Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen zur Eröffnung des Marktplatzes der Demokratie "agora" am 23. 5.2006, 13.00 Uhr auf dem Breitscheidplatz

Rede der Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen

zur Eröffnung des Marktplatzes der Demokratie "agora"

am 23. 5.2006, 13.00 Uhr auf dem Breitscheidplatz

Sehr geehrte Damen und Herren!

Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Das wurde uns leider gerade in den letzten Tagen wieder auf brutale Weise deutlich gemacht. Der Berliner Abgeordnete Giyasettin Sayan wurde von rechtsextremistischen Schlägern in seinem Wahlkreis im Bezirk Lichtenberg schwer verletzt. Das ist nicht nur ein schrecklicher Angriff auf einen Deutschen, dessen Familie aus dem kurdischen Teil der Türkei stammt, sondern es ist ebenso ein schrecklicher Angriff auf unsere Demokratie und auf unser Land insgesamt. Und leider ist es kein Einzelfall.
Ich hoffe und wünsche Giyasettin Sayan, dass er möglichst bald gesund aus dem Krankenhaus entlassen werden kann und dass er möglichst bald seine Arbeit im Berliner Abgeordnetenhaus wieder aufnehmen kann.
Ich verstehe jeden, der seinen ausländischen Freunden rät, bestimmte Gegenden in den östlichen Bezirken Berlins und in den neuen Bundesländern nicht zu besuchen. Ich würde es wohl meinen Freunden auch raten. Aber für uns alle und für unsere Demokratie ist das unerträglich. Wir dürfen den Neonazis nicht die Genugtuung verschaffen, dass ihre Strategie Erfolg hat, so genannte “national befreite Zonen” zu schaffen, und dass in aller Welt davor gewarnt wird, solche “No-go-areas” in Deutschland zu betreten, wenn man eine schwarze Hautfarbe hat oder sonst äußerlich als Mensch anderer Herkunft erkennbar ist.
Der erste und wichtigste Artikel unseres Grundgesetzes lautet “Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.”
Ich weiß, dass unsere Polizei diesen Artikel sehr ernst nimmt. Und die verantwortlichen Politiker in Berlin und in den Neuen Bundesländern nehmen die Gewalt von Rechts nicht mehr tatenlos hin. Sie tun etwas – von neuen pädagogischen Angeboten in den Schulen bis zur Aufstellung spezieller Polizei-Einheiten.
Aber die Gewalt von Rechts geht uns alle an. Schließlich behaupten die Rechtsextremen, sie würden im Sinne Deutschlands handeln. Wir müssen ihnen klarmachen, dass das Gegenteil der Fall ist. Sie beleidigen uns alle und sie schaden unserem Land.
Das müssen wir immer wieder klarstellen: Unser Land ist ein weltoffenes, gastfreundliches Land.
Seit Jahrhunderten sind Menschen aus aller Welt nicht nur zu uns zu Besuch gekommen, sondern sie haben sich hier niedergelassen, haben sich im Laufe von Generationen bei uns integriert, und haben unser Land mit geprägt.
Viele große Leistungen in der Wissenschaft, in der Industrie, im Sport und in der Kultur wurden von Einwanderern für unser Land erbracht – seit Jahrhunderten, und das hat sich bis heute nicht geändert. Häufig sind es gerade die Einwanderer, die dafür sorgen, dass unser Land im internationalen Wettbewerb nicht nur mithalten kann, sondern nach wie vor sogar Exportweltmeister ist. Viele Arbeitsplätze gäbe es nicht, wenn nicht Einwanderer die entsprechenden Firmen gegründet hätten.
Wir freuen uns darüber, dass Menschen aus anderen Ländern sich bei uns wohl fühlen, sich hier sogar mit ihren Familien niederlassen und unsere Staatsangehörigkeit annehmen.
Wir freuen uns aber auch über die Menschen aus anderen Ländern, die zeitweise bei uns leben und unser Leben bereichern. Und wir freuen uns über die Menschen aus anderen Ländern, die uns besuchen kommen, um unsere Stadt und unser Land kennen zu lernen oder um hier die Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft zu erleben.
Wir wollen, dass sie sich bei uns wohl fühlen, und wir sind beschämt, wenn sie in einigen deutschen Städten und in einigen Berliner Bezirken Angst haben müssen, weil dort mit rechten Schlägertrupps zu rechnen ist. Diese rechten Schlägertrupps dürfen keine einzige Straße bei uns beherrschen. Sie müssen einsehen, dass wir das nicht dulden. Notfalls muss es ihnen die Polizei klar machen. Aber wir alle müssen ihnen zeigen, dass sie nichts anderes als kriminell sind, wenn sie Menschen terrorisieren. Sie haben Unrecht, wenn sie sich auf Deutschland berufen. Deutschland ist anders.
Heute vor 57 Jahren ist unser Grundgesetz in Kraft getreten, und es hat uns 57 Jahre des Friedens, des Wohlstands und der Demokratie beschert. Der erste demokratische Staat in Deutschland, die Weimarer Republik, hat gerade einmal 13 Jahre gehalten und wurde abgelöst von einer brutalen Diktatur.
Die Nationalsozialisten haben alle demokratischen Rechte außer Kraft gesetzt, politische Gegner und Minderheiten ausgegrenzt, vertrieben und schließlich ermordet, und sie haben den Zweiten Weltkrieg ausgelöst.
Wenn wir fragen, wie es dazu kommen konnte, dann heißt die wichtigste Antwort wohl: Die Weimarer Demokratie ist gescheitert am Mangel an Demokraten. Gerade hier auf dem Breitscheidplatz an der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gedächtniskirche werden wir daran erinnert. Rudolf Breitscheid war ein aktiver Demokrat, der Widerstand geleistet hat gegen die Diktatur und der dafür sein Leben gelassen hat.
Wir haben viele Gedenktage, die uns an den schrecklichen Abschnitt unserer Geschichte erinnern – und es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern. Aber es gibt auch Anlässe, uns zu freuen und dankbar zu sein. Der 23. Mai ist so ein Tag. Der Tag des Grundgesetzes ist ein guter Tag für unsere Demokratie und damit für unser Leben insgesamt.
Eine Demokratie lebt von den aktiven, engagierten Demokraten, die sie mit Leben erfüllen. Ich freue mich, dass wir hier auf dem Breitscheidplatz am Tag des Grundgesetzes einen Marktplatz der Demokratie feiern können – ja feiern, denn Demokratie leben heißt nicht nur hart arbeiten, Kritik äußern und ertragen, politisch streiten, Mehrheiten suchen und um Entscheidungen ringen – Demokratie leben heißt auch feiern, sich bei allen unterschiedlichen politischen Überzeugungen einig zu sein im gemeinsamen Einsatz für die Demokratie und in der Freude über die Demokratie, in der wir leben.
Ich danke unserem Charlottenburg-Wilmersdorfer Bündnis “Demokratie jetzt!” und allen seinen Mitgliedern und Unterstützern. Sie haben auch in diesem Jahr wieder ein schönes Fest der Demokratie auf die Beine gestellt – und das ohne Steuergelder, allein mit ehrenamtlichem Einsatz und Unterstützung durch Sponsoren. Herzlichen Dank dafür!
Der Marktplatz der Demokratie ist ein offener Platz, ein Platz, der alle zur Beteiligung einlädt, zum Austausch und zum Engagement. Die Initiativen und Institutionen, die sich heute hier vorstellen, wollen einladen zum Mitmachen, aber sie wollen auch Inspiration sein für Menschen aus anderen Orten, sich in ihren Lebenszusammenhängen zu engagieren. Wir können die Zivilgesellschaft stärken, indem wir praktisches Engagement zeigen – und das ist möglich in allen Bereichen unserer Gesellschaft.
Demokratie findet nicht nur statt im Bundestag und in den Medien, sondern überall. Es kommt darauf an, dass wir Demokratie nicht nur konsumieren, sondern dass wir sie erleben. Denn wir dürfen nie vergessen: Die Demokratie lebt von den aktiven Demokraten.
Während der Zeit der Teilung war im Rias, dem Radio im amerikanischen Sektor an jedem Sonntag die Freiheitsglocke aus dem Rathaus Schöneberg zu hören, und dazu wurde der Freiheitsschwur verlesen, den die Amerikaner dieser Glocke mit auf den Weg gegeben hatten:
“Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen.”
Dieser Freiheitsschwur hat seine Gültigkeit behalten, und vielleicht kann er uns auch heute als Richtschnur dienen, wenn es gilt, unsere Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen.
Heute wollen wir unsere Demokratie feiern. Ich wünsche allen Beteiligten und allen Gästen viel Spaß dabei. Und ich wünsche dem Bündnis “Demokratie jetzt!” weiter viel Erfolg bei der Werbung für demokratisches Handeln.

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