Stolpersteine Düsseldorfer Straße 72

Hausansicht Düsseldorfer Str. 72

Diese Stolpersteine wurden am 23.3.2017 auf Wunsch der Nachkommen, besonders der Enkeltochter von Arthur Heidemann, Maya Mosler-Cohen, in ihrer und ihres Mannes Volkhard Mosler Anwesenheit sowie von Daisy Dowleh und Denise Robbins aus New York, den beiden in New York lebenden Töchtern von Ursula Heidemann-Dowleh, sowie weiterer Familienmitglieder in Israel und Australien verlegt.

Lisbeth Heidemann mit Töchtern Ursel und Hilde

Bei den fünf Menschen, die in diesen beiden Häusern lebten, geht es um Angehörige der Familie von Georg Heidemann (1884-1936), einem von vier Brüdern von Arthur Heidemann (1891-1942). Von den fünf Brüdern ist einer, Hermann, 1916 im Ersten Weltkrieg gefallen, einer, Benno, hat in Holland den Krieg knapp überlebt, und zwei, Arthur und sein ein Jahr jüngerer Bruder Max, sind in Auschwitz ermordet worden. Georg, der Älteste, besaß ein Elektrogroßhandelsgeschäft in der Uhlandstraße 58 (Ecke Düsseldorfer Straße) in Wilmersdorf. Er und seine Frau Lisbeth, geb. Danziger, hatten zwei Töchter, Hilde (1911-1943) und Ursel (1916-2003).

Nach Georgs Tod 1936 führte dessen Ehefrau Lisbeth Heidemann zunächst das Geschäft weiter. Am Tag nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 wurde das Geschäft von Mitarbeitern geplündert und musste kurz darauf geschlossen werden.

Lisbeth Heidemann, Selma Danziger und Ursula Heidemann-Dowleh

Während eines Luftangriffs lernte die jüngere Tochter Ursula (Ursel) Heidemann, geboren am 07.01.1916 in Berlin, einen zufällig anwesenden jungen Mann kennen, der in den jüdischen Teil des Luftschutzkellers gegangen war. Die beiden verliebten sich und es stellte sich heraus, dass der junge Mann namens Abdul Dowleh der Sohn eines afghanischen Ex-Diplomaten und bekannten Politikers namens Shuja ud Dowleh war. Abdul (geboren 1916 in Kabul) lebte seit 1925 in Berlin, ist dort zur Schule gegangen und aufgewachsen. Mit Hilfe eines guten Anwalts konnten beide 1941 heiraten. Abdul und Ursel lebten nun gemeinsam mit Ursels Mutter Lisbeth und deren Mutter Selma Danziger (geboren 1867 in Posen) in der Düsseldorfer Straße 72.

Die Deportation der Berliner Juden begann zwar schon im Oktober 1941, aber die „Rüstungsjuden“, zu denen auch Lisbeth und Hilde gehörten, blieben zunächst „unbehelligt“. Als erste wurde am 24. Juli 1942 die Großmutter Selma Danziger geb. Wittkowski, geboren am 28. Februar 1867 in Bentschen im Bezirk Posen (Poznan) abgeholt und mit einem von den nationalsozialistischen Bürokraten so genannten „Alterstransport“ nach Theresienstadt gebracht. Sie packte ihren Koffer in der Annahme, es ginge in einen Sanatoriumsaufenthalt. Am 18. August 1942 kam sie in Theresienstadt um.

Hilde und ihre Mutter Lisbeth kamen eine Zeitlang in Luckenwalde außerhalb Berlins unter. Beide wurden Ende November 1942 verraten und am 7. Dezember 1942 von Berlin nach Auschwitz gebracht und dort sofort ermordet. Am 3. Dezember 1942 schrieben Hilde und Lisbeth aus dem Übergangslager in der Großen Hamburger Straße 26 in Berlin noch eine Postkarte an ihre jüngere Schwester Ursel, die zu diesem Zeitpunkt bereits ihr erstes Kind Robert geboren hatte. Sie machten sich Sorgen, ob die Zurückgebliebenen und ihr Kind den großen Bombenangriff vom 22./23. November 1943 heil überstanden hätten.

Nach dem Ende der großen Judenjagd im Sommer 1943 ging die Suche nach einzelnen noch im Untergrund Überlebenden und nach Juden in sogenannten Mischehen weiter. Abdul und Ursel beschlossen Anfang 1944 Berlin zu verlassen und in Königsbrück bei Dresden unterzutauchen. In der Meldekarte von Königsbrück ist Ursel als Muslimin eingetragen. Sie zogen mit einer Pferdekutsche von Ort zu Ort, Abdul wurde in der Nähe von Dresden festgenommen und ins Zuchthaus Bautzen gebracht. Währenddessen gebar Ursel ihr zweites Kind – ein Mädchen, dem sie den Namen Daisy Fatima gab – im Krankenhaus von Kamenz. Der zuständige Arzt hat sie nicht verraten. Abdul kam vermutlich auf Intervention des aghanischen ex-Botschafters in Berlin Ghulam Siddiq wieder frei. Gegen Kriegsende fuhren beide mit einer Pferdekutsche zurück nach Berlin. 1950 emigrierten sie mit ihren inzwischen drei Kindern mittellos nach New York.

bq. Mit Ausnahme des Schicksals meines Großvaters Arthur Heidemann und dessen damaliger Frau und Kind war bis vor wenigen Jahren nicht zu ahnen, wie die rassistische Mordmaschine der Nazis in unserer Familie gewütet hat. Meine Mutter Selma Heidemann und ihr Bruder Hermann (Zwi) haben nicht darüber gesprochen und ich habe als junge Frau nicht gefragt. Vor zwei Jahren haben wir mit Hilfe von Freunden erfahren, dass eine Cousine meiner Mutter den Holocaust überlebt hat und dass ich zweiten Grades in New York habe,

sagte Maya Mosler-Cohen zu der Stolpersteineverlegung.

Text: Maya Mosler-Cohen (Frankfurt a.M.)

Zu der Stolpersteinverlegung an der Düsseldorfer Straße 72 hielt Maya Mosler-Cohen (Frankfurt a.M.) diese Ansprache:

bq. Liebe Freunde
Wir stehen hier vor der Hausnummer 72, es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und in den 1950erJahren neu gebaut. Bei der Verlegung der Stolpersteine hier geht es um Angehörige der Familien Danziger, Heidemann und Dowleh. Von den drei Personen, derer hier gedacht werden soll, wurden zwei von den Nazis ermordet, nämlich Selma Danziger und ihre Tochter Lisbeth Heidemann, und eine hat überlebt, nämlich Ursel Heidemann, verheiratete Dowleh.
Zwei Töchter von Ursel leben in den USA. Ich hatte gehofft, dass die noch in Deutschland 1944 geborene Tochter Daisy heute zu Euch sprechen würde. Sie ist jedoch aus beruflichen Gründen verhindert. Ich spreche deshalb an ihrer Statt. Mein Großvater Arthur Heidemann war nämlich der Bruder von Daisys Großvater, Georg Heidemann.
Ich stütze meine Erzählung auf Aussagen von der überlebenden Ursel, die 1995 von der Shoah Foundation, ausführlich interviewt wurde.
Georg Heidemann besaß seit den frühen 1920er Jahren ein Elektrogroßhandelsgeschäft in der Uhlandstraße 58, Ecke Düsseldorfer Straße, hier an der Ecke, wo sich heute ein Fischsupermarkt befindet. Er und seine Frau Lisbeth, geb. Danziger, hatten zwei Töchter, Hilde (1911-1943) und Ursel (1916-2003).
Wir wissen, dass Georg mit seiner Familie Mitte der 1930er Jahre in die USA auswandern wollte. Doch erhielt die Familie kein Visum und keine Einreiseerlaubnis. Georg starb 1936 mit 50 plötzlich und unerwartet an einem Infarkt.
Nach seinem Tod führte seine Ehefrau Lisbeth zunächst das Geschäft weiter. Am Tag nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 wurde das Geschäft von Mitarbeitern geplündert. Lisbeth wurde durch ihre herbeigeeilte Tochter Ursel vor gewalttätigen Übergriffen der SA gerettet. Kurz darauf musste das Unternehmen geschlossen werden.
Nach Kriegsbeginn zog zunächst Lisbeths Mutter Selma Danziger in die geräumige Wohnung mit ein. Während eines Luftangriffs lernte die jüngere Tochter Ursel einen zufällig anwesenden jungen Mann kennen, der gerade seinen jüdischen Freund im Haus besuchte und mit diesem dann in den jüdischen Teil des Luftschutzkellers gegangen war. Die beiden verliebten sich und es stellte sich heraus, dass der junge Mann namens Abdul Dowleh der Sohn eines afghanischen Ex-Diplomaten und Politikers namens Shuja ud Dowleh war. Abdul (geboren 1916 in Kabul) lebte seit 1925 in Berlin und ist in Berlin zur
Schule gegangen und aufgewachsen. Mit Hilfe eines guten Anwalts konnten beide 1941 noch mit Sondergenehmigung heiraten. Ab Oktober 1941 lebten hier in der Nummer 72 unter einem Dach Schwiegersohn, Tochter, Mutter und Großmutter. Am 3. Januar 1942 gebar Ursel ihr erstes Kind Robert Mustafa. Im Interview sagt Ursel, dass es ein großes Glück war, dass ihre Mutter und Großmutter den Enkel bzw. Urenkel Robert vor ihrer Deportation noch kennen lernen durften.
Als erste wurde die Großmutter Selma geholt (am 24. Juli 1942) und mit einem so genannten Altentransport nach Theresienstadt gebracht. Sie packte ihren Koffer im Glauben, es ginge in einen Sanatoriumsaufenthalt. Als sie auf den Lastwagen aufsteigen sollte, bat sie Abdul um etwas Geld für die angebliche „Reise“. Am 18. August 1942 kam sie in Theresienstadt um.
Lisbeth Heidemann wurde zusammen mit ihrer Tochter Hilde Ende 1943 deportiert, ich berichte darüber noch bei der Verlegung der Stolpersteine für Hilde und Paul vor dem Grundstück Düsseldorfer Straße 74.
Nach dem Ende der großen Judenjagd im Sommer 1943 ging die Suche nach Einzelnen, im Untergrund Überlebenden und auf Juden in so genannten Mischehen weiter. Im Interview berichtete Ursel, dass zur gleichen Zeit, als ihre Schwester und Mutter gefasst wurden, die Gestapo in ihrer Wohnung erschien und sie auch mitnehmen wollte. Nur durch Abduls Dazukommen und sein bestimmtes Auftreten sei sie gerettet worden.
Daraufhin beschlossen Abdul und Ursel, Berlin zu verlassen und
unterzutauchen. Sie kamen in einem kleinen Zimmer in Königsbrück bei Dresden unter und hielten sich vermutlich mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser. Abdul wurde in der Nähe von Dresden aus noch unbekannten Gründen festgenommen und ins Zuchthaus Bautzen verbracht. Während seiner Haft gebar Ursel am 5. November ihr zweites Kind – ein Mädchen, dem sie den Namen Daisy-Fatima gab. Dem zuständigen Arzt offenbarte Ursel ihre jüdische Abstammung. Er brachte sie zur Geburt in einer Privatwohnung unter.
1949 kam noch ein drittes Kind, Barbara, in Berlin zur Welt. 1950
emigrierten Abdul und Ursel mit ihren inzwischen drei Kindern völlig mittellos nach New York. Dort bekamen sie 1953 noch ein Mädchen, Denise.
Mein Mann Volkhard Mosler wird in dem im Anschluss geplanten Treffen in der Gedenkstätte Stille Helden mehr über die Bedeutung der afghanischen Seite für die Rettung von Ursel und ihren beiden Kindern informieren.

Stolperstein Selma Danziger

HIER WOHNTE
SELMA DANZIGER
GEB. WITTKOWSKI
JG.1867
DEPORTIERT 24.7.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 18.8.1942

Stolperstein Lisbeth Heidemann

HIER WOHNTE
LISBETH HEIDEMANN
GEB. DANZIGER
JG. 1889
DEPORTIERT 7.12.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Stolperstein Ursula Heidemann

HIER WOHNTE
URSULA
HEIDEMANN
VERH. DOWLEH
JG. 1916
VERSTECKT GELEBT