Rede der BVV-Vorsteherin Dr. Marianne Suhr zur Ausstellungseröffnung "60 Jahre BVV"

Sehr geehrte Damen und Herren!

I
Die Bezirksverordnetenversammlung beschloss 2005 eine Ausstellung zur 60. Wiederkehr der Konstituierung der ersten ordentlichen Versammlungen nach dem Krieg. Wir entschlossen uns, die Arbeit von 60 Jahren an Beispielen zu dokumentieren.
Es war nicht möglich, alle annähernd 120 000 Blätter zu sichten, die sich in unseren Archiven befinden. Es musste ausgewählt werden, und dabei haben wir Themen und Drucksachen entdeckt, die uns die Zeit wieder in Erinnerung riefen.
Zeitenwenden wurden deutlich. Nach 1968 nahmen die Redebeiträge an Umfang zu. Als die “Alternative Liste” durch Bezirksverordnete vertreten war, begannen ökologische Diskussionen.
Wie immer bei “Nachforschungsarbeiten” beginnt dann eine Phase der Faszination, wenn man Themen entdeckt, die heute nicht mehr präsent sind, wenn einem Wortprotokolle in die Hände fallen, die von einer Intensität zeugen, die nicht zu vermuten gewesen war, wenn Personen “erscheinen”, die heute nicht mehr unter uns sind.
Das Beeindruckendste aber war der Beginn, und es ist in diesem Falle wohl nur in der Rückschau so, dass ihm “ein Zauber” innewohnte. Schon im September 1945 wurde eine “Vorläufige Bezirksversammlung” eingerichtet, die aus Vertretern “antifaschistischer Parteien”, der Geschäftsleute, der Sportvereine und der Wissenschaft bestehen sollte. Auf eine “ausreichende Vertretung von Frauen” wurde hingewiesen. Diese Versammlung beendete ihre Arbeit mit der Wahl 1946.

II
Am 20. Oktober 1946 wurden zum ersten Mal nach dem Krieg Bezirksverordnetenversammlungen gewählt. Die Kandidatinnen und Kandidaten in den Bezirken wurden auf ihre Mitgliedschaft in “Naziorganisationen” überprüft. Die Anfragen richteten sich an die Polizei und die Ämter der Bezirke, in denen die Kandidatinnen und Kandidaten wohnten. Die schriftliche Nachfrage begann mit den Worten “Ich ersuche ergebenst um Auskunft über” (Name der Person, Anschrift). Alle, die schließlich zur Wahl antraten, wurden durch Erklärung der Behörden oder Zeugen- oder Leumundsaussagen für unbelastet erklärt.
Die Konstituierung der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg mit 45 Mitgliedern, darunter 9 Frauen, fand am 6. Dezember 1946 statt. Zum Vorsteher der Versammlung wurde Hans Schröder gewählt.
Auszug aus dem Protokoll:
“Der neue Bezirksverordnetenvorsteher, Herr Hans Schröder, begrüßt die Vertreter der englischen Besatzungsmacht und bedankt sich für das Vertrauen, das man in ihn gesetzt hat. Mit dem Leitwort: ,Nie wieder Faschismus, alles für die Demokratie’ übernimmt er die weitere Geschäftsführung.”
Die zweite Sitzung der Charlottenburger BVV fand am 18. Dezember 1946 statt, die nächste bereits am 8. Januar 1947, wegen einer Stromsperre bei Kerzenlicht. Das Foto haben wir dokumentiert.
Nach der Beratung über die Bildung von 10 Ausschüssen, deren Einsetzung und die personelle Mitgliedschaft einstimmig “en bloc”, beschlossen wurde, war ein Antrag auf der Tagesordnung. Ich zitiere:
“Herr Arndt (SPD) bittet im Namen seiner Fraktion über folgenden Antrag zu beschließen:
1) dass mit sofortiger Wirkung jeglicher An- und Umbau aller nicht lebenswichtiger Betriebe und Geschäfte, wie z. Bars, Cafés Restaurants und Luxusgeschäfte verboten wird;
2) das für diese Zwecke beschaffte Baumaterial restlos beschlagnahmt und zur Winterfestmachung von Privatwohnungen verwendet wird;
3) dass die bei dem Um- und Ausbau angetroffenen Schwarzarbeiter festgestellt und durch das Arbeitsamt in zweckdienlicher Arbeit untergebracht werden.”
Der Antrag wird nach langer Diskussion einstimmig beschlossen.
Unter dem Punkt “Verschiedenes” wird über die Schwierigkeiten der Holzbeschaffung längere Zeit diskutiert. Das Bezirksamt gab zur Kenntnis, dass es Schwierigkeiten gäbe, die 40 000 rm Holz für die Charlottenburger Haushalte zu beschaffen, dafür wären nach gegenwärtigen Möglichkeiten 130 Tage nötig, dann sei der Winter vorbei. Man sagte zu, mit der russischen Besatzungsmacht weiter zu verhandeln, damit aus der russischen Zone mehr Holz geliefert würde.
Eine Schwierigkeit bestehe darin, dass die von der Sowjetischen Militär-Administration zur Verfügung gestellte Holz nicht nur 250 km nach Berlin transportiert werden müsse, sondern nicht “ab Straße, sondern ab Wald” zur Verfügung gestellt werde, was erhebliche Transportkosten verursache. Die Britische Militär-Regierung stelle jedoch Bereifung und Brennstoff zur Verfügung.
1946 – das war eineinhalb Jahre nach Kriegsende.

Die konstituierende Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf fand am 11. Dezember 1946 statt. Sie hatte 40 Mitglieder, davon ebenfalls 9 Frauen..
Zum Vorsteher wurde Karl Wiegner gewählt.
Aus seiner Antrittsrede:
“Das historische Ereignis dieser ersten Sitzung einer gewählten Wilmersdorfer Bezirksverordnetenversammlung seit 1933 drückt mehr als jedes Argument die Wandlung aus, die sich seit den Jahren der Herrschaft des Nationalsozialismus vollzogen hat. Zwölf Jahre gab es auf den Druck eines auf Gewalt gegründeten Systems keine Selbstverwaltung, war der Bürger nur Objekt eines sich auch in der kommunalen Verwaltung rücksichtslos durchsetzenden totalen Parteiregimes. Dass die Alliierten uns schon kurz nach der Vernichtung dieses Regimes die politische Freiheit wiedergaben und mit der Inkraftsetzung der vorläufigen Verfassung die Gesamtheit der Machtbefugnisse in die Hand der vom Volke gewählten Vertreter gelegt haben, ist nicht nur ein Akt weitausschauender demokratischer Politik, sondern auch ein Beweis dafür, dass sie das Vertrauen in die Berliner setzen, ihre Angelegenheiten selbst regeln zu können, wenn zunächst auch noch unter der Kontrolle der Militärregierungen.”

Der Vertreter der britischen Militärregierung begrüßte die Versammlung in Wilmersdorf mit einer Rede, aus der ich Auszüge zitiere:
“Der heutige Tag ist von hoher Wichtigkeit in der bisherigen Geschichte des Verwaltungsbezirks Wilmersdorf. ? Diese Versammlung besteht in Übereinstimmung mit der von der Alliierten Kommandantura genehmigten Verfassung. ? Die Autorität der Militärregierung bleibt ausschlaggebend und ihre Befehle sind nach wie vor zu befolgen. Es besteht aber kein Widerspruch zwischen dieser Autorität und der Demokratie, die Ihre Versammlung vertritt und auch nichts Gemeinsames zwischen dieser Autorität und dem diktatorischen System, unter dem sie zwischen 1933 und 1945 gelebt haben. ? Es fällt mir manchmal ein, dass in Deutschland die Neigung besteht, die Demokratie als eine mehr oder weniger angenehme Art von Allheilmittel anzusehen. Das ist sie aber nicht. Sie ist eine Kunst, die gelernt werden muss. ? Wenn Sie mich nach dem hauptsächlichsten Grund des Versagens der Weimarer Republik fragen würden, würde ich die Unfähigkeit der politischen Parteien nennen, Kompromisse zu schließen und Zugeständnisse zu machen. Wenn Sie diese Tradition des Parteihaders und der Parteifeindschaft von Ihrer Versammlung fernhalten können, wenn Sie lernen können, dass es möglich ist, Differenzen zu haben und trotzdem Freunde zu bleiben, dann werden Sie die wichtigste Lehre der Demokratie gelernt haben.”

III
Von diesem Zeitpunkt an, in dem die Versammlung noch in Beisein von Vertretern der britischen Militärregierung und unter deren Aufsicht stattfand, vergingen noch 48 Jahre bis zum Abzug der Alliierten aus Berlin, wenn diese auch längst nicht mehr Besatzungs-, sondern Schutzmacht waren.
Wir haben Demokratie gelernt. Nicht nur unter Anleitung. Es gab schon vor und zu Beginn der Zeit des Nationalsozialismus aufrechte Demokratinnen und Demokraten, die nach dem Krieg wieder politisch arbeiteten. Doch viele von ihnen haben Deportation und Emigration nicht überlebt.
Ein Beispiel aus Charlottenburg:
Er war 1919 in der noch selbständigen Stadt Stadtverordneter, später bis 1933 Abgeordneter im Deutschen Reichstag, Paul Hertz war Jude.
1933, nach der Entfernung aus dem Stadtparlament, floh er nach Prag, später ging er in die USA. Schon 1934 wurde er vom “Deutschen Reich” ausgebürgert, sein Besitz wurde beschlagnahmt.
Auf Wunsch von Ernst Reuter kehrte er 1949 aus der Emigration nach Berlin zurück und war zuletzt bis zu seinem Tod 1961 Senator für Wirtschaft und Kredit.
Die “Paul-Hertz-Siedlung”, die seinen Namen trägt, ist heute Ortsteil von Charlottenburg-Wilmersdorf.
Die meisten derer, die unmittelbar nach dem Krieg in der Bezirksverordnetenversammlung waren, sind sozusagen “Überlebende” des Nationalsozialismus. 60 Jahre später lebt niemand mehr von ihnen. Doch wird uns einer, der als Jugendlicher die Versammlung beobachtet hat, vor dem Rundgang durch die Ausstellung seinen Eindruck aus dieser Zeit vermitteln.
60 Jahre BVV – das sind auch 60 Jahre zum Teil anstrengende Übungen in Demokratie. Mehrheitsentscheidungen sind oft schwierig auszuhalten. Es ist aber ein Prinzip, das immer auf Zukunft ausgerichtet ist, ständig der Werbung für Ideen geöffnet, immer mit Argumentation und Reden verbunden ist. Manchen sind der Reden zu viel.
Doch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, auch schon so bald nach dem verheerenden Krieg erdacht und in Kraft getreten, sichert grundsätzlich jedem Menschen gleiche Rechte zu. Ohne Unterschied der Haufarbe, Abstammung oder Religion.
Wir haben hier fast alle die Zeit der Diktatur des Nationalsozialismus nicht erlebt, aber genug gehört, um Ähnliches nicht wieder zuzulassen.
Unser Bezirk war bei den letzten Wahlen der einzige in Berlin, in dem für die BVV keine selbsternannten Nationalisten kandidierten. Man hörte von ihrer Klage, hier keine Basis zu haben. Möge das Erinnern, auch ein wenig durch diese Ausstellung, dazu beitragen, das es so bleibt.
Bevor wir den Rundgang eröffnen, möchte ich Herrn Rudi Uda bitten, zur ersten Tafel, der Versammlung bei Kerzenschein, uns seine Eindrücke aus dieser Zeit zu schildern, die er als Jugendlicher erlebte.