Stolpersteine Nürnberger Straße 16

Hausansicht Nürnberger Str. 16

Diese am 23.04.2013 verlegten Stolpersteine für Feiga und Georg Reifen wurden gespendet von der Tochter Seldi Oliven (Porto Alegre/Brasilien) und der Enkeltochter Miriam Oliven (Berlin).

Die übrigen Stolpersteine wurden am 15.4.2014 verlegt.

Eigentümer des Hauses war der Zahnarzt B. Baer, vielleicht der Bruder des Bewohners Max Baer, der zeitweise, jedenfalls bis 1938, als Hausverwalter eingetragen war. Beide standen jedoch 1940 nicht mehr im Adressbuch, Eigentümer war inzwischen E. Blienert, Rentner. Das Haus ist also vermutlich um diese Zeit enteignet und arisiert worden. Bei Reifens, die eine geräumige Wohnung hatten, waren am Tag der Volkszählung, dem 17.5.1939, drei Untermieter gemeldet: das Ehepaar Moritz und Selma Rosenthal und Erich Hirsch.

Stolperstein Feiga Reifen, April 2013

Stolperstein Feiga Reifen, 2013

HIER WOHNTE
FEIGA REIFEN
GEB. KUPFERSTEIN
JG 1887
AUSGEWIESEN AUG.1939
POLEN
ERMORDET IN
MAJDANEK

Stolperstein Georg Reifen, April 2013

Stolperstein Georg Reifen, April 2013

HIER WOHNTE
GEORG REIFEN
JG. 1884
POLENAKTION 1938
GHETTO WARSCHAU
MAJDANEK
ERMORDET 3.5.1943

Feiga Reifen

Feiga Reifen

Feiga – genannt Fela – Reifen , ist am 2. Februar 1887 als Feiga Kupferstein in Warschau geboren. Die Familie hätte sich einen wohlhabenden Ehemann für sie gewünscht: einen Strumpffabrikanten, der ihr eine Schachtel mit zwölf verschiedenfarbigen Strümpfen schenkte. Ihre Eltern waren der Meinung, dass er „eine gute Partie“ gewesen wäre. Nachdem sie ihm abgesagt hatte, verlangte er die Kiste mit Strümpfen zurück. Sie nahm sich aber zwei Paar Strümpfe heraus und sagte, sie hätte sie schon benutzt. Und sie fragte ihre Eltern: “Den Mann sollte ich heiraten?” Stattdessen heiratete sie die Liebe ihres Lebens: Georg Israel Reifen, mit dem sie später zwei Kinder bekam.

Fela Reifen studierte Klavier im Stern’schen Konservatorium, einer privaten Musikschule, und spielte leidenschaftlich. Ihre Schwiegermutter schenkte ihr als Hochzeitsgeschenk ein Klavier. Sie folgte ihrem Mann, der 1938 nach Warschau verschleppt wurde, ein Jahr später und wurde in Treblinka ermordet. Ihre zwei Kinder konnten aus Deutschland flüchten und haben in Brasilien überlebt.

Georg Reifen

Georg Reifen

Georg Israel Reifen ist am 16. November 1884 in Swaryczow in Galizien geboren und kam als junger Mann nach Plauen. Dort hat er seine Frau Fela kennengelernt und sie zogen zusammen nach Berlin. Er arbeitete zunächst als Juwelier und machte später eine Erfindung: Feuerfeste Kacheln. Diese Erfindung ließ er patentieren, hatte aber wenig davon. Geschäftssinn ging ihm völlig ab. Da er als Jude kein Patent anmelden durfte, tat dies ein Bekannter für ihn. Der betrog ihn aber, indem er verabredungswidrig 90 Prozent des Erlöses kassierte und nur zehn Prozent weitergab.

Israel Reifen – Spitzname „Izzy“ – war ein gut aussehender, elegant gekleideter Mann. Er spielte hervorragend Schach und brachte es auch seinen Kindern bei. Er war ein heiterer, humorvoller und charmanter Mensch und hatte viel Lebensweisheit. Außerdem war er ein liebevoller Vater, der sich intensiv mit seinen Kindern beschäftigte.

Israel und Fela Reifen mochten das umtriebige Leben in der aufstrebenden Weltstadt Berlin, machten mit den Kindern Ausflüge zu den Seen, liefen im Winter Schlittschuh auf dem Eis, und das ganze Jahr über sahen sie sich die neuesten Filme an.

Die Tochter Seldi (1919-2013) konnte fließend Berlinerisch sprechen und sang text- und melodiesicher die aktuellen Schlager ebenso wie Arbeiterlieder. Sie heiratete Klaus Oliven (1918-2010). Dessen Vater Fritz Oliven (1874-1956) stammte aus einer seit Generationen in Deutschland lebenden jüdischen Familie. Er war ein bekannter Librettist und Revuedichter, der Operetten („Der Vetter aus Dingsda“) und Liedtexte schrieb. Sein Künstlername war „Rideamus“ („lasst uns lachen“). Von ihm stammen so populäre Evergreens wie „Solang noch unter‘n Linden“ mit dem zum Berlin-Slogan gewordenen Refrain „Berlin bleibt doch Berlin“, gesungen von Marlene Dietrich. Fritz Oliven, der von den Nazis verfolgt wurde und dessen Werke nicht mehr gespielt werden durften, flüchtete 1939 aus seinem geliebten Berlin und ging ins Exil nach Brasilien. An seinem einstigen Wohnhaus Giesebrechtstraße 11 ist eine Gedenktafel angebracht.

Israel Reifen wurde eines Tages im Oktober 1938 in Berlin von den Nazis abgeholt und nach Warschau gebracht. Seine Frau Fela folgte ihm im August 1939. Er wurde im Konzentrationslager Majdanek ermordet, sie in Treblinka. Die beiden Kinder, Tochter Seldi, geboren 1919, und ihr älterer Sohn Mischa, geboren 1920, konnten aus Deutschland nach Brasilien flüchten und überlebten den Holocaust.

Im Berliner Adressbuch war 1939 in der Nürnberger Straße 16 nur „Reifen, Kfm.“ eingetragen, nicht wie üblich der Anfangsbuchstabe des Vornamens. Bei Reifens waren am 17.5.1939, dem Tag der Volkszählung, drei Untermieter gemeldet: Erich Hirsch, geboren am 7. August 1897 in Hildesheim, deportiert am 17.11.1941 nach Kowno/Kaunas und dort am 25. November 1941 erschossen, sowie Moritz Rosenthal, geboren am 19. Januar 1877 in Posen/Poznan, und Selma Rosenthal, geb. Jarecki, geboren am 26. Juli 1883 ebenfalls in Posen/Poznan; das Ehepaar wurde am 19. Januar 1942 nach Riga deportiert – Moritz Rosenthal an seinem 65. Geburtstag – und dort erschossen.
Außerdem wohnten im Haus: der Zahnarzt Leopold Baer, der Eigentümer war und in der 2. Etage wohnte, sowie Max Baer, der Fabrikleiter war und bis 1938 auch Hausverwalter. Beide standen 1940 nicht mehr im Adressbuch, Eigentümer war inzwischen der Rentner E. Blienert, vermutlich war das Haus „arisiert“ worden. Das Schicksal von Leopold Baer ist nicht bekannt. Max Baer kam ins KZ Sachsenhausen, wo er am 25. April 1942 ums Leben gebracht wurde.

Text: Seldi Oliven (gestorben am 15. Juli 2013), ergänzt von Helmut Lölhöffel

Zur Verlegung der beiden Stolpersteine verlas Joel Bassaget, der Mann Miriam Olivens, diesen von ihr verfassten Text:

bq. Let me start by thanking the Stolpersteine Charlottenburg Wilmersdorf Projekt for their effort to maintain alive the memories of Berliners who fell victim to the horrors of the Nazi regime. Among them are my grandparents, whose names are engraved on these two stones. There is not much you can do about it apart from preventing that their stories fade away as if nothing ever happened. This is why the Stolpersteine Initiative is so important.
For my mother who now lives in Brazil it is a way of keeping alive the memories of her murdered parents. And for me and my siblings Judith, Ruben, Miguel and Gabriel, who never had the chance to meet our grandparents and who missed them, the Stolpersteine Iniative served as an opportunity to meet them somehow. So please let me tell you now a few things we learned about them.
Georg Israel Reifen was known to everybody as Izzy. He was a charming man, full of humour and love of life. He had no talent for business whatsoever and was always struggling to make ends meet. But he had other skills and thanks to them he became the inventor of the first fireproof bathroom and kitchen tiles. As he was a Jew, he could not register the discovery himself and in the end only received 10 per cent of the earnings of his invention. But according to my mother nothing could affect his notorious sense of humour. He was as much appreciated for his huge repertoire of jokes as for his natural wisdom.
Good looking and elegant, he married the love of his life, my grandmother Fela, against his parents’ and her parents’ will. But once they had set eyes on each other there was no stopping them. And so they got married in Poland, where they were born and moved together to Germany. Fela was a talented pianist and received a piano as a wedding present from her mother in law. Upon her arrival in Berlin she enrolled in the conservatory in order to improve her skills. Both of them loved Berlin and its cosmopolitan spirit. At the time they moved here the city belonged to the European avant-garde. It was full of life, modernity and irreverence. They shared their passion for the city with their two children, my mother Seldi and my uncle Mischa. They would take them to the Berliner lakes in summer, to the ice skating ring in winter and to the cinema all year round. They themselves would never miss an opportunity to enjoy the various possibilities of entertainment the city had to offer.
This love of the city was conveyed to their children who were real Berliners. My mother can speak Berlinerisch with great fluency and can sing all the songs that were in vogue at the time, including the ones sung by the working class. She sings them to us even now as we cannot get enough of them. She has also inherited this gift of telling jokes from her father to the amusement of us all.
My mother Seldi nee Reifen married my father Klaus Oliven, whose Jewish family had lived in Germany for generations. My paternal grandfather Fritz Oliven was a famous librettist known as Rideamus. As some of you might know, he wrote innumerous operettas and songs that are now part of the city’s cultural heritage. He wrote among others “Solang noch unter’n Linden”, which at the time became the city’s anthem. One of the refrains of this Linden march was “Berlin bleibt doch Berlin”.
And it is this that is worth remembering, that this is a city that has reinvented itself so many times thanks to talented people among its population. People with diverse origins and from all walks of life who felt connected to this city and who cannot go down in history unknown. It is important for a city to know its past, to be in tune with its present and to fight for its future. So I hope these Stolpersteine besides serving as a reminder of what should never have been and can never happen again could also express what Berlin is all about.
I would like to sincerely thank each and every one of you!

Literaturhinweise: Fritz Oliven: Ein heiteres Leben. Autobiografie. Füllhorn Verlag 1951, Goldmann Verlag München 1957 Ute-Christiane Hauenschild: Rideamus. Die Lebensgeschichte des Fritz Oliven. Hentrich & Hentrich, Berlin 2009

Stolperstein Max Baer, 2014

Stolperstein Max Baer, 2014

HIER WOHNTE
MAX BAER
JG. 1874
VERHAFTET 25.4.1942
SACHSENHAUSEN
ERMORDET 25.4.1942

Max Baer wurde am 26. August 1874 in Berlin geboren, er war im Adressbuch als Fabrikleiter eingetragen und bis 1938 auch als Hausverwalter. Wahrscheinlich war er der Bruder des Hauseigentümers, des Zahnarztes B. Baer. 1939 wurde Max Baer, der verheiratet war – von seiner Frau fehlt jede Spur – verhaftet und ins KZ Sachsenhausen eingeliefert, wo er am 24. April 1942 ums Leben gebracht wurde. Als letzte Wohnung, sicherlich nicht frei gewählt, hatte die Meldebehörde Kottbuser Straße 67 bei Oser eingetragen. Es dürfte sich um Emma Oser, geb. Zion, geboren am 25. Februar 1873 in Köln, handeln, die sich am 1. September 1942 das Leben nahm.

Stolperstein Erich Hirsch, 2014

Stolperstein Erich Hirsch, 2014

HIER WOHNTE
ERICH HIRSCH
JG. 1897
DEPORTIERT 17.11.1941
KOWNO FORT IX
ERMORDET 25.11.1941

Erich Hirsch wurde am 7. August 1897 in Hildesheim geboren. Kurze Zeit vor seiner Deportation musste er noch einmal umziehen, in die Pariser Straße 11. Am 17. November 1941 ist er nachts aus der Sammelstelle in der Synagoge Levetzowaße mitten durch das Zentrum des Berliner Westens von Tiergarten nach Grunewald geführt worden. 1006 Menschen wurden in diesen Sondertransport gesteckt und nach Kowno (Kaunas) in Litauen gefahren. Dort sind sie alle im berüchtigten Fort IX erschossen worden, vermutlich am 25.11.1941, als 2 934 Juden, darunter 175 Kinder. Niemand überlebte die Massenhinrichtungen.

Stolperstein Moritz Rosenthal, 2014

Stolperstein Moritz Rosenthal, 2014

HIER WOHNTE
MORITZ ROSENTHAL
JG. 1877
DEPORTIERT 19.1.1942
RIGA
ERMORDET

Moritz Rosenthal wurde am 19. Januar 1877 in Posen (Poznan) geboren, seine Frau Selma Rosenthal, geb. Jarecki, am 26. Juli 1883 ebenfalls in Posen. Seit 1930 war Moritz Rosenthal in der Invalidenstraße 141 gemeldet, nebenan in der 140 hatte er eine Schuhwarenhandlung. Bis 31.3.1939 wohnte er dort, vermutlich war sein Geschäft geschlossen worden. Danach zogen sie als Untermieter zur Familie Reifen in die Nürnberger Straße 16, wurden aber nach knapp drei Jahren wieder hinausgetrieben.

Sie mussten sich in der als Sammellager missbrauchten Synagoge an der Levetzowstraße zum Abtransport nach Osten registrieren lassen. Am 65. Geburtstag Moritz Rosenthals, dem 19. Januar 1942, sind beide nach Riga deportiert wurden. Viele der 1002 am Bahnhof Grunewald in gedeckte Güterwagen gepferchten Menschen, darunter zahlreiche alte und kranke, kamen nach vier Tagen und Nächten auf dem Bahnhof Riga-Skirotava wegen der damals herrschenden Kältewelle schon erfroren an. Fast alle anderen wurden erschossen, nur 19 Überlebende sind bekannt.

Texte: Helmut Lölhöffel
Quellen: Bundesarchiv; Berliner Adressbücher; Gottwald/Schulle: Die Judendeportationen. Wiesbaden 2005

Stolperstein Selma Rosenthal, 2014

Stolperstein Selma Rosenthal, 2014

HIER WOHNTE
SELMA ROSENTHAL
GEB. JARECKI
JG. 1883
DEPORTIERT 19.1.1942
RIGA
ERMORDET