Stolpersteine Nassauische Str. 60

Hauseingang Nassauische Str. 60

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Diese Stolpersteine wurden am 22.05.2012 verlegt.

Stolperstein Siegfried Mottek

Stolperstein Siegfried Mottek

HIER WOHNTE
SIEGFRIED MOTTEK
JG 1876
GEDEMÜTIGT/ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
2.1.1942

Siegfried Schlome Mottek wurde am 26. April 1876 in Samter (Szamotuły) geboren, einer Kreisstadt am Fluss Sama, 34 Kilometer nordwestlich von Posen (Poznań). Sein Vater, der Viehhändler Lazarus Mottek (*1850), und seine Mutter Adelheid Emilie Mottek, geborene Asch (geboren am 15. Oktober 1950 in Posen), hatten vor Siegfried schon den Sohn Heinrich (*1875) bekommen. 1877 wurde Max, 1879 Ignatz, 1881 Hugo und am 20. März 1886 endlich die erste Tochter Paula und 1887 dann die zweite Tochter Regina geboren.
Über Siegfrieds Kindheit und Jugend konnte nichts recherchiert werden. Sein ältester Bruder Heinrich starb schon mit 20 Jahren am 3. Februar 1896. Vier Jahre später starb auch sein damals 50-jähriger Vater. Siegfried war zu dem Zeitpunkt 24 Jahre alt und Kaufmann von Beruf.
In Posen lernte er seine spätere Ehefrau Agnes Natalie Sonnabend (geboren am 22. April 1888 in Berlin) kennen. Sie war die Tochter von Carl Julius Sonnabend, der im Juni 1905 verstarb. Trotz des Trauerfalls verlobten sich Siegfried und Agnes im Oktober und heirateten im Dezember 1905 in Posen.
Am 5. Dezember 1906 wurde ihre einzige Tochter Edith in Posen geboren.
Als der Erste Weltkrieg begann, wurde Siegfried im August 1914 zum Militärdienst einberufen, aber schon drei Monate später, im Oktober 1914, wieder entlassen.
Ein Jahr nach seiner Entlassung, am 14. Mai 1915, starb seine Mutter Adelheid Emilie Mottek, geborene Asch, mit 64 Jahren in Posen.

1920 ereilte Siegfried und Agnes das schlimmste Schicksal, welches Eltern passieren kann. Ihre einzige Tochter, ihr „Sonnenschein“, die 13-jährige Edith, starb nach kurzem, schwerem Leiden am 14. Juli 1920 in Posen.
Aufgrund dieses Schicksalsschlages und wohl auch in Folge der Angliederung Posens an Polen nach dem Versailler Vertrag 1920, entschieden sich Siegfried und Agnes, nach Berlin zu gehen.
Agnes jüngerer Bruder, Martin Sonnabend, zog mit seiner Ehefrau Elfriede und der einjährigen Tochter Charlotte ebenfalls nach Berlin. Martin war als Architekt zusammen mit seinem Onkel Theodor Jaretzki (*1874) an der Errichtung eines neuen Geschäftshauses in der Lothringer Straße 20 beteiligt. Ihr Büro befand sich am Kurfürstendamm 216 in Berlin-Charlottenburg.

Das Berliner Adressbuch führte den Kaufmann Siegfried Mottek zum ersten Mal 1924 in der Nassauischen Straße 60 im ersten Stock Vorderhaus. Ganz in der Nähe, in der Kaiserallee 28 in Berlin-Wilmersdorf, lebte der Schwager Martin mit Familie, darunter auch seine und Agnes’ Mutter Regina Sonnabend, geborene Jaretzki (*1861).
Auch Siegfrieds jüngster Bruder Hugo zog mit seiner Ehefrau Paula, geborene Rosenberg (*1894), und ihrem Sohn Heinz-Georg (*1920) Anfang der 20er-Jahre nach Berlin-Steglitz, Am Fichtenberg 24. Der Kaufmann Hugo Mottek starb am 26. September 1931 mit 50 Jahren.

Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 sahen sich die Familien Mottek und Sonnabend wie alle Jüdinnen und Juden antisemitischen Einschüchterungs- und Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt.
Am 8. November 1936 starb Regina Sonnabend, geborene Jaretzki, mit 76 Jahren. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt. Ihrem Sohn Martin und seiner Familie gelang am 16. März 1938 die Auswanderung nach New York, USA.
Sein Bruder Max und dessen Ehefrau Sidonie, geborene Kohn, waren bei der Minderheiten-Volkszählung am 17. Mai 1939 noch in Breslau gemeldet. Es konnte nicht recherchiert werden, was aus ihnen wurde. Ihre Tochter Alice (*1912) war am 21. Februar 1938 nach Palästina ausgewandert.

Vollkommen unerwartet starb am 21. September 1938 Siegfrieds Ehefrau Agnes in der Wohnung in der Nassauischen Straße 60 an einem Schlaganfall. Siegfried wurde mit 62 Jahren Witwer und blieb ziemlich allein zurück.
Seine Schwester, Paula Loebel, geborene Mottek, wohnte in Breslau. Sie wanderte Ende der 30er-Jahre mit ihrem Ehemann Ludwig Loebel, ihrer Tochter Ilse und dem Schwiegersohn nach Shanghai aus.
Seine Schwägerin, Hugos Ehefrau Paula, und ihr 19-jähriger Sohn, Heinz-Georg, emigrierten am 1. November 1939 nach Sydney, Australien.
Seinem Bruder Ignatz gelang die Flucht nach London, England. Von dort aus emigrierte er 1944 nach New York, USA.
Seine jüngste Schwester, Regina Meyer, geborene Mottek, die mit ihrer Familie auch in Breslau lebte, wurde am 25. November 1941 nach Kaunas (Kowno, Litauen) deportiert und am 29. November 1941 im Fort IX der Festungsanlage Kowno zusammen mit ihrer 31-jährigen Tochter Felicitas Meyer (*1911) und fast 2000 weiteren Personen – 1.153 Frauen, 693 Männern und 152 Kindern – erschossen. Regina Meyer, geborene Mottek, starb im Alter von 54 Jahren.

Es ist anzunehmen, dass auch Siegfried Ende Dezember 1941 einen Deportationsbefehl erhielt. Am 2. Januar 1942 wurde er um 16.45 Uhr von der Polizei tot in seiner Wohnung in der Nassauischen Straße 60 aufgefunden. Als Todesursache wurde auf der Sterbeurkunde Selbstmord durch Erhängen angegeben. Siegfried Mottek starb gedemütigt und entrechtet mit 65 Jahren. Er sah keinen anderen Ausweg als die Flucht in den Tod.

Text und Recherche: Gundula Meiering, November 2024

Quellen:
Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945 – Bundesarchiv; Mapping the Lives; Berliner Adressbuch; Amtliche Fernsprechbücher Berlin; Arolsen Archives – Karteikarten; Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen / über ancestry; My Heritage

Stolperstein Willi A. Rothschild

Stolperstein Willi A. Rothschild

HIER WOHNTE
WILLI A. ROTHSCHILD
JG 1875
DEPORTIERT 25.1.1942
ERMORDET IN
RIGA

Willi Aron wurde am 21. Mai 1875 in Menden, Kreis Iserlohn, im Norden des Sauerlandes in die alteingesessene Bankiersfamilie Rothschild geboren.
Sein Vater, der Bankier und Stadtabgeordnete Nathan Rothschild (geboren am 23. Januar 1829), und seine Mutter Cäcilie Rothschild, geborene Rothschild (geboren am 20. November 1848), hatten vor Willi schon drei Söhne bekommen, Carl (*1868), Paul (*1869) und Arthur (*1873). Seine Schwester Thekla kam 1877 zur Welt, wurde aber nur zwei Monate alt. 1878 wurde seine Schwester Irma, 1881 sein Bruder Georg und 1883 sein Bruder Hugo in Menden geboren. Danach zog die Familie nach Düsseldorf, wo 1884 der jüngste Bruder Victor zur Welt kam.
Seine Kindheit verbrachte Willi demnach in Menden und seine Jugendzeit in Düsseldorf. Schon Anfang der 1890er Jahre waren seine älteren Brüder Paul und Arthur nach Berlin gegangen und hatten das Bankhaus A. & P. Bankgeschäfte in der Mittelstraße 23 in Berlin-Mitte gegründet.
Ende der 1890er-Jahre, als Willis Vater in Rente ging, zog die gesamte Familie nach Berlin. Willi war damals etwa 24 Jahre alt und Kaufmann von Beruf. Die Familie wohnte in einer Parterrewohnung in der Augsburger Straße 73/74 in Berlin-Charlottenburg.

Sein älterer Bruder Paul heiratete 1898 Martha Lewisson (*14.7.1873 in Berlin). Sie bekamen einen Sohn Walter Otto (*1900) und zwei Töchter, Alice (*1899) und Gerda (*1902), und wohnten in der Grolmannstraße 52 und später in der Pariser Straße 37 in Berlin-Charlottenburg.
Willis jüngere Schwester Irma heiratete am 26. April 1901 mit 22 Jahren den 35-jährigen Fabrikbesitzer Richard Treumann Saalfeld (geboren 1. März 1866 in Stettin). Die beiden wurden Eltern von zwei Töchtern, Edith Hertha (*1902) und Margot Fanny (*1905). Sie wohnten anfangs in der Kurfürstenstraße 128 in Berlin-Charlottenburg und ab 1905 in der Neuen Ansbacher Straße 12 in Berlin-Schöneberg.

Am 10. April 1903 starb Willis Vater Nathan Rothschild mit 74 Jahren. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt.
Sein älterer Bruder Paul starb mit 45 Jahren am 24. Januar 1915. Sein Bruder und langjähriger Bankgeschäftspartner Arthur meldete seinen Tod beim Standesamt.
Arthur nahm am Ersten Weltkrieg teil, wurde Unteroffizier und mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Er starb am 22. April 1917 mit 44 Jahren im Lazarett zu Altena an einer Lungenentzündung, die er sich an der Front zugezogen hatte.
Ein Jahr später, am 21. April 1918, starb auch der älteste Bruder Carl mit 49 Jahren. Dadurch wurde Willi zum Familienoberhaupt der Rothschilds. Als seine Nichte Alice, älteste Tochter seines Bruders Paul, am 29. November 1919 heiratete, war Willi ihr Trauzeuge.
Zu der Zeit wohnte er zusammen mit seiner Mutter in der Duisburger Straße 2 in Berlin-Wilmersdorf.
Sein jüngerer Bruder, der Bankier Hugo Rothschild, heiratete einen Monat nach Alice am 23. Dezember 1919 Hertha Lichtenfeld (geboren 2. März 1890 in Danzig). Auch sie bekamen zwei Töchter, Eva (*1923) und Cecile (*1925) und lebten in der Mommsenstraße 60.
Willis Mutter Cäcilie Rothschild starb am 8. November 1924 kurz vor ihrem 78. Geburtstag. Sie wurde ebenfalls auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt.
Auch bei seinem jüngsten Bruder Victor war Willi Trauzeuge, als dieser Frida Carolina Oliven (geboren am 21. August 1889 in Frankfurt an der Oder) am 18. August 1925 heiratete.

Willi Rothschild (mitte) - Nassauische Str 60

Willi Rothschild (mitte)

Bis ca. 1934 wohnte Willi als Privatier weiterhin im 2. Stock der Duisburger Straße 2. Am 21. Februar 1935 starb sein Bruder Georg mit 53 Jahren. Willi zog vermutlich in dieser Zeit in eine kleinere Wohnung in die Meierottostraße 5. Bei der „Minderheiten-Volkszählung” am 17. Mai 1939 war er, zusammen mit anderen nicht-jüdischen Untermietern, in der Nassauischen Straße 60 im III. Stock gemeldet. In diesem Haus wohnten noch zwei weitere jüdische Mieter im 1. Stock – der langjährige Mieter Siegfried Mottek und in einer anderen Wohnung Elise Schwarz, geborene Daus. Der damalige Eigentümer des Hauses war der Zigarrengeschäftsinhaber P. Jung aus der Güntzelstraße 22.

Durch die verpflichtende Zahlung der Reichsfluchtsteuer und der Judenvermögensabgabe nach der Pogromnacht im November 1938 war Willi A. Rothschild weitgehend verarmt. Sein Bruder Victor war schon Anfang 1938 mit seiner Ehefrau über Havanna nach San Pedro in Kalifornien, USA, ausgereist. Sein Neffe Walter, der Sohn seines Bruders Paul, emigrierte am 19. April 1939 über Antwerpen, Belgien, nach New York.

Die jüngste Tochter seiner Schwester Irma, Margot Fanny Wolff, geborene Saalfeld, starb am 18. Oktober 1938 mit 33 Jahren an einer Blutvergiftung der Halsdrüsen nach einer Angina. Der älteren Tochter, Edith Hertha Weil, und deren 9-jähriger Tochter Gabriele Ruth Weil, gelang kurz nach der „Minderheiten-Volkszählung” am 24. Juni 1939 die Flucht nach England. Irma und ihr Ehemann Richard Treumann Saalfeld blieben alleine in der Motzstraße 90 in Berlin-Schöneberg zurück. Hier starb Richard Treumann Saalfeld am 17. Februar 1940 an einem Herzinfarkt.

Wahrscheinlich Anfang der 1940er Jahre floh der Bruder Hugo mit seiner Familie ins „freie Frankreich“, den südlichen Teil des Landes. Hugo wurde dort gefangen genommen und im Lager Drancy interniert. Am 27. März 1944 wurde er in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet. Seine Ehefrau Hertha (*1890) und seine Töchter Eva (*1923) und Cecilie (*1925) überlebten den Holocaust. Sie hatten sich in einem abgelegenen Dorf in Belgien versteckt.

Seine Nichte Alice Busch flüchtete am 12. August 1941 in die USA. Ihrer damals 68-jährigen Mutter Martha gelang noch am 2. September 1941 die Flucht über Lissabon, Portugal in die USA. Ihr Schwager Victor hatte für beide Geld für eine Bürgschaft im Jewish Transmigration Bureau eingezahlt. Allein die zweite Tochter, Gerda Weygold, geborene Rothschild, überlebte in Berlin den Holocaust. Ihre 1928 geschlossene Ehe mit einem evangelischen Ehemann schützte sie vor der Deportation und rettete ihr das Leben.

Es ist anzunehmen, dass Willis Schwester, die Witwe Irma Saalfeld, Anfang der 1940er-Jahre in eine Zwangswohnung in der Mommsenstraße 52 umziehen musste und ein weiterer Umzug in die Sybelstraße 18 anstand. Am 8. Januar 1942 wurde sie von der Polizei tot in ihrer Wohnung in der Mommsenstraße 52 aufgefunden. Auf dem Totenschein wurde als Todesursache eine Herzmuskelverschwielung angegeben. Diese Todesursache wurde häufig genutzt, um einen Selbstmord zu vertuschen.
Ab September 1941 wurde Willi, wie alle Juden und Jüdinnen im Deutschen Reich, gezwungen, den gelben Stern zu tragen. Auch wurde er zur Zwangsarbeit eingesetzt. Bei der späteren Deportation gab er als Beruf Arbeiter an.
Willis letzter Wohnsitz in Berlin war die Sybelstraße 18. Hier bekam er Mitte Januar den Deportationsbefehl. Zusammen mit weiteren 1.000 Berliner Juden und Jüdinnen wurde er am 25. Januar 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet.

Willi Aaron Rothschild starb mit 67 Jahren.

Das Foto von Willi Rothschild stammt aus dem Familienfotoalbum von Hugo Rothschilds Tochter, Eva-Hava Abramov, und zeigt Willi Aaron Rothschild auf einem Familienausflug 1927.

Text und Recherche: Gundula Meiering, November 2024

Quellen:
Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945 – Bundesarchiv; Mapping the Lives; Berliner Adressbuch; Amtliche Fernsprechbücher Berlin; Arolsen Archives – Karteikarten; Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen / über ancestry; My Heritage; Website von Wolfgang Kißmer, Menden; Foto: Archiv des Hauses der Ghettokämpfer, Katalog-Nr. 424 aus dem Nachlass von Eva-Hava Abramov, Familienfotoalbum, Spender Aviram Bruria, 4.3.2022