Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zur Kranzniederlegung am 52. Jahrestag des 17. Juni, am Freitag, dem 17.6.2005, um 9.30 Uhr am Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus am Steinplatz

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

zur Kranzniederlegung am 52. Jahrestag des 17. Juni,

am Freitag, dem 17.6.2005, um 9.30 Uhr am Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus am Steinplatz

Sehr geehrte Damen und Herrn!

In diesem Jahr gibt es viele Jubiläen, die begangen werden. Für ganz Europa ist wohl am wichtigsten “60 Jahre nach Kriegsende”. Seit der berühmten Rede von unserem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vor 20 Jahren haben wir einen weitgehenden Konsens über das Verständnis des Kriegsendes als Befreiung.

Aber wir haben doch auch lernen müssen, dass dieses Verständnis in Osteuropa und auch in den neuen Bundesländern oft etwas anders ist. Zu lange wurde dort das Kriegsende als “Befreiung vom Faschismus” propagandistisch eingehämmert, als dass man es heute so ungebrochen übernehmen könnte. Das Ende der einen Diktatur war hier der Beginn der nächsten Diktatur.
Die Frauen und Männer, die am 17. Juni 1953 den Aufstand gewagt haben, mussten schmerzlich erfahren, dass ihr Land von einer fremden Besatzungsmacht beherrscht war. Einige von ihnen mussten es mit ihrem Leben bezahlen. Die Regierung der DDR hätte diesen Volksaufstand nicht überlebt, wenn nicht sowjetische Panzer eingegriffen hätten. Sie haben Freiheit und Demokratie in der DDR auf viele Jahre hinaus verhindert, und 8 Jahre später war der Bau der Mauer eine weitere Maßnahme zur Einschüchterung und Freiheitsberaubung.

Wir haben es im Herbst 1989 gesehen: Das SED-Regime fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen, nachdem es keinen sowjetischen Präsidenten mehr gab, der bereit gewesen wäre, diese Regierung mit Panzern zu verteidigen. Deshalb hatten die friedlichen Revolutionäre diesmal Erfolg, und deshalb verlief glücklicherweise diesmal der Aufstand unblutig und führte zum Erfolg, zur deutschen Einheit.
Wir Deutschen haben bekanntlich Schwierigkeiten mit unserer Geschichte, und das gilt auch für den 17. Juni. Es hat Jahrzehnte gedauert, um die offenbar notwendige historische Distanz zu gewinnen, aus der heraus wir diesen Tag gemeinsam als großen Tag unserer Geschichte erkennen und bewerten können, als Tag des Aufstandes vieler mutiger Menschen in der damaligen DDR für Freiheit und Demokratie.

Mehr als eine Million Menschen sind an diesem Tag an mehr als 700 Orten in der DDR auf die Straße gegangen und haben den Rücktritt ihrer Regierung und freie und geheime Wahlen gefordert.
Schwierig war dieser Gedenktag, weil er im geteilten Deutschland von beiden Seiten für die jeweiligen politischen Zwecke missbraucht und umfunktioniert wurde. Die Propagandalüge der SED, es habe sich um einen von außen gesteuerten Aufstand faschistischer Elemente gehandelt, hat zwar niemand ernst genommen, aber diese Propagandalüge hat eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Tag in der DDR verhindert. Historische Dokumente, aus denen die Wahrheit des 17. Juni spricht, wurden fast nur von der Stasi gesammelt und unter Verschluss gehalten. Ansonsten war die Überlieferung oder gar Publikation dieser Wahrheit in der DDR lebensgefährlich.

Deshalb wird das ganze Ausmaß des damaligen Volksaufstandes erst heute deutlich, und deshalb spielt insbesondere die Stasiunterlagenbehörde mit Marianne Birthler an der Spitze dabei eine so wichtige Rolle.
Der Westen hat in der Zeit des Kalten Krieges den 17. Juni zum Tag der Deutschen Einheit gemacht und dessen historische Substanz schnell vergessen und ausgehöhlt: An den mutigen Kampf der Menschen in der DDR für Freiheit und Demokratie wollte man wohl in Wahrheit gar nicht so genau erinnert werden. Vielleicht war es das schlechte Gewissen, das aus der Ohnmacht entstand, nichts tun zu können für unsere Landsleute auf der anderen Seite. Vielleicht war es ein schlechtes Gewissen, weil wir das unverdiente Glück hatten, nach den gemeinsam begangenen nationalsozialistischen Verbrechen jetzt zu den Glücklichen zu gehören, Freiheit, Demokratie und Wirtschaftswunder erleben zu dürfen.

Vielleicht hat deshalb die erste gesamtdeutsche Regierung nach dem 9. November 1989, als endlich der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 sein Ziel erreicht hatte, den Feiertag des 17. Juni abgeschafft und durch den 3. Oktober ersetzt. Die Erinnerung an den Aufstand mutiger Deutscher für Freiheit und Demokratie wurde verdrängt und ersetzt durch die Erinnerung an den formalen Akt der deutschen Wiedervereinigung. Die Erinnerung an lebendige Geschichte von unten wurde ersetzt durch die Erinnerung an einen Staatsakt von oben. Sicherlich, auch der 3. Oktober 1990 war ein wichtiger und glücklicher Tag für Deutschland. Und der 17. Juni 1953 steht ja nicht nur für einen Volksaufstand, auf den wir alle stolz sein können. Der 17. Juni 1953 steht auch für eine Niederlage.

An diesem Tag wurde die Diktatur in der DDR nicht besiegt, aber es wurde unmissverständlich klar, dass die Herrschaft der SED-Regierung nicht auf der Zustimmung ihrer Bürgerinnen und Bürger beruhte, sondern auf den Panzern der sowjetischen Besatzungsmacht.
Dennoch erinnern wir heute gemeinsam an einen Volksaufstand, für den es in unserer Geschichte nur wenige Beispiele gibt: Viele mutige Menschen haben in freier Entscheidung zusammen gefunden und solidarisch friedlich gekämpft – zuerst gegen Normerhöhungen, die als ungerechte Zumutung empfunden wurden, dann aber vor allem für freie Wahlen und gegen politische Unterdrückung. Gefängnisse wurden gestürmt, um politische Gefangene zu befreien. Wer denkt dabei nicht an die französische Revolution?

Solche historische Vergleiche sind immer problematisch. Schließlich hatte der Aufstand in Frankreich am 14. Juli 1789 Erfolg und ist deshalb zu Recht in die Geschichtsbücher eingegangen als ein Tag mit weitgehenden historischen Folgen.
Dennoch bleibt die nachdenklich stimmende Feststellung: Frankreich gedenkt an seinem Nationalfeiertag eines Volksaufstandes, Deutschland gedenkt eines Staatsaktes. Aber der 17. Juni war auch viel mehr ein Tag des Mutes, der Zivilcourage, des Freiheitswillens und der Solidarität als ein Tag der deutschen Einheit.
Unmittelbar nach dem Volksaufstand, im Juli 1953, wurde mit der Charlottenburger Chaussee eine wichtige Straße im damaligen West-Berlin nach diesem Tag benannt. Bis heute erinnert die Straße des 17 Juni an den Aufstand.

Aus der historischen Distanz können wir heute den 17. Juni 1953 in seiner historischen Bedeutung erkennen und würdigen.
Wir gedenken heute der Opfer des Volksaufstandes, und wir erinnern mit Hochachtung an die mutigen Menschen, die für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen sind.

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