Stolperstein Uhlandstraße 175

Hausansicht Uhlandstr. 175, 05.04.11

Hausansicht Uhlandstr. 175, 05.04.11

Am 30.7.2005 wurde dieser Stolperstein zum Gedenken an Dr. Kurt Sternberg auf Wunsch seiner Nachkommen verlegt.

Stolperstein für Dr. Kurt Sternberg, 05.04.11

Stolperstein für Dr. Kurt Sternberg, 05.04.11

HIER WOHNTE
DR. KURT STERNBERG
JG. 1885
FLUCHT 1939 HOLLAND
LAGER WESTERBORK
DEPORTIERT
ERMORDET 1942 IN
AUSCHWITZ

Kurt Sternberg, 1930

Der prächtige Stuckaltbau an der Uhlandstraße 175 ist heute ein Büro- und Geschäftshaus. Aus der von hohen Säulen eingerahmten Tür dieses 1898/99 erbauten Berliner Bürgerhauses holte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) am 10. November 1938, dem Tag nach der von den Nazis so genannten „Reichskristallnacht“, Dr. Kurt Sternberg aus seiner Wohnung und transportierte ihn in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Damit begann die letzte Phase seiner Verfolgung, die im September 1942 mit der Vergasung im Vernichtungslager Auschwitz endete.

Kurt Sternberg stammte aus einer jüdischen Familie. Sein Vater war der Handelsgerichtsrat Emil Sternberg, der schon etliche Jahre im Erdgeschoss der Uhlandstraße 175 wohnte, wo sich heute eine Trattoria befindet. Am 19. Juni 1885 wurde Kurt Sternberg in Berlin geboren. Nach dem Studium der Philosophie war er im Ersten Weltkrieg Soldat und überzeugt, für sein deutsches Vaterland eine Pflicht zu erfüllen. Nach seiner Hochzeit kam am 8. Oktober 1920 in Berlin der Sohn Klaus zur Welt.

Seine philosophischen Studien füllten Kurt Sternberg vollkommen aus, aber die Einkünfte aus Veröffentlichungen und Vorträgen reichten, obwohl auch seine Frau Rosemarie arbeiten ging, für den Lebensunterhalt der Familie nicht aus. Deshalb schlug er sich als Verkäufer für eine Wäschefirma – als „Wäschevertreter“, wie sein Sohn Klaus später sagte – durch, der in ganz Deutschland herumreiste. Wenn er nach Hause kam, so erinnerte sich der Sohn, „begann die philosophische Schicht am Schreibtisch“. Hauptsächlich beschäftigte er sich mit Immanuel Kant. 1931 veröffentlichte er das Buch „Neukantische Aufgaben“, 1933 dann „Die Geburt des Etwas aus dem Nichts“, beide erschienen in der Pan-Verlagsgesellschaft, Berlin. 1938 vollendete er sein Werk „Philosophische Probleme im biblischen und apokryphen Schrifttum der Juden“, das im Goldstein Verlag, Berlin, herauskam. Daneben war er an Kunst und Architektur interessiert und hatte offenbar Kontakt zu dem Architekten Mies van der Rohe.

Nachdem er nach sechs Wochen langer Haft entsetzt und verbittert aus Sachsenhausen zurückgekehrt war, floh er 1939 vor den Nationalsozialisten in die Niederlande. 1940 wurden die Niederlande von der deutschen Wehrmacht besetzt. In Groningen wurde er von der Gestapo, die ganz Holland nach deutschen Juden durchkämmte, jedoch entdeckt und erneut verhaftet, in das Durchgangslager Westerbork gebracht und von dort in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo er im September 1942 ums Leben gebracht worden ist.

Als sein Vater Berlin verlassen hatte, flüchtete Dr. Klaus Sternberg mit seiner Mutter nach England und kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurück. Seine Mission sah er viele Jahre lang darin, Schülerinnen und Schülern die Lehren der Geschichte zu vermitteln. Für den Verein Bund der Antifaschisten Treptow e.V., dem er angehörte, hielt er Vorträge zur Geschichte des Judentums und der Juden in Deutschland und zur Geschichte Israels. Er trat als Zeitzeuge über die NS-Zeit auf und referierte über den Antisemitismus. 2009 wurde er mit der Bürgermedaille des Berliner Bezirks Treptow-Köpenick geehrt. 2011 ist er in Berlin gestorben.

Quellen: Ansprache von Dr. Klaus Sternberg bei der Verlegung des Stolpersteins am 23.8.2005; Joseph Walk, Leo Baeck Institute, Jerusalem (Hrsg.): Kurzbiographien zur Geschichte der Juden 1918–1945. München, 1988.
Recherche: Wolfgang Knoll, Text: Helmut Lölhöffel

Zur Verlegung des Stolpersteins für Dr. Kurt Sternberg hielt dessen Sohn Dr. Klaus Sternberg in Anwesenheit zahlreicher Familienmitglieder diese Ansprache:

bq. Lieber Vati! In einer Wohnung dieses Hauses wohnten wir, du und ich mit deinen Eltern zusammen, zwölf Jahre lang. In der zweiten Hälfte, nachdem die deutschen Faschisten an die Macht gekommen waren, hat uns unser jüdisches Schicksal wie so oft in der Geschichte sehr viel Leid zugefügt.
Lass mich ein klein wenig nachholen, was vor 63 Jahren nach deinem gewaltsamen, widernatürlichen Gastod nicht stattgefunden hat. Es gab kein Grab für dich und nicht ein einziges Wort der Erinnerung. Aber wie der Talmud schon sagt, ‚ist ein Mensch erst dann tot, wenn er vergessen wird‘. Und ein jüdisches Sprichwort meint: ‚Erinnerung bringt das Leben zurück.‘
Aus diesem Hause wurdest du beim Judenpogrom am 10. November 1938 von der Gestapo abgeholt und in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Nach etwa sechs Wochen kamst du, an Leib und Seele gebrochen, wieder. Von diesem Haus begleiteten wir Mutti und dich zum Bahnhof Zoo, um vor Deutschland zu flüchten, das du sehr geliebt und für das du viele Jahre als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg Opfer gebracht hattest.
Wir besuchten dich noch einmal kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs im niederländischen Groningen und hatten bereits die dunkle Vorahnung, dass es ein Abschied für immer sein würde. In Amsterdam ergriffen dich nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht die Nazischergen erneut, transportierten dich in das Sammellager Westerbork und deportierten dich von dort in das Vernichtungslager Auschwitz, von dem du nicht mehr zurückgekehrt bist.
In meinem Gedächtnis lebst du als ein äußerst pflichtbewusster, fleißiger, sich niemals schonender Mensch und als ein guter, warmherziger, treu sorgender, verständnisvoller Vater fort. Dein Beruf als Philosoph, den du als innere Berufung empfandest, würde dich zweifellos ausgefüllt haben. Nur reichte er trotz Muttis Arbeit nicht zum Lebensunterhalt der Familie. Wenn du als Wäschevertreter, der oft in Deutschland herumreisen musste, nach Hause kamst, begann danach die philosophische Schicht am Schreibtisch, an dem zahlreiche Bücher und Schriften entstanden oder wo du dich auf deine Vorlesungen an der Volkshochschule Charlottenburg vorbereitetest, an der du als Privatdozent tätig warst. Du warst ein glühender Anhänger des großen Immanuel Kant und brachtest mir schon frühzeitig den Kategorischen Imperativ als Handlungsmaxime nahe. In meinen Ohren klingt noch immer nach, wenn du mir Kants Aufforderung an den Menschen übermitteltest: ‚Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Du nahmst dir stets Zeit, um auf Fragen des Lebens, die ich in meiner Entwicklung stellte, klare, deutliche Antworten zu geben. Du übtest mir am Klavier, als ich den Unterricht aufnahm, spieltest auch öfter vierhändig mit mir und beobachtetest mit nicht wenig Vergnügen und Anteilnahme die Fortschritte, die ich am Klavier und später beim Erlernen der Konzertflöte erzielen konnte. Du nahmst dir eine Urlaubswoche mehr als Mutti erhielt, und wir beide wanderten in wundervoller Naturverbundenheit von einem Ort zum anderen in den österreichischen Alpen umher, bis wir mit Mutti den geruhsameren Teil des Urlaubs an einem der Salzkammergut-Seen genossen.
Ja, Vati, du warst immer für mich da. Und sicherlich würdest du unbändige Freude empfunden haben, hättest du deine Nachkommen, deine Enkeltöchter, deine Ur- und Ururenkelkinder erlebt. Sie sind der beredte Ausdruck dafür, dass das Leben den Tod besiegt.
Ihr lieben Mädel und Jungen, Glieder der jungen Generation, gehört zu dieser Lebenszukunft.
Ich bedanke mich recht herzlich bei Ihnen, liebe Frau Wappke, liebe Frau Dr. Vaght, lieber Herr Knoll, lieber Herr Demnig, bei meinen Familienangehörigen und bei euch, liebe Mädel und Jungen, für die Begleitung und Unterstützung, die mir zuteil wurden.
Sorgen wir alle gemeinsam dafür, dass die heute immer noch Unheil bringenden Schatten der Vergangenheit sich nicht ausbreiten können, sondern verschwinden. Sorgen wir dafür, dass niemals wieder solche Verbrecher, solche Verbrechen sich unseres Landes bemächtigen können.
Und wenn es schwierig werden sollte, weil das Leben auch oft hart mit uns umgehen mag, dann können uns die folgenden Worte Bertolt Brechts gute Dienste leisten, um niemals aufzugeben: ‚Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang. Die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese sind unentbehrlich!‘
Vielen Dank.