im August 1941 statt und richteten sich gegen jüdische Flüchtlinge aus Galizien, hauptsächlich polnische und sowjetische Staatsbürger. Tausende von ihnen wurden in die neueroberten ehemalig sowjetischen Gebiete deportiert. Obwohl die antijüdischen Diskriminierungsgesetze im Alltag viele Schwierigkeiten verursachten, lebten die meisten ungarischen Juden während eines Großteils des Krieges in relativer Sicherheit. Ihre systematische Vernichtung begann nach der Eroberung durch Deutschland im März 1944. Die jüdische Bevölkerung wurde von der Außenwelt isoliert; von Mitte bis Ende April wurde sie in Ghettos gezwungen und anschließend deportiert.
Es ist nicht bekannt, unter welchen Umständen und von wo Kato und ihre Mutter Hedwig Vas (geb. Hedvika Deutsch-ová) deportiert wurden; jedenfalls müssen sie unter den allerersten ungarischen Juden gewesen sein, die verschleppt wurden. Unterwegs, in einem Außenlager des litauischen Ghettos Kowno (Kaunas), starb Hedwig; das Todesdatum und die Ursache sind nicht bekannt. Von dort aus wurde Kato in das Konzentrationslager Stutthof gebracht, in dem die Lebensbedingungen so ausgelegt waren, dass die Häftlinge qualvoll starben. Bei ihrer Ankunft am 8. April 1944 wurde ihre körperliche Verfassung als “gut” eingestuft. Nur acht Monate später, am 9. Dezember 1944, war sie tot. Sie wurde 31 Jahre alt.
Insgesamt wurden rund 565.000 ungarische Juden ermordet. Allein in Stutthof wurden mindestens 65.000 Menschen getötet. 2
Was Kato betrifft bleibt nur der Hoffnungsschimmer, dass sie sich Martins unerschütterlicher Liebe und Treue während dieser schrecklichsten aller Zeiten gewiss sein konnte.

Quellen: Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin

Recherche und Text: Kerstin Pohle

  • 1 Svatoluk Nedzelsky, Quelle: https://deutsch.radio.cz/karpato-ukraine-bewegte-geschichte-einer-tschechischen-familie-8599815 (heruntergeladen am 28.11.2019)
  • 2 Zum Abschluss eines der letzten NS-Prozesse am 23.07.2020 ging die Richterin Anne Meier-Göring im Urteil gegen den früheren im KZ Stutthof tätigen SS-Mann Bruno D. auf die Nachkriegsjustiz ein, die Naziverbrechen entweder gar nicht oder nur zögerlich verfolgte. Sie sprach vom “Versagen der deutschen Justiz, so dass sich Deutschland noch einmal gegenüber den Opfern schuldig gemacht hat”.

English version of the biography

Katerina Silberstein, nicknamed Kato, was born as Kateřina Vasová on October 15, 1913, in Ungvár, today’s Uzhhorod. This city lies in the far west of Ukraine, in the border triangle between Hungary, Slovakia and Ukraine. The residents have been exposed to many border shifts over the centuries. At Kato’s birth, the city was part of Hungary. After the First World War, the city and Karpatoukraine became part of the newly founded Czechoslovakia in 1919.
Kato was probably an only child. Her father, Dr. Ignac Vas, was a successful lawyer in Uzhgorod. The family home was in an apartment building in the city center owned by Kato’s parents; the following description states: “The apartment consisted of two bedrooms, a dining room, a men’s room, a living room, kitchen, bathroom and chamber and was very well furnished. There was leather club furniture in the men’s room and there were real carpets, silver, handicrafts and good porcelain.” This house also housed the father’s office, the practice of an ophthalmologist and rented apartments.
Kato’s parents were liberal Jews; it was certainly thanks to this fact and their prosperity that Kato was able to spend an extended period of time in Berlin as a young woman. Details of the object and purpose of this stay are unknown. In one document her profession was specified as office clerk, but after returning to her hometown she worked as a nurse at the local hospital.
During her time in Berlin, Kato and Martin got to know each other, possibly in the later destroyed synagogue according to the liberal rite “Temple of Peace” in Halensee, and fell in love. In 1936, aged 27 and 23, Martin and Kato married “after some difficulties with passports and permits”. The civil wedding took place in Uzhhorod in October; the Jewish wedding ceremony was performed in Berlin at the beginning of December in 1936, by the already widely known rabbi Dr. Max Nussbaum.
However, their life as a couple was ill-fated from the start. Martin had already lost his job in the upper management of a larger women’s clothing company in early 1933, which was forced to close down following the Nazi boycott of Jewish businesses. Since then, as a Jew, Martin could no longer find a regular job; he had the occasional odd job and was often unemployed. Finally, his older brother employed him at his company.
The situation in Germany became increasingly hopeless and unbearable for Martin and Kato. They therefore relocated from Berlin to Uzhhorod in August 1938 in the hope of a better future. Kato’s father strongly advised them to take this step, and an apartment was available for the young couple in the parent’s apartment building. Martin described their living conditions as follows: “My wife and I had a smaller apartment that consisted of a bedroom, a living-dining room, kitchen and bathroom. This apartment was simply furnished. However, we had our wedding gifts and my wife’s precious dowry there.“ „[We had] two sets of dinner services, a coffee service, fruit plates and silver cutlery for 12 people. I remember that a dinner service and the coffee service was Rosenthal porcelain; the second dinner service was Bavaria porcelain. We had silver candlesticks, cups, and spice jars as commonly found in a Jewish household. Among the wedding gifts was also a silver fruit basket […]“ Martin described the marriage as happy, even though they had to postpone having children in these uncertain times.
A description of Uzhgorod at the time: “It was a beautiful city and very clean. […] Czechs, Hungarians, Germans, Jews, Ukrainians lived there. In short, an international mix, and it didn’t matter what nationality you were from. I didn’t feel there that anyone hated or disliked another person because of their nationality.”
Kato’s and Martin’s dream of a better life came to an abrupt end after only three months. At the beginning of November 1938, Uzhhorod became part of Hungary once more. The Hungarian government had begun to sympathise with Germany’s Nazi regime early on, and fascist circles enjoyed broad support among the population. From one day to the next, anti-Jewish discrimination laws were in force, which had been passed by the Hungarian government in May 1938. Following this time, these new laws were updated twice, increasing in severity. Pursuant to these laws, as many as 40,000 Jewish men died within the framework of the forced labour, which they were subjected to from 1938.
According to the laws, the expropriation of the Hungarian Jews should have started immediately. But because the middle class in Hungary was almost exclusively made up of Jews – in the 1930s, more than 50 percent of the medical doctors, about half of all lawyers and more than a third of the traders were Jews – they were indispensable for the country’s economy and initially spared from persecution. However, the regime immediately began expelling refugees from Germany and at the beginning of 1939, Martin faced expulsion. “When I asked the German consul […] for an extension [of the residence permit], I was advised not to go back to Germany, otherwise I would be taken to a concentration camp.”
Since Martin had already obtained a visa under the existing immigration quota in the USA years earlier, he applied for the renewal of this visa. Kato and Martin spent this time waiting for the approval of their visas, with friends in Budapest, probably in hiding. In April 1939, there was finally a message from the US Consulate in Budapest that the visa was granted, but only for Martin. “Forcibly I had to […] leave my wife, whom I loved very much, behind.” Their plan was that Martin would go to American and have Kato follow, as soon as possible.
After his arrival in New York City, Martin immediately went straight to work to raise the funds for the financial guarantee, the prerequisite for a successful visa application. However, it took Martin weeks to find even a poorly paid job. He later recalled that time: “I lived in a horrible room with rats, for which I paid $ 3.00 a week. The longing for and concern for my wife and my parents was unbearable. The nights were terrible. I either couldn’t sleep because of worries or when I fell asleep I had bad dreams.”
Martin’s first visa application for Kato was denied due to his low income. Martin continued his desperate efforts, and finally found a guarantor for Kato and got the entry permit. But while the documents were on their way to Hungary, it was already too late. On September 1, 1939, less than four months after Martin’s arrival in New York, the Second World War had begun with the attack by the German Wehrmacht on Poland. Civil shipping and other transport quickly came to a standstill; Kato was trapped in Hungary.
Shortly afterwards, in October 1939, Kato’s father died. The cause of death was not disclosed in the few documents found in the archives; but in view of his likely young age – Kato was only 25 years old at the time – the thought comes to mind that perhaps he committed suicide. There is little doubt that he regretted deeply not to have pushed for Kato’s escape while there still was a chance. Kato and Martin continued to write letters to each other, but at some point during the war they were no longer delivered. Kato also kept in touch with her in-laws in Berlin for as long as possible and sent food packages to them until 1941.
Although the anti-Jewish laws caused many hardships, most of the Jews of Hungary were relatively safe for most of the war. The first anti-Jewish crackdowns in Hungary occurred in August 1941 and were aimed at Jewish refugees from Galicia, mostly Polish and Soviet citizens. In March 1944, German troops invaded Hungary, and a „Sonderkommando“ headed by Adolf Eichman began implementing the „Final Solution“ within Hungary. The Nazis isolated the Jewish population from the outside world by restricting their movement and confiscating their telephones and radios. From mid to late April the Jews of Hungary were forced into ghettos and then deported.
It is not clear why and from where Kato and her mother Hedwig Vas (née Hedvika Deutsch-ová) were deported at a very early stage. Hedwig soon died in a subcamp of the Lithuanian Kowno (Kaunas) ghetto; the date and cause of her death are unknown. From Kowno, Kato was transferred to Stutthof concentration camp. Upon her arrival on April 8, 1944, her physical condition was deemed “good”. Only eight months later, on December 9, 1944, Kato died. She was only 31 years old.
A total of approximately 565,000 Hungarian Jews were murdered.
As to Kato, all that remains is the glimmer of hope that within herself she felt Martin’s undying love during these most atrocious times.

Research and text: Kerstin Pohle