Stolpersteine Berliner Straße 23

Hausansicht Berliner Str. 23

Diese Stolpersteine wurden am 08.11.2021 verlegt. Die beiden Stolpersteine wurden gespendet von den Familien Skrzypczak/Jankowiak und Podsiadly.

Stolperstein Bertha Breslauer

HIER WOHNTE
BERTHA
BRESLAUER
GEB. PINN
JG. 1862
DEPORTIERT 17.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 21.8.1942

Stolperstein Dr. Samuel Breslauer

HIER WOHNTE
DR. SAMUEL
BRESLAUER
JG. 1870
DEPORTIERT 17.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 12.11.1942

Samuel Breslauer - Berliner Straße 23

In der Vermögenserklärung, die der 72-jährige Samuel Breslauer unmittelbar vor seiner Deportation aus Berlin im August 1942 gezwungen wurde auszufüllen, hielt er mit seinem Füllfederhalter auf Blatt fünf fest: „Ich besaß einen Garten mit Sommerhaus in Schöneiche bei Berlin.“

Die in Schöneiche archivierten Grundstücksakten geben Auskunft darüber, dass der Redakteur Dr. Samuel Breslauer am 7. September 1918 Eigentümer des Grundstücks Höhenweg 26 wurde. Auf dem Einbanddeckel der Grundstücksakte findet sich der Name Breslauer heute jedoch nicht mehr. „Schwanke, Elise geb. Voigt“ steht dort von Hand geschrieben und durchgestrichen, und in der Zeile darunter „Deutsches Reich“, ebenfalls durchgestrichen.

Samuel Breslauer wurde am 3. April 1870 als deutscher Staatsbürger in der Provinz Posen geboren. Im September 1894 heiratete er die acht Jahre ältere Bertha Pinn. Sie ist Lehrerin und ebenfalls in der Provinz Posen geboren, die Familie ihres Vaters stammt jedoch aus England. Als sie sich kennenlernen, leben Bertha und Samuel bereits – wie über 20 Prozent aller jüdischen Preußen um 1910 – in der Reichshauptstadt Berlin.

Da der promovierte Jurist als Jude nicht in den Staatsdienst aufgenommen wird, wendet er sich dem Journalismus zu und beginnt im Alter von 25 Jahren im renommierten Berliner Scherl Verlag als Redakteur. Im „August Scherl Verlag“ mit Sitz an der Zimmerstraße im Berliner Zeitungsviertel erscheinen verschiedene namhafte Berliner Zeitungen, darunter der 1883 gegründete Berliner Lokal-Anzeiger mit 12 Ausgaben pro Woche und einer Auflage von 250.000 (1927).

Bertha Breslauer - Berliner Straße 23

1895 bringt die 33-jährige Bertha einen Sohn zur Welt, dem sie wegen Berthas englischer Wurzeln den Namen William geben. Zwei Jahre später wird Tochter Gertrude geboren und fünf Jahre später Irene.

Die Mitglieder der jüdischen Familie Breslauer verstehen sich in erster Linie als Deutsche, die zwar keiner der etablierten Großkirchen, aber einer respektablen religiösen Minderheit angehören. Das jüdische Jahr mit seinen Festen und Feiertagen spielt bei Breslauers nur eine periphere Rolle. Die Familie fühlt sich weniger dem religiösen als dem liberalen Judentum zugehörig.

Schon bald verfolgt Dr. Breslauer mit besonderer Aufmerksamkeit die gesellschaftliche und politische Entwicklung im Reich von seinem Schreibtisch aus. Er ist Chefredakteur der Abteilung Politik des Berliner Lokal-Anzeigers. Als deutsch-national denkender Patriot fühlt Dr. Breslauer sich dem Deutschen Reich in Treue verbunden; als Jurist setzt er nahezu unbegrenztes Vertrauen in den preußischen Rechtsstaat.
Während seiner über 30-jährigen Dienstzeit bei einem der auflagenstärksten Berliner Blätter wird er Mitbegründer des Reichsverbandes der Deutschen Presse und steht dem Ehrengericht dieser angesehenen Institution über viele Jahre als Vorsitzender vor. Die entsprechend seiner beruflichen Stellung sehr gut situierte Familie lebt in Berlin-Charlottenburg. Das liberale Elternhaus stellt für Sohn und Töchter eine standes- und zeitgemäße Ausbildung sicher. Bereits im Alter von sechs Jahren erhalten die Kinder Hebräischunterricht. Ihr Lehrer ist Professor David Engländer, ein Bekannter der Familie, der die Breslauer-Kinder gemeinsam mit den eigenen Töchtern unterrichtet.

Direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs folgen Breslauers ihren Bekannten David und Sophie Engländer ins Grüne. Sie werden Eigentümer des Nachbargrundstücks der Engländers in jenem Ortsteil von Schöneiche, der von Sophie Engländer „unser geliebtes Hohenberge“ genannt wird. Als Annaruth Engländer und William Breslauer, der zuvor zwei Jahre als Außenkorrespondent der Ufa in Spanien gearbeitet hat, heiraten, ist der Bund zwischen den Engländer- und Breslauer-Familien unauflöslich geschlossen. Annaruth und William geben ihrer Tochter den Namen Gertrude – zur Erinnerung an Williams Schwester, die an ihrem 23. Geburtstag während der Berliner Grippeepidemie im Winter 1920 gestorben war. Gertrude studierte an der Kunstgewerbeschule, und ihr Tod ist ein außerordentlicher Verlust für die Familie, vor allem für ihre jüngere Schwester Irene.

Infolge des heftigen Antisemitismus, der ihr als einziger Jüdin in der gutbürgerlichen Charlottenburger Schulklasse entgegenschlägt, tritt Irene mit 16 Jahren der zionistischen Jugendbewegung „Blau-Weiß“ bei; schon bald bereitet sie sich auf einem Gut in der Altmark auf ihre Auswanderung nach Palästina vor. Die Eltern sind nicht sonderlich begeistert von dem Vorhaben der Tochter, und der Vater ist schließlich nicht bereit, das erforderliche Startkapital von 1.000 palästinensischen Pfund (etwa 14.000 Reichsmark) in das Auswanderungsprojekt seiner Tochter zu investieren. Als Irene sich – nach einer ideologischen Richtungsänderung – 1928 protestantisch taufen lässt, kommt es für einige Jahre zum Bruch mit den Eltern und sogar mit dem Bruder. „Du kannst alles glauben, nur keine Taufe!“, hatte Samuel Breslauer seine Tochter bereits Jahre zuvor in einer hitzigen Diskussion beschworen.

Unter dem Druck des sich verschärfenden Antisemitismus zieht Dr. Breslauer sich bereits vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten aus seiner exponierten Stellung beim Berliner Lokalanzeiger zurück. Er lässt sich im Sommer 1932 beurlauben und wird ein Jahr später pensioniert. Insofern kommt er dem im Herbst 1933 erlassenen Schriftleitergesetz zuvor, demzufolge Schriftleiter nur sein darf, „wer arischer Abstammung ist und nicht mit einer Person nichtarischer Abstammung verheiratet ist“. Emigration kommt für ihn, der von seiner Familie nicht Samuel sondern Siegfried genannt wird, überhaupt nicht in Frage. Ebenso wie viele Deutsche und in besonderem Maße Berliner Juden vertritt Samuel Breslauer den Standpunkt des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Dessen Hauptanliegen besteht in der Abwehr des Antisemitismus, und zwar mittels Aufklärung und Bildung, Agitation und kämpferische Maßnahmen lehnt der Verein strikt ab.

Im Frühjahr 1938 müssen die Breslauers ihre großzügige Fünf-Zimmer-Wohnung in der Berliner Straße 32 in Berlin-Charlottenburg aufgeben. Mit ihnen sind sehr viele jüdische Berliner in diesen Tagen „infolge eines kurzfristigen Räumungsbefehls“ der arischen Vermieter gezwungen, ihre Wohnung überstürzt zu verlassen. Die gutbürgerliche Einrichtung ihrer Wohnung müssen Bertha und Samuel Breslauer „zum Teil verschleudern und zum andern Teil verschenken und wohl auch sicherlich manches stehen lassen.“

Im Nachbarbezirk Wilmersdorf finden sie für monatlich 90 Reichsmark zwei Zimmer zur Untermiete in einem Mietshaus, in das ausschließlich jüdische Mieter eingewiesen werden. Breslauers haben Glück. Die Bregenzer Straße 1-2 verfügt über Fahrstuhl und Warmwasserheizung, und die im zweiten Obergeschosse liegenden Zimmer haben Zugang zu Bad und Balkon. Bertha nimmt ihren Nähtisch und die Chaiselongue in die Bregenzer Straße mit, drei kleine persische Brücken machen den zu einem einzigen Zimmer geschrumpften Wohn-, Arbeits-, Lese- und Nähbereich gemütlich, und an dem achteckigen Tisch bieten neun mitgenommene Stühle der Verwandtschaft und den Freunden ausreichend Sitzgelegenheit.
Während der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wird auch William Breslauer verhaftet und zusammen mit über 6.000 jüdischen Männern in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Noch während der Haft entlässt die Ufa ihren langjährigen Mitarbeiter. Er kommt aus dem KZ erst frei, nachdem er sich verpflichtet hat, Deutschland umgehend zu verlassen. Dies gelingt ihm und seiner Familie nach mehreren missglückten Versuchen jedoch erst im Mai 1939. Über einen Verwandten seiner Frau erhält die Familie ein Visum für Chile. „Da er mittellos und ohne jede Erfahrung seine Existenz in Chile aufbauen musste, war es vorauszusehen, dass er den seelischen und körperlichen Anforderungen bei seinem Alter nicht mehr gewachsen sein konnte.“

Diese knappe Beschreibung der Situation des Hilfsbuchhalters William Breslauer in der Nachkriegszeit ist der von vielen Emigranten nicht unähnlich.

Irene Breslauer erlebt die Pogromnacht in Stuttgart, wo sie seit ihrer Taufe lebt. Nachdem sie ihre Stelle als Jugend-Sekretärin bei der Vereinigung der Mädchenbibelkreise Württembergs verloren hat, verdient sie ihren Lebensunterhalt in wechselnden Betrieben. Die Württembergische Kirche hat die Christin bereits 1934 entlassen. Irenes Kontakte beschränken sich jetzt auf gleichermaßen Betroffene, wie den Seelsorger Ernst Flatow, mit dem sie eine enge Bindung eingeht.

Bertha und Samuel Breslauer fahren indes auch aus Berlin-Wilmersdorf noch in ihr Sommerhäuschen nach Hohenberge. Allerdings leiden beide zunehmend unter gesundheitlichen Problemen. Bertha hat Herzbeschwerden und soll überwiegend liegen. Samuel Breslauer hat möglicherweise im Sommer 1940 einen Schlaganfall oder schweren Sturz erlitten und ist im Gehen eingeschränkt. Im gleichen Jahr stellt der Scherl-Verlag die Pensionszahlungen an Dr. Breslauer ein, überweist ihm jedoch eine „sehr anständige Abfindung, über die er infolge der Zahlungssperre für Juden nur in kleinen Beträgen verfügen“ darf.

Nachdem sie im August 1941 eine Abschiedswoche in Hohenberge verbracht haben, müssen Breslauers ihr Grundstück samt Sommerhaus im November 1941 verkaufen. Zu diesem Zeitpunkt tragen sie seit fast acht Wochen den sie als Juden kennzeichnenden Stern an ihrer Oberbekleidung. Vor der Vertragsunterzeichnung wendet der korrekte Samuel Breslauer sich an die Gemeinde Schöneiche mit der Bitte, „der Ordnung halber die Sicherungshypothek zu löschen“. Für die Pflasterung der örtlichen Straßen erhebt die Gemeinde von jedem Käufer einen Betrag, der als Sicherungshypothek in Grundbuch eingetragen wird. Samuel Breslauer jedoch hatte „die Pflasterkosten bereits voll bezahlt“.
Noch bevor der Grundstücksübergang vollzogen ist, werden Breslauers deportiert. Die „Vermögenserklärung“ wird ihnen wahrscheinlich in den ersten Augusttagen des Jahres 1942 zusammen mit ihrer „Transportnummer“ zugestellt. „Wir müssen verreisen“, schreiben sie als letzten Gruß nach Südwest-England, wo ihre Tochter Irene seit Frühjahr 1939 Käse herstellt und in der Quäker-Seelsorge mit jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland arbeitet.

Am 7. August 1942 füllt Samuel Breslauer die von ihm geforderte Vermögenserklärung aus. Mehr als 80 Fragen sind auf 16 Seiten des hektographierten Formularvordrucks zu beantworten. Die Schrift des 72-jährigen Samuel Breslauer ist zittrig. Zahlreiche Tintenkleckse lassen ahnen, wie unangenehm die Situation ist. Zunächst ist Samuel Breslauer bemüht, auf jede Frage korrekt und erschöpfend Antwort zu geben. In einer Kassette im Schreibtisch befänden sich noch drei Mark fünfzig, beantwortet er die Frage nach der Höhe und dem Aufbewahrungsort seines Bargeldbestands. Das gemeinsame Konto von Samuel und Bertha Breslauer bei der Deutschen Bank in der Jerusalemer Straße weise ein Guthaben 1.100 Reichsmark auf, über das die Eheleute jedoch schon lange nicht mehr frei verfügen dürften. Und den bei der Depositenkasse der Deutschen Bank liegenden gesperrten Wertpapieren seien 23.000 Reichsmark dem Finanzamt Charlottenburg für die so genannte Reichsfluchtsteuer verpfändet.

Die Beantwortung der Frage nach eventuellen Liegenschaften beginnt mit dem Satz „Ich besaß einen Garten mit Sommerhaus in Schöneiche bei Berlin“. Auf Seite 6 scheitert Samuel Breslauer. Ab hier gibt er nur noch vereinzelt Auskunft und verneint nahezu alle Fragen mit einem kurzen Strich, so die Forderung nach Aufzählung seiner eigenen Bekleidungsstücke oder der in seinem Besitz befindlichen Kunst- und Wertgegenstände.

Seine Pensionsansprüche bei der Reichsversicherungsanstalt der Deutschen Presse gibt er hingegen an – auch wenn ihm die Pensionszahlungen bereits seit 1941 vorenthalten werden. Von der Nennung seiner Versicherungsverträge bei der Victoria sieht er ab. Das über „Wohnungsinventar und Kleidungsstücke“ anzufertigende Verzeichnis umfasst drei Seiten und verlangt die minutiöse Auflistung der Anzahl einzelner Haushaltsgegenstände sowie den geschätzten Wert in Reichsmark. Als er auf Seite 16 der Vermögenserklärung letztmalig seine Unterschrift leistet, sieht er von dem diskriminierenden Zusatz „Israel“ ab. Er unterzeichnet als Dr. jur. Samuel Breslauer.

Zwei Tage später, es ist der 9. August 1942 und zugleich der 47. Geburtstag ihres Sohnes William, sitzen Bertha und Samuel Breslauer zum letzten Mal gemeinsam mit Sophie und David Engländer an dem achteckigen Tisch und trinken eine Tasse Kaffee auf das Glück ihrer Kinder in Chile und Bolivien. Ob sie wirklich noch Kaffee besitzen? Jedenfalls berichtet Sophie Engländer dies.

Ob das Ehepaar Breslauer tatsächlich von Gestapobeamten und Mitarbeitern der Reichsvereinigung der Juden in der Wohnung abgeholt wird, ist nicht belegt. Es ist jedoch seit Juni 1942 die übliche Praxis bei Deportationen aus Berlin nach Theresienstadt. Wie vorgeschrieben, übergibt Dr. Breslauer dem Gestapo-Beamten die nun nicht mehr benötigten Schlüssel zu ihren Zimmern in der Bregenzer Straße. Einige Tage zuvor hatte er bereits die Transportnummern an Berthas und seinem Reisekoffer befestigt und das Gepäck vorschriftsmäßig in einer der hierfür vorgesehenen Kleiderkammern abgegeben. Wie alle zu Deportierenden dürfen Bertha und Samuel Breslauer jeweils 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen, außer ihrem Handgepäck jedoch nicht mehr als jeweils einen Koffer und einen Rucksack.

Das Altersheim der Jüdischen Gemeinde in der Großen Hamburger Straße in Berlin-Mitte dient seit der Beschlagnahmung durch die Gestapo im Herbst 1941 als Sammellager für die zu Deportierenden. Dort angelangt, werden Breslauers von der Gestapo durchsucht. Einen Großteil der für die Reise eingepackten Waren und Wertgegenstände nehmen die Gestapo-Beamten ihnen ab. Die Reichsvereinigung der Juden ist mit Helfern präsent und versorgt die zu Deportierenden mit Lebensmitteln, Getränken und Decken. In der Regel verlassen die Transporte zwei bis drei Tage nach dem Eintreffen der zu Deportierenden das Sammellager. Bei diesem Transport ist es anders. Die alten Breslauers warten etwa zehn Tage auf ihren Abtransport. Die Zusammenstellung der über eintausend Teilnehmer des Transports beansprucht mehrere Tage.

Vielleicht ist das Verfahren in der Großen Hamburger Straße ähnlich organisiert wie im Sammellage Levetzowstraße, wo „in einem besonderen Raum […] die verschiedenen Ämter, wie Arbeitsamt, Finanzamt, Einwohnermeldeamt, Ernährungsamt und Gerichtsvollzieherei Filialen errichtet [haben]. Hinter den Tischen standen große Waschkörbe. Daneben saßen Beamte und Beamtinnen, an denen jeder Transportteilnehmer vorbeizugehen hatte, um die in Frage kommenden Papiere, wie Arbeitsbuch, Brotmarken, Steuerbelege und Geld abzugeben“. Am 13. August 1942 händigt ein Gerichtsvollzieher Dr. Breslauer den Bescheid aus, dass sein und Berthas gesamtes Vermögen „zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen“ wird. Das heißt, Breslauers werden enteignet. Die Auslagen in Höhe von 1,05 Reichsmark für den Enteignungsbescheid werden ihnen jedoch noch in Rechnung gestellt. Am 17. August 1942 werden Bertha und Samuel Breslauer schließlich in das Ghetto Theresienstadt deportiert.

Die in der Nähe von Prag gelegene josefinische Militärfestung Theresienstadt (Terezin) war im November 1941 in ein Durchgangsghetto für Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren umfunktioniert worden. Seit Frühsommer 1942 war Theresienstadt jedoch ein Ghetto für über 65-jährige Juden, für Weltkriegsteilnehmer mit Auszeichnungen, für Witwen von Weltkriegsteilnehmern, für Schwerkriegsversehrte sowie für jüdische Partner aus arisch-nichtarischen Ehen. Noch später sollte Theresienstadt Vorzeigeghetto werden, in der Absicht, die internationale Öffentlichkeit irrezuführen. Als das Ehepaar Breslauer im Sommer 1942 deportiert wird, heißt es, die alten Menschen würden in Theresienstadt in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. In Wirklichkeit handelt es sich um elf verwanzte Kasernen, in die Befestigungen in Form von Kasematten eingebaute Militärobjekte, sowie 218 Häuser.

Um ihre Absicht zu verschleiern, lassen die NS-Behörden die zur Deportation Vorgesehenen so genannte Heimeinkaufsverträge für das Ghetto Theresienstadt abschließen. Im guten Glauben, sich eine angemessene Unterkunft und Verpflegung auf Lebenszeit „in Theresienbad“ zu sichern, übertragen viele Verfolgte ihr Vermögen an die unter der Kontrolle des Reichssicherheitshauptamts stehende Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Bertha und Samuel Breslauer scheinen jedoch keinen solchen Vertrag abgeschlossen zu haben.

Der erste Transport nach Theresienstadt verlässt Berlin Anfang Juni 1942. In der Regel fahren 50 bis 100 ältere Menschen in regulären Abteilwagen der Reichsbahn von den Berliner Bahnhöfen Putlitzstraße und Anhalter Bahnhof nach Theresienstadt. Zwischen Juni und September 1942 verlässt fast täglich ein Deportationszug die Reichshauptstadt in Richtung Theresienstadt.

Zum Zeitpunkt der Deportation ist Samuel Breslauer 72 Jahre alt, und seine Frau steht kurz vor ihrem 80. Geburtstag. Wie wahrscheinlich die meisten, die im Sommer 1942 den Deportationsbescheid für Theresienstadt erhalten haben, verlässt das Ehepaar Berlin mit der verzweifelten Hoffnung, dort vielleicht doch noch so etwas wie ein Altersheim vorzufinden. „Die Eltern [Samuel und Bertha Breslauer] haben die Reisevorbereitungen gut überstanden. Die Reise ist ja nicht sehr weit, und die Eltern hielten sich sehr tapfer“, schreibt Sophie Engländer ihren Kindern und Schwiegerkindern wenige Tage nach der Deportation von Breslauers.
Wie bei allen Transporten nach Theresienstadt endet die Fahrt auch am 19. August 1942 an der Bahnstation Bauschowitz (Bohusovice). Von hier sind es noch 2,5 Kilometer, die zu Fuß bis zur Großen Festung zurückgelegt werden müssen. Mit Handgepäck ist es für die Karawane aus eintausend alten Leuten ein beschwerlicher Marsch von zwei Stunden bis an das Tor der Sudetenkaserne. Mit der Ankunft im Ghetto ist gleichzeitig der Durchgang durch „die Schleuse“ verbunden. Bei der Registrierung werden die erschöpften Alten unter dem Vorwand der Kontrolle auf Schmuggelware um weitere persönliche Gegenstände wie Medikamente, Thermoskannen oder Taschenlampen bestohlen. Wie alle Frauen und Männer werden Bertha und Samuel Breslauer nach ihrer Ankunft getrennt und einer „Ubikation“, einem Wohnplatz, zugewiesen. Vielleicht liegt die Matratze, auf der Bertha Breslauer schlafen soll, in einem vergitterten Kasernenraum und ist in Wirklichkeit nur ein Holzbrett. Jedenfalls müssen sich im August 1942 weit mehr als 50 Frauen auf 50 dreigeschossigen Holzstellagen pro Raum zusammenquetschen. Da es nicht genug Bettstellen gibt, sind viele gezwungen, auf dem bloßen Erdboden zu schlafen. Die Schränke sind voller Wanzen und Flöhe, die Fenster lassen sich nicht öffnen, und der Lärm ist ohrenbetäubend. Allein auf den Dachböden der Kasernen biwakieren 6.000 Menschen. Jede Person hat nicht einmal eine Fläche von 1,6 Quadratmeter für sich zur Verfügung.
Spätestens mit der Ankunft des großen Transports von über eintausend Deportierten, in dem sich auch die Breslauers befinden, setzt die Überfüllung des Ghettos ein. Im September 1942, als 60.000 Menschen an einem Ort zusammengepfercht sind, der ursprünglich vielleicht für 5.000 entworfen wurde, erreicht die Überbevölkerung ihren Höhepunkt. Die sanitären Bedingungen, der Mangel an Medikamenten und Lebensmitteln führen zu Epidemien. Die an die Häftlinge bei ihrer Ankunft ausgegebenen Essenskarten berechtigen zum Bezug von Kaffee, Mittagessen und Abendessen. Das mit der explosionsartigen Überbelegung entstandene Chaos lässt die Verteilung von Lebensmitteln zur Farce werden. Die Wasserverhältnisse sind im Sommer 1942 mehr als schlecht. Das Wasser tröpfelt rot aus den Röhren, an manchen Tagen gibt es überhaupt keins, und schließlich brechen die Wasser- und die Stromversorgung vollends zusammen. Manche Insassen haben noch Verwandte außerhalb des Ghettos, die ihnen Lebensmittelpakete schicken. Bertha und Samuel Breslauer haben niemand mehr, der dies für sie tun könnte. David und Sophie Engländer, ihre Gartennachbarn und gleichzeitig Schwiegereltern von William, werden wenige Tage später ebenfalls nach Theresienstadt deportiert.

19.874 Frauen sterben während der Existenz des Ghettos Theresienstadt an Krankheiten und Hunger, 12.955 von ihnen stammen aus Deutschland. Bertha Breslauer ist eine von ihnen. Sie stirbt am 21. August 1942, nur drei Tage nach ihrer Ankunft in Theresienstadt. Die fast 80 Jahre alte Frau übersteht die Strapazen des überfüllten Sammellagers in Berlin, den beschwerlichen Transport und vor allem den Schock der Ankunft in Theresienstadt nicht. „Dieser psychische Schock konnte bei geschwächten Individuen, besonders bei älteren Leuten, einen schnellen Tod hervorrufen“, erläutert Jiri Diamant, Psychologe und Überlebender von Theresienstadt, die Konfrontation der im Ghetto Ankommenden mit den dortigen Bedingungen.

Im August 1942 sterben 2.327 Häftlinge im Ghetto Theresienstadt, das heißt, an jedem einzelnen Augusttag sind es mehr als 75 alte Menschen, die den katastrophalen Verhältnissen erliegen. Während sich zwischen April und September die Zahl der Häftlinge knapp vervierfacht hat, ist die Zahl der Todesfälle um mehr als das Fünfzehnfache gestiegen. In knapp drei Monaten – August, September und Oktober 1942 – sterben 10.364 Häftlinge.

Samuel Breslauer überlebt seine Frau nur um knapp drei Monate und stirbt am 12. November 1942 in Theresienstadt. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass Sophie und David Engländer ihren Freund Samuel Breslauer noch angetroffen haben, als sie in der zweiten Septemberwoche in Theresienstadt eintreffen. Bertha Breslauer lebt zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht mehr.

Der Winter 1942 ist ein außerordentlich strenger Winter, „es ist das Schlimmste, was es bisher hier gab – Kälte, Typhus, Hunger bei den Alten. Die Menschen leben in den Löchern auf den Dachböden, wo das Thermometer auf einige Grad über Null absinkt“, verzeichnet ein Häftlingstagebuch. Der 79-jährige David Engländer erliegt den Haftbedingungen am 21. Dezember 1942, drei Monate nach seiner Einlieferung. Sophie Engländer überlebt acht Monate in Theresienstadt und stirbt am 3. Mai 1943 dort.

Am 27. August, also nur zehn Tage nach der Deportation von Samuel und Bertha Breslauer, bucht die Deutsche Bank die in ihrem Depot befindlichen Wertpapiere von Samuel Breslauer an die Preußische Staatsbank aus. Um zu verzeichnen, was sie Samuel Breslauer raubt, legt die Oberfinanzdirektion eine eigene Akte unter dem Zeichen O 5205-13326 an.
Die Liste des Inventars ihrer letzten Wohnung umfasst den achteckigen Tisch, das Ruhebett mit Kopfkissen und Oberbett, die kleinen persischen Brücken sowie minutiös aufgelistet einzelne Kopfkissen, Fenstergardinen, Wäsche sowie Samuel Breslauers Bücherschrank. Wenige Wochen später ergänzt und erweitert der Gerichtsvollzieher die Inventarliste um weitere Stühle und Fenstergardinen. Er hält darüber hinaus fest, dass es statt zwei kleiner echter Brücken drei seien. Die Gebühren für den von ihm errechneten Gesamtwert von 415 Reichsmark setzt er mit acht Reichsmark und 30 Pfennigen an, hinzu kommen Schreibgebühren und Fahrtkosten von jeweils einer Reichsmark, macht zusammen zehn Reichsmark und 30 Pfennige. Die Oberfinanzdirektion weit dem Gerichtsvollzieher nach Prüfung des Vorgangs den genannten Betrag an. Der Berliner Gebrauchtwarenhändler Wilhelm Zimmermann erhält die Inventarliste am 13. November 1942 „zwecks Übernahme der Gegenstände“. Er ersteht das gesamte Mobiliar der Eheleute Breslauer zum Gegenwert von insgesamt 290,50 Reichsmark.

Am gleichen Tag meldet die Oberfinanzdirektion dem Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, dass „die Wohnung des Samuel Israel Breslauer Berlin Wilmersdorf, Bregenzer Straße 1-2 […] heute geräumt worden [ist]. Die Meldung erfolgt zum Zwecke der Weitervermietung oder der Aufgabe an das Hauptplanungsamt zur Beschlagnahme.“
Einige Monate später, am 12. März 1943, meldet sich die Vollstreckungsstelle des Finanzamts Wilmersdorf-Nord bei der Oberfinanzdirektion mit einer Forderung. Nach den Feststellungen des Finanzamts sei „der Dr. Samuel Israel Breslauer […] evakuiert worden“. Als Vorauszahlung auf die Einkommenssteuer schulde Dr. Breslauer dem Finanzamt für das 3. und 4. Kalendervierteljahr 1942 insgesamt 1.006 Reichsmark. Der Vermögenssteuerrest für 1942 betrage 149 Reichsmark. An Säumniszuschlägen und Gebühren will das Finanzamt 32,15 Reichsmark erheben. Dr. Samuel Breslauer ist zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Monate tot.

Am 29. April 1943 wendet die Oberfinanzdirektion sich an die im gleichen Haus befindliche Grundstückskartei. In der Sache „Garten mit Sommerhaus Grundstück Schöneiche bei Berlin, Höhenweg 26/28“ soll es jetzt um die „Übertragung der Zuständigkeit“ gehen. „Der oben genannte Grundbesitz ist dem Reich verfallen.“ Doch das Grundstück scheint nicht in den Besitz des Deutschen Reiches überzugehen. Vielmehr geht es am 9. Juli 1943 von der Gemeinde Schöneiche auf Elise Schwanke über. Sie ist die Ehefrau eines guten Bekannten von Dr. Breslauer. Der Kaufpreis beträgt jetzt – 1943 – nur noch 193,50 Reichsmark. Der Bürgermeister von Schöneiche genehmigt den Grundstücksübergang am 7. Juli 1943. Der „gute Bekannte“ Willy Schwanke wird in den 50er Jahren versuchen, die Entschädigungsansprüche der in Schottland und Chile lebenden Erben von Bertha und Samuel Breslauer, Irene Bradley und William Breslauer, vor den deutschen Behörden durchzusetzen. Sie haben ihn mit der Durchsetzung ihrer Anträge auf Entschädigung beauftragt.

Nach der Jahrtausendwende ist Miriam Rothbacher in Wien die einzige Überlebende der Engländer- und Breslauerfamilien. Sie verliert nach zermürbendem Rechtsstreit den Breslauerschen Garten samt Sommerhäuschen an die Erben eben jenes Willy Schwanke.

Quellen:
Der Text ist eine Nachabdruck aus dem folgenden Werk: „Ich besaß einen Garten in Schöneiche bei Berlin“. Das verwaltete Verschwinden jüdischer Nachbarn und ihre schwierige Rückkehr von Jani Pietsch. Kapitel III „Wir müssen verreisen“, S. 81-93, 2006.
ISBN 3-593-38027-7.
Mit freundlicher Genehmigung des Campus Verlages, Frankfurt am Main/New York.
Alle mit Anführungszeichen versehenen Textpassagen sind in Jani Pietschs Buch mit detaillierten Quellenangaben auf den Seiten 232-236 belegt.
Fotos: aus Familienbesitz