Stolpersteine Weimarische Straße 4

Hausansicht Weimarische Str. 4

Diese Stolpersteine wurden am 25.04.2018 verlegt.
Die Patin ist Sylvie Kervella – Perlberger

Stolperstein Joost Pinto

HIER WOHNTE
JOOST PINTO
JG. 1903
FLUCHT 1939 HOLLAND
INTERNIERT WESTERBORK
DEPORTIERT 27.4.1943
SOBIBOR
ERMORDET 30.4.1943

Stolperstein Hella Selma Pinto

HIER WOHNTE
HELLA SELMA PINTO
GEB. WEISSFELD
JG. 1897
FLUCHT 1939 HOLLAND
INTERNIERT WESTERBORK
DEPORTIERT 10.11.1942
AUSCHWITZ
ERMORDET 13.11.1942

Stephanie, Bernhard, Hella Weissfeld

Hella Selma Pinto wurde als Hella Selma Weissfeld am 17. Januar 1897 im niedersächsischen Lehe geboren. Ihr Vater Bernhard Weissfeld war Kaufmann, die Mutter hieß Minna, geborene Kühnreich. Hella hatte fünf Geschwister, den älteren Bruder Leopold Jacob (*1894) und Stephanie (*1898) aus Bernhards Ehe mit Minna Kühnreich, Norbert (*1914) aus seiner zweiten Ehe mit Elsa (Elsie) Josefovic, Siegbert (*1925) und Günther (*1927) aus der dritten Ehe mit Stephanie Pick.

Hellas Eltern lebten zunächst in Krakau und wählten 1894 – oder früher – den in der Nähe von Bremerhaven liegenden Ort Lehe als Ausgangsort für die Emigration nach Amerika. Dort wurden die beiden Kinder Leopold und Hella geboren. Die Vorbereitungen für die Ausreise waren schwieriger als erwartet, sodass die Familie nach Kroatien ging und sich in der Nähe von Zagreb in Jaska, dem heutigen Jastrebarsko, niederließ. Stephanie kam dort am 21. September 1898 auf die Welt. Anfang des 20. Jahrhunderts zogen sie nach Essen. Bernhard Weissfeld und sein Bruder Josef arbeiteten hier als Metallhändler. Hella besuchte zwischen 1912 und 1914 die Victoria Schule in Essen.

Später lebte sie vorübergehend in München, wo sie den katholischen angehenden Arzt Erwin Dannemann kennenlernte. Er war am 19. Februar 1896 im Bayrischen Saulgau geboren worden. Wie auch seine Geschwister Klara und Robert hatte er an der Münchner Ludwig Maximilian Universität Medizin studiert.

Hella und Erwin heirateten am 27. Januar 1920 in Berlin. Von 1923 bis 1926 ist Erwin Dannemann als Arzt unter der Adresse Achenbachstraße 2 verzeichnet, bis 1930 war die Adresse Meineckestraße 8, danach Potsdamer Straße 109 und ab 1938 Potsdamer Straße 93. Es ist jedoch nicht klar, ob die Adresse der Praxis gleichzeitig die Wohnadresse war.

Hella Selma Pinto, jung

Am 18. April 1927 kam der Sohn Werner auf die Welt, die Ehe wurde aber am 12. April 1933 wieder geschieden. Am 1. April 1933 war Erwin Dannemann aus der NSDAP ausgeschlossen worden, Grund für den Ausschluss war die Ehe mit einer Jüdin.

Hella wohnte mit Werner nachweislich ab 1936 in der Weimarischen Straße 4, der geschiedene Ehemann war weiterhin in der Potsdamer Straße wohnhaft und hatte dort auch seine Arztpraxis. Er war noch bis 1969 unter dieser Adresse als Arzt eingetragen. 1942 heiratete er ein zweites Mal.

Hella mit ihrem Sohn Werner

Werners Kindheit war überschattet durch die Trennung seiner Eltern und ständigen Schulwechsel. Er besuchte zunächst eine Volksschule in Wilmersdorf und danach die Treitschke – Oberschule. Immer wenn in der Schule der Nachweis über seine „arische“ Abstammung verlangt wurde, musste er die Schule wechseln. Er ging auf das Schweizer Internat „Mariahilf“, kam aber 1939 zurück, weil die nötigen finanziellen Mittel nicht mehr vorhanden waren. Bis 1940 besuchte er nochmals die Treitschke – Oberschule. Als der Nachweis seiner „arischen“ Abstammung zwingend eingefordert wurde, schickte ihn sein Vater auf ein Internat in Waldsieversdorf, wo er ohne seine Kenntnis in die Hitler – Jugend aufgenommen und zum Mitglied der NSDAP ernannt wurde.
Er zog 1943 zu Hella Weissfelds Schwester Stefanie Flake nach Essen und begann eine Lehre in einem Warenhaus. Stefanie Flake wurde im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert, somit verlor Werner wieder sein vorübergehendes Zuhause. Er ging nun nach Cottbus, um dort eine Textilfachschule zu besuchen. In Cottbus sollte er bei der Bahnhofsbewachung mit einer Hakenkreuzbinde am Arm Dienst tun. Er entzog sich und suchte Schutz bei seinem Vater.
Von Berlin aus flüchtete er kurz vor Kriegsende zusammen mit seinem Vater – in einem LKW versteckt – nach Bayern. Sein Onkel Robert Dannemann besaß ein größeres Anwesen am Starnberger See, wo sich Werner bis zur Befreiung durch die amerikanische Armee verborgen halten konnte.

1939 hatte Hella den sechs Jahre jüngeren niederländischen Journalisten Joost Pinto geheiratet. Sie erhielt unverzüglich, am 14. März 1939, die niederländische Staatsbürgerschaft. Die Ehe wurde nach Aussagen Erwin Dannemanns in der Entschädigungsakte in erster Linie geschlossen, um Hella die Ausreise in die Niederlande zu ermöglichen. Dem widerspricht der Inhalt des kurzen Briefes, den sie an ihren Bruder Leopold schrieb.

bq. Lieber Leopold, Brief erhalten, so ist das nun, kommt die Liebe, wird man hin und hergerissen, und aus ist’s mit der Ruhe. Bin neugierig, was aus der Sache noch wird, die Kleine weiss wohl selber nicht, was und wen sie will. Eben noch zu jung. Inzwischen wirst du wohl meinen Brief haben, und Dich beruhigt haben. Es ist schon das allerbeste gewesen und nun bin ich dabei meinen Umzug zu arrangieren und ich kann Dir sagen, ich bin mehr als glücklich bald in Holland sein zu können. Es geht mir alles viel zu langsam. Dabei die leere Wohnung ohne Werner, kaum zum aushalten. Da es nun fraglich ist, ob ich nochmal nach München komme, bin ich mehr als betrübt, Dich nicht noch einmal sehen und sprechen zu sollen. Ich denke so in 3 – 4 Wochen fort zu sein, es sei denn, dass ich doch nochmal Werner besuchen kann, was natürlich wieder von Erwins Gnaden abhängt. Jetzt bin ich neugierig auf Deinen Brief und hoffe, dass der bald ankommt.
Herzlichen Gruss und Kuss Hella

Erwin selbst soll ihr noch nach seinen eigenen Angaben 20 000 RM übergeben haben, um die Visagebühren bezahlen zu können. Vor ihrer Ausreise erteilte sie ihrem geschiedenen Ehemann noch Generalvollmacht für alle Rechtshandlungen und -geschäfte.

Sie verließ mit Joost Pinto und ihrem gesamten Hab und Gut 1939 die Wohnung in der Weimarischen Straße. In Werner Dannemanns Nachlass fand sich eine lange Liste mit allen Dingen, die Hella in die Niederlande mitnahm. Es waren Einrichtungsgegenstände für eine komplette 6 -Zimmerwohnung, sowie wertvolle Pelzmäntel, Abendgarderobe, Schmuck, Meissner Porzellan, Schallplatten und Plattenspieler und vieles mehr. Hella schien sich auf ein sicheres Leben mit Joost in Holland eingestellt zu haben.

Das Ehepaar lebte zunächst gemeinsam in Amsterdam und wurde auch von Werner dort besucht. Er hatte, wie er später erzählte, zu den Beiden ein besseres Verhältnis als zu seinem Vater. Die Ehe von Hella und Joost wurde dennoch 1942 geschieden und Hella nahm wieder ihren Mädchennamen Weissfeld an.

Todesanzeige Sophie Jessurun d'Oliveira

Über Joost Pinto ist weitaus weniger bekannt. Er wurde am 29. Januar 1903 in Amsterdam als Sohn von Isodore Louis und Sophie Pinto geboren. Er hatte noch eine Schwester mit Namen Annie. Über sein Leben in Berlin, seine journalistische Tätigkeit und die Umstände der Begegnung mit Hella Weissfeld existieren keinerlei überlieferte Informationen. Im niederländischen „Algemeen Handelsblad“ erschien am 1. März 1932 eine Anzeige, in der die Verlobung von Flora Ockersen und Joost Pinto bekannt gegeben wurde. Über eine spätere Eheschließung existieren allerdings keine Dokumente. Flora Ockersen wurde 1942 im Alter von 31 Jahren in Auschwitz ermordet.

Joost Pintos Familie mütterlicherseits kam aus einer uralten portugiesisch – spanischen Familie, deren Geschichte sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Es waren die Jessuruns. Joosts Mutter trug den klangvollen Mädchennamen Sophie Jessurun d’Oliveira. Die Nachkommen der Jessuruns siedelten sich in Hamburg und Amsterdam an.

Joosts Familie brachte interessante Persönlichkeiten hervor. Sein Großvater mütterlicherseits, Abraham de Jessurun d’Oliveira war Textschreiber und Librettist, seine erste Frau Sophia Jonkers Operettensängerin. Außerdem nahm er 1908 als Turner an den Olympischen Spielen teil.

Die Gestapo ergriff Hella und Joost in Amsterdam zu unterschiedlichen Zeitpunkten, zuerst wurde Hella am 7. November 1942 verhaftet und in Westerbork interniert, danach Joost am 20. April 1943.

Hella Pinto verbrachte nur drei Tage im Ghetto. Am 10. November 1942 wurde sie nach Auschwitz deportiert und am 13. November ermordet.

Joost Pinto blieb sieben Tage in Westerbork gefangen. Am 27. April 1943 wurde er in das Vernichtungslager Sobibór im südöstlichsten Polen deportiert und am 30. April 1943 ermordet. Insgesamt waren es 30000 Menschen, die zwischen Anfang März und Ende Juli mit 19 Transporten von Westerbork nach Sobibór verschleppt wurden.

Die drei Tage zwischen dem Beginn der Deportation und ihrer Ermordung werden Hella und Joost in den überfüllten Viehwaggons Richtung Polen verbracht haben. Sie wurden mit Sicherheit gleich nach ihrer Ankunft in den Lagern umgebracht.

Das „Polizeiliche Judendurchgangslager Westerbork“ war ein von den nationalsozialistischen Besatzern in den Niederlanden eingerichtetes zentrales Durchgangslager für die Deportation niederländischer und sich in den Niederlanden aufhaltender deutscher Juden in andere Konzentrations- und Vernichtungslager. Westerbork war der Ort, an dem von der SS fast alle Transporte zusammengestellt wurden.

Hellas Bruder Leopold Weissfeld überlebte in München die Verfolgung. Er war bis in die letzten Kriegstage als Elektroingenieur in einer wohl kriegswichtigen Branche tätig und schien von einflussreichen Personen geschützt worden zu sein.

Ihre Schwester Stephanie wurde im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte die Befreiung durch die russische Armee nur wenige Tage. An Typhus erkrankt, starb sie am 18. Mai 1945 in Theresienstadt.
Der Halbbruder Norbert wurde von Drancy/Frankreich aus deportiert und 1942 in Auschwitz ermordet.

Die Halbbrüder Siegbert und Günther emigrierten mit ihrer Mutter in die USA.
Die Familie Pinto verlor 1943 mehrere Mitglieder in den Gaskammern von Sobibór.

Recherche und Text: Karin Sievert

Quellen:
  • Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945…
  • Bundesarchiv Berlin
  • Entschädigungsamt Berlin
  • Erinnerungszentrum Kamp Westerbork
  • Berliner Adressbücher
  • Landesarchiv Berlin, Historische Standesamtseintragungen
  • Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941-1945“
  • Familienaufzeichnungen und Foto von Sylvie Kervella-Perlberger
  • www.jewishencyclopedia.com/articles/8615-jesurun