Stolpersteine Konstanzer Straße 5

Hausansicht Konstanzer Str. 5

Diese Stolpersteine wurden am 25.04.2018 verlegt.

Stolperstein Max Pergamenter

HIER WOHNTE
MAX PERGAMENTER
JG. 1871
DEPORTIERT 25.1.1942
RIGA
ERMORDET

Stolperstein Paula Hahn

HIER WOHNTE
PAULA HAHN
GEB. PERGAMENTER
JG. 1876
DEPORTIERT 25.1.1942
RIGA
ERMORDET

Stolperstein Ilse Hahn

HIER WOHNTE
ILSE HAHN
JG. 1910
DEPORTIERT 28.6.1943
ERMORDET
IN AUSCHWITZ

Im Jahre 1941 wohnten in unserem Haus Konstanzer Straße 5 drei jüdische Mieter in der Erdgeschosswohnung im Hof: Paula Hahn, ihr Bruder Max Pergamenter und Ilse Hahn, ihre Tochter. Es waren keine bekannten oder wohlhabenden Juden, sondern eher einfache Menschen. Paula Hahn war damals 65 Jahre alt, ihr Bruder 70 Jahre, die Tochter 31 Jahre. Im Dezember 1941 erreichte Paula Hahn und Max Pergamenter die Aufforderung, sich für die Deportation fertig zu machen. Vorher wurden sie allerdings noch in aller Form enteignet. Die Akte dazu für Paula Hahn ist vorhanden, und wir waren bei der Lektüre erschüttert, mit welch bürokratischer Akribie hier mitten im Krieg auch kleinen und kleinsten Beträgen von Seiten des Staates nachgegangen wurde. So wurde z. B. in einem Schriftwechsel umständlich noch 1944 ein Strom- und Gasguthaben in Höhe von RM 6,85 zurückgefordert. Ein vermutetes Steuerguthaben konnte nicht mehr eingetrieben werden, da lt. einem Aktenvermerk die Akten des Finanzamts am 22.11.1943 verbrannten.

Am 25. Januar 1942 wurden Paula Hahn und Max Pergamenter nach Riga deportiert. Die Transportliste hat sich erhalten. Wir wissen, dass es insgesamt acht Transporte aus Berlin nach Riga gegeben hat. Nur 3 bis 4 Prozent der Deportierten haben überlebt. Die Juden aus den Transporten Anfang 1942 wurden zunächst in Wohnungen des Gettos untergebracht. Ab Februar 1942 wurden die nicht Arbeitsfähigen systematisch selektiert und erschossen. Wir können annehmen, dass Paula Hahn und Max Pergamenter dazugehörten. Am Ort der Massengräber im Wald von Biķernieki befindet sich heute eine Gedenkstätte. Ab dem Sommer 1943 wurden die Leichen aus den Massengräbern wieder ausgegraben und verbrannt.

Ilse Hahn war als Arbeitskraft nützlich und durfte noch etwas länger leben. Sie arbeitete im Siemens Schuckert Kabelwerk. Aber im März 1943 sollte auch sie deportiert werden. Sie wurde vorher ebenfalls enteignet. Sorgfältig wurde darauf geachtet, dass der letzte Lohn als verfallener Vermögenswert nicht übersehen wird. Ilse Hahn bekam sogar noch eine Verfügung der Geheimen Staatspolizei zugestellt, schon in die Hamburger Straße, dass ihr gesamtes Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen worden sei. Am 28. Juni wurde sie nach Auschwitz deportiert. Mehr wissen wir nicht.

Ilse Hahn war wahrscheinlich bereits tot, aber das Enteignungsverfahren war noch nicht abgeschlossen: Die Hausverwaltung erhielt vom Oberfinanzpräsidenten die entgangene Miete, denn die Wohnungseinrichtung wurde erst am 4. August verbindlich geschätzt (569 RM), der Unternehmer Lemke übernahm die Einrichtungsgegenstände am 6. August 1943, zahlte auch pünktlich dafür, dann erst wurde die Wohnung an das Hauptplanungsamt Berlin als geräumt gemeldet zwecks Weitervermietung oder Beschlagnahme.

Was von den Dreien übrig geblieben ist, sind diese beiden Akten; die von Max Pergamenter fehlt. Es gibt keine Gräber, keine Nachfahren. Ein weiterer Sohn von Paula Hahn war schon im Oktober 1941 mit Frau und Kind nach Litzmannstadt (Lodz) deportiert worden. Auch vom ältesten Sohn Fritz gibt es keine Nachfahren, obwohl er als einziger den Krieg überlebt hat. Von ihm gibt es noch einige Spuren, und wir möchten deshalb kurz auch an ihn erinnern.

In dem Formular zur Vermögenserhebung Paula Hahn wird er erwähnt als im Ausland befindlich. Durch einen Laufzettel in der Enteignungsakte, aus dem hervorging, dass die Akte 1955 für ein Wiedergutmachungsverfahren benötigt wurde, gelangten wir zur entsprechenden Wiedergutmachungsakte von Fritz Hahn. Er war schon 1933 nach Belgien ausgewandert, nachdem er von einem Tag auf den anderen seine sämtlichen Engagements als Schauspieler und Conférencier verloren hatte. Er hat den Krieg in Belgien überlebt, aber wie! Seinen Beruf konnte er dort praktisch nicht ausüben. Nach der deutschen Besetzung Belgiens tauchte er in Brüssel unter und lebte in einem Kellerversteck. Alle Bewohner des Hauses wussten davon. Wegen eines Streits im Haus, bei dem eine der Bewohnerinnen gedroht hatte, ihn zu denunzieren, musste er einmal am helllichten Tag Hals über Kopf fliehen, nur mit einer Decke unter dem Arm und einem Paar Ersatzschuhen. Er wohnte einige Wochen in der Wohnung der Schwester der Hausbesitzerin, bevor er in sein ursprüngliches Versteck zurückkehren konnte. Unmittelbar nach der Befreiung Brüssels erlitt er einen Nervenzusammenbruch, sprang unter Verfolgungswahn in einen Kanal, musste gerettet werden und wurde jahrelang psychiatrisch behandelt. 1964 ist er in großer Armut gestorben.

Aus der Wiedergutmachungsakte erfuhren wir sehr viel mehr über das Leben der Familie Hahn als aus den Enteignungsakten. Um seine Ansprüche zu dokumentieren musste Fritz Hahn sein Leben, seine berufliche Stellung vor 1933 und seine Leiden in Belgien ausführlich schildern. Das Wiedergutmachungsverfahren zog sich von 1955 über neun Jahre bis zu seinem Tode hin. Fritz Hahn erhielt zwar Zahlungen und Abschläge, nachdem genau geprüft worden war, wie schwer seine psychische Erkrankung wirklich war, ob er wirklich nur eingeschränkt arbeitsfähig war, und ob er das Erbe von Paula Hahn alleine beanspruchen konnte. Bemerkenswert sind die Entschädigungssummen, die streng nach einer Tabelle ausgerechnet wurden: soundso viele Monate Tragen des Judensterns durch Paula Hahn, Todesdatum einheitlich auf den 8.5.45 festgelegt, macht 6450 Mark. Fritz Hahn stand auch kurz davor, Entschädigungen für die eingezogenen Vermögenswerte seiner Mutter zu bekommen. Die Akte ist voll von Mahnschreiben seines Anwalts, das Verfahren doch zu beschleunigen, Fritz Hahn sei völlig mittellos. Nach seinem Tod suchte sein Anwalt nach Erben, aber es fand sich niemand. Fritz Hahn hatte schon in seiner Akte alle seine Verwandten und deren Verbleib aufgezählt, immer mit der Schlussbemerkung: Seitdem nichts mehr gehört.

Am 3. März 1967, fast drei Jahre nach dem Tod von Fritz Hahn, schreibt sein deutscher Rechtsanwalt Dubrow einen letzten Brief, der mit dem Satz endet: „…Die noch schwebenden Entschädigungsansprüche des Verfolgten dürften damit gegenstandslos sein.“

Auch unsere Stolpersteine kommen spät, sehr spät. Für uns Ältere ist der Holocaust mehr als nur Geschichte. Wir alle sind persönlich Überlebenden begegnet und Menschen, deren Leben durch die Verfolgung bis in die nächsten Generationen stärksten Verwerfungen ausgesetzt war. Wir möchten diese persönlichen Erfahrungen weitergeben, und die Stolpersteine sollen auch an uns eine Aufforderung sein, immer wieder darüber zu sprechen.

Text und Zusammenstellung: Rosemarie Barthel, Heinrich Reitz
02.05.18