Stolpersteine Duisburger Straße 7

Hausansicht Duisburger Str. 7

Die Stolpersteine für Else und Martin Reichenbach wurden am 23. November 2021 in Anwesenheit des Urenkels Daniel Graf verlegt und von den HausbewohnerInnen Gröning und Niendorf gespendet.

Stolperstein Else Fanni Reichenbach

HIER WOHNTE
ELSE FANNI
REICHENBACH
GEB. GLASERFELD
JG. 1873
DEPORTIERT 8.7.1942
THERESIENSTADT
1942 TREBLINKA
ERMORDET

Else Fanni Reichenbach geb. Glaserfeld wurde am 22. Mai 1873 in Berlin geboren. Im Jahr 1894 heiratete sie Martin Bernhard Reichenbach. In den Jahren 1895 und 1902 wurden die Kinder Alice und Ernst geboren. Das Ehepaar Reichenbach war vermögend. Es gab Bankvermögen, Staatsanleihen und Wertpapiere und die Wohnung war mit wertvollen Möbeln und Teppichen eingerichtet. Else Reichenbach besaß zudem kostbaren Schmuck. Doch die Repressalien des nationalsozialistischen Systems trafen auch diese Familie – im Jahr 1940 wird Else schon ganz allein in Berlin sein, ohne Familienangehörige und konfrontiert mit der täglichen Unterdrückung durch die Nazis. Im Jahr 1942 wird ihr gesamter Besitz aufgelistet, beschlagnahmt und vom Staat verkauft.

Porträt Else Fanni Reichenbach

Porträt Else Fanni Reichenbach

Zwei Jahre vor ihrer Deportation, im Alter von 67 Jahren, wurde Else von den Nationalsozialisten gezwungen zweimal umzuziehen – offenbar in Abhängigkeit zu der abnehmenden Zahl der Familienmitglieder und wegen der besseren „Übersichtlichkeit“ hinsichtlich einer geplanten Deportation. Der erste dieser Umzüge fand statt, als sie und ihr 76-jähriger Mann noch in der Duisburger Straße 7 wohnten. Sie zogen in die nahegelegene Konstanzer Straße. Beim zweiten Umzug war Else schon allein und wurde in die Sächsische Straße umgesiedelt.

Duisburger Straße 7 1939, 2. Konstanzer Str.7 1940, 3. Sächsische Str. 5 1941

1. Duisburger Straße 7 1939, 2. Konstanzer Str.7 1940, 3. Sächsische Str. 5 1941

Im Jahr 1939 wird die 10-jährige Enkelin Eva mit einem Kindertransport zu einer Familie Peterson in Schweden gerettet. Sie war die erste der Familie Reichenbach, die aus Deutschland floh. Im Jahr 1940 gelang Elses Kindern die Flucht – Alice nach England und Ernst nach Brasilien. (Für Ernst Reichenbach, seine Frau Charlotte und die Tochter Eva liegen Stolpersteine in der Egerstraße12). Als Erwachsene erzählte Eva von der Frustration ihres Vaters Ernst, als er es nicht schaffte, rechtzeitig eine Flucht für seine Mutter zu organisieren. Schließlich aber im Jahr 1942 ist den Briefen an ihren Sohn Ernst zu entnehmen, dass Else von der Notwendigkeit der Emigration überzeugt war – in diesen informierte sie Ernst über bürokratische Prozesse in Berlin für ihre Flucht. Aber: ab dem 18.Oktober 1941 gab es ein Ausreiseverbot für die jüdische Bevölkerung und ab da begann auch die systematische Deportation.

Postkarten Else Reichenbach

Postkarten von Else Reichenbach.

Zwischen April 1939 und Juni 1940 schickte Else viele Postkarten aus der Duisburger Straße 7 an Eva in Schweden. Die Großmutter schickte fast jeden Monat eine Postkarte an ihre Enkelin.
Vor allem Else schrieb sehr liebevoll, als ob die Familie außerhalb Deutschlands ihre große Hoffnung auf eine bessere Zukunft wäre. Sie versuchte immer, ihrer Enkelin gegenüber positiv zu sein und nicht zu zeigen, wie schwierig ihre Situation in Berlin wirklich war.

In einer der letzten Postkarten, die Else aus der Duisburger Str. 7 schickte, teilte sie ihrer Enkelin dann die Schwierigkeiten des Wohnungswechsels mit – bald würden sie und Martin in eine Wohnung in der Konstanzer Straße ziehen. Am 21.06.1940 schreibt Else: „Liebes Evilein, nun musst Du Dir unsere neue Adresse aufschreiben, denn wir ziehen nämlich am 25. Juni um, bleiben hier in der Nähe. Also schreib uns bald nach: Berlin W. 15 Konstanzerstr. 7. bei Stadthagen. Der Umzug und die Arbeit dabei ist auch Brrrr! Ebenso wie dein Weg zum Zahnarzt! Hat er dir wehgetan?”. Der Adresszusatz „bei Stadthagen” ist zu deuten, als dass es sich bei dem Umzug in die Konstanzer Straße um zugewiesene Zimmer in Untermiete handelte.

Brief Else Reichenbach

Brief Else Reichenbach.

Am 14. Dezember 1940, fünf Monate nach dem Umzug in die Konstanzer Straße 7, starb Elses Mann Martin in eben dieser Wohnung. Er wurde auf Antrag seiner Frau am 7. Januar 1941 auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt.

Aus den Akten des Entschädigungsamtes Berlin (Nr. 79550-C2) geht hervor, dass Else ab dem 19. Juli 1941 verpflichtet war, in der Öffentlichkeit den Judenstern auf ihrer Kleidung zu tragen. Im selben Jahr wurde Else erneut umgesiedelt. Am 22. November 1941 schreibt sie an ihre Enkelin: „Denke dir, mein Liebling, ich ziehe wieder in ein anderes Zimmer. Also schicke Deine Briefe von jetzt ab an folgende Adresse: Sächsischestraße 5., bei Bacher. Berlin W. 15. Ich teil das Zimmer mit einer sehr netten Dame, mit der ich auch schon hier zusammen wohne. Wahrscheinlich werden wir bald nach den Feiertagen umziehen können.”. Die Aussagen „bei Bacher” und „ich ziehe wieder in ein anderes Zimmer” können – auch in Zusammenhang mit dem vorangegangenen Brief – nur bedeuten, dass es sich bei bei den Umzügen in die Konstanzer und die Sächsische Straße um zugewiesene Zimmer in Untermiete, also Zwangsadressen handelte. Ab dem 29. Dezember 1941 bezog Else Reichenbach ein Zimmer in der Sächsischen Straße 5.

Else erzählte Eva immer von ihren Großeltern mütterlicherseits, die in der Nähe wohnten. (Für Arthur Landsberger und seine Frau Käthe Landsberger liegen Stolpersteine in der Giesebrechtstraße 7). In einem Brief vom 12. Januar 1942 teilt Else ihrer Enkelin mit, dass sie immer noch keine Nachricht von ihren Großeltern habe. Es lässt sich nicht sagen, ob Else nichts über den Verbleib von Arthur und Käthe wusste oder ob sie ihrer 12-jährigen Enkelin nicht davon berichten wollte, aber Tatsache ist, dass sie bereits am 18. Oktober 1941 nach Lodz/Litzmannstadt deportiert worden waren.

Auch aus der Sächsischen Straße gibt es einen Brief vom 24. April 1942, den Else über das Rote Kreuz an ihren Sohn Ernst in São Paulo schickte, aus dem hervorgeht, dass sie sich um die Flucht aus Deutschland bemühte und ihrem Sohn von diesem Vorhaben berichtete: „Erwarte sehnsuchtsvoll Nachricht. Ich bin gesund. Mein Generalbevollmächtigter Konsulent Dr. Kurt Israel Sachs, Berlin W.8 Kronenstraße 60. Mir warm empfohlen, interessevoll.”.

Während sich Else in Berlin mit der Auswanderungsbürokratie herumschlug, scheute Ernst in Brasilien keine Mühen, die Einreiseerlaubnis für Mutter und Tochter zu erhalten. Die Formalitäten umfassten unter anderem einen speziellen Brief, der direkt an den damaligen brasilianischen Präsidenten Getúlio Vargas geschickt wurde – verfasst von dem zuständigen Anwalt in Brasilien – ein Standardverfahren, in dem ein Ton der Demut und des wiederholten Flehens vorherrscht. Den Brief seiner Mutter erhielt Ernst offenbar erst ein Jahr später, denn der Eingangsstempel des Roten Kreuzes in Brasilien ist auf den 17. Juni 1943 datiert – zu spät. Else war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr am Leben.

Am 1. Juni 1942 war bereits ihr gesamtes Vermögen entwendet worden, ihre letzten Möbel und Textilien wurden an den Händler Karl Riebow verkauft. Zehn Tage später, am 11. Juni 1942 – einen Monat vor ihrer Deportation – schickte Else erneut über das Rote Kreuz ein verzweifeltes und bereits hoffnungsloses Telegramm an ihren Sohn: „Sehnsuchtvollst, tieftraurig drücke Euch mein Herz. Gott schütze, behüte Euch! Elly nachrichtenlos, Puis verstorben. Sagt Egoistin Hella, unaussprechlichster, tiefster Groll. Liebste Beide, ewige Liebe, Mutter.”. Dieses Telegramm wurde erst am 20. April 1943 in Brasilien empfangen, sicherlich ließ diese letzte Nachricht Ernst besorgt.

Die letzte bekannte Nachricht von Else an ihre Familie kam von der Sächsischen Straße 5, eine Postkarte vom 5. Juli 1942 an ihre Enkelin Eva: „Mein Liebling, ich Küsse und umarme Dich in Gedanken von ganzem Herzen! Schreibe doch bald an Pappi, er schreibt, dass er hofft, dass Du genesen bist. Bleibe gesund und vergnügt! Alles, alles Liebe von Deiner Oma Else.”. Drei Tage später wurde Else Reichenbach am 8. Juli.1942 nach Theresienstadt deportiert.

1942 war Theresienstadt u.a. ein Sammellager für die Transporte aus dem sog. „Reich“, um die Menschen dann weiter in die Vernichtungslager im Osten zu deportieren. Ab 1942 war das Ghetto aufgrund von Massendeportationen total überfüllt, es herrschte Mangel an Platz, Lebensmitteln und Medikamenten. Im September 1942 gab es über 58 000 Insassen, Alte, Kranke, Blinde, aber auch Kinder. Viele hatten nicht einmal einen Schlafplatz, ständig grassierten Krankheiten und wer überlebte, wurde in die Vernichtungslager transportiert, wo dann die meisten sofort umgebracht wurden.

Auch Else Reichenbach wurde am 19. September 1942 nach Treblinka deportiert, wo sie ermordet wurde.

Recherche und Text: Angelika Kaufel, Daniel Graf und Jolin Masche
Fotocollage mit Material aus Bildarchiv: Daniel Graf
Quellen:
- Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Bestand Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II), Akte (Nr. 30784) der “Vermögensverwertungsstelle”),
- Bundesarchiv,
- Landesarchiv Berlin (3 Akten aus B Rep. 025 (P – R) – Wiedergutmachungsämter von Berlin / Sterbeurkunde Akte B Rep. 025-07, Nr. 1389/64),
- Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum (Beisetzungsunterlagen des Jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee),
- Persönliches Archiv.

Stolperstein Martin Bernhard Reichenbach

HIER WOHNTE
MARTIN BERNHARD
REICHENBACH
JG. 1863
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
TOT 14.12.1940

Martin Bernhard Reichenbach wurde am 22. November 1863 in Frankfurt am Main geboren. Er war Kaufmann von Beruf. Im Jahr 1894 heiratete er die zehn Jahre jüngere Else Fanny Glaserfeld. Das Ehepaar hatte zwei Kinder – Ernst, der nach Brasilien fliehen konnte, und Alice, die nach England floh. Die Enkeltochter Eva, Tochter von Ernst, wurde im Alter von 10 Jahren mit einem Kindertransport nach Schweden in Sicherheit gebracht. (Für Ernst Reichenbach, seine Frau Charlotte und die Tochter Eva liegen Stolpersteine in der Egerstraße 12).

Die Familie Reichenbach war recht wohlhabend und lebte gemeinsam in der Duisburger Str. 7 in einer großzügigen Wohnung. Zwischen April 1939 und Juni 1940 schickte seine Frau zahlreiche Postkarten aus der Duisburger Straße 7 an Eva in Schweden. Die Großmutter schickte ihrer Enkelin fast jeden Monat eine Postkarte, Martin aber war ein wortkarger Großvater, der immer nur einen Satz am Ende eines jeden von Elses dutzenden langen Briefen an ihre Enkelin schrieb. Martins Enkelin Eva berichtete ihrem Enkel Daniel, dass Martin ein eher schweigsamer Vater und Großvater war, der keine besonders enge Beziehung zu seinem Sohn Ernst und ihr, seiner Enkelin Eva, hatte.

Martin Bernhard Reichenbach Postkarte

Am 25. Juni 1940 zog das Ehepaar aus der Duisburger Straße 7 in die Konstanzer Straße 7 um – sei es, weil sie aus wirtschaftlicher Not eine kleinere Wohnung wählen mussten, oder weil sie von den Nationalsozialisten zwangsweise aus ihrer eigenen Wohnung aus- und in die Konstanzer Straße eingewiesen wurden. Martin Reichenbach war damals 77 Jahre alt und sicher durch die zunehmenden Verfolgungsmaßnahmen stark belastet.

Zum Zeitpunkt der Flucht ihrer Kinder konnte das Ehepaar Reichenbach sich nicht ebenfalls zur Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland entscheiden. Es ist nicht bekannt, aus welchem Grund Else und Martin nicht zusammen mit ihren Kindern geflohen sind – weil sie keine Papiere hatten, weil das Geld nicht reichte, oder weil sie nicht davon überzeugt waren, dass es wirklich notwendig war, das Land zu verlassen. Vielleicht wollten sie einfach nicht akzeptieren, ein ganzes Leben und einen Ort aufzugeben, der ihre Geschichte trug und den sie Heimat nannten. Anzunehmen ist in jedem Fall, dass das Paar durch JUVA-Abgaben („Judenvermögensabgabe“, eine willkürliche Sondersteuer, die ausschließlich jüdische Deutsche nach der Reichspogromnacht 1938 als „Sühneleistung“ zu zahlen hatten) und große finanzielle Aufwendungen, um die Flucht der Kinder Ernst und Alice im November 1940 zu ermöglichen, finanziell deutlich geschwächt war.

Sterbefallkarte

Im folgenden Monat, am 14.Dezember 1940, starb Martin Reichenbach, fünf Monate nach dem Umzug in die Konstanzer Straße 7. Während der Recherchen für diese Biographie erwies es sich als zunächst ziemlich schwierig, die Todesursache herauszufinden, da in keinem Archiv diese Information vorlag. Dokumentiert ist nur das Datum und der Ort des Todes, wie in der Fiche „Zählkarte für Zuzug, Fortzug, Sterbefall“ vom 18.12.1940 angegeben (siehe Abbildung).

Beerdigungsanmeldung

In den Jahren um 1940 war es eher häufig, dass nichtjüdische Ärzte nicht gründlich nach der Todesursache suchten, wenn der/die Verstorbene ein(e) Jude/Jüdin war, sodass es in vielen Fällen nicht möglich ist, den Kontext und die wirkliche Todesursache zu erfahren. In Martins Fall, war es jedoch möglich, die Beerdigungsanmeldung in einem Dokument zu finden, das seinerzeit von einer jüdischen Institution ausgestellt wurde.

Als Todesursache ist bei der Anmeldung auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee eindeutig „Herzinsuffizienz“ eingetragen worden. Am 15. Dezember 1940 fand die Tahara (religiöses Ritual) statt und noch am gleichen Tag erfolgte die Überführung in das Krematorium. Die Beerdigung wurde von Else Reichenbach beantragt und fand am 7. Januar 1941 statt.

Recherche: Angelika Kaufel, Daniel Graf und Jolin Masche
Text: Daniel Graf und Jolin Masche
Quellen:
− Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Bestand Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II), Akte (Nr. 30784) der “Vermögensverwertungsstelle”),
− Bundesarchiv,
− Landesarchiv Berlin (3 Akten aus B Rep. 025 (P – R) – Wiedergutmachungsämter von Berlin / Sterbeurkunde Akte B Rep. 025-07, Nr. 1389/64),
− Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum (Beisetzungsunterlagen des Jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee),
− ITS Arolsen Archiv
− Persönliches Archiv