Rede am 21.11.2012 zur Gedenktafelenthüllung und Buchvorstellung

Bezriksbürgermeister Reinhard Naumann im Touro College, Am Rupenhorn 5 am 21.11.2012

Sehr geehrte Frau Nachama!
Sehr geehrter Herr Lindemann!
Sehr geehrter Herr Rosenzweig!
Sehr geehrter Herr Prof. Nachama!
Sehr geehrter Herr Prof. Tuchel!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Das Jüdische Museum Berlin veranstaltet heute Abend eine Diskussion mit Berliner Kulturschaffenden über das Thema “Meine Liebe zu Deutschland”. Das ist angesichts unserer Geschichte erstaunlich und beglückend. Geradezu unglaublich ist die Existenz und die erfolgreiche Arbeit des Touro College in diesem Haus.
1933 lebten in Berlin 173.000 Juden, davon mehr als 54.000 in Charlottenburg und Wilmersdorf. Viele konnten fliehen, 55.000 wurden von den Nationalsozialisten ermordet, nur 9.000 überlebten in Berlin. Viele der jüdischen Bürgerinnen und Bürger, gerade im Berliner Westen, waren nicht nur überzeugte deutsche Patrioten, sondern sie brachten ihre Liebe zu ihrem Land auch in vielfältiger Weise zum Ausdruck.
Die Dichterin Mascha Kaléko lebte in Charlottenburg, Bleibtreustraße 10, unweit vom Savignyplatz. Sie konnte 1938 gerade noch rechtzeitig aus Deutschland fliehen. In der von deutschen Emigranten in Amerika gegründeten Zeitung “Aufbau” veröffentlichte sie folgendes Gedicht:
“Ich bin, vor jenen ‘tausend Jahren’
Viel in der Welt herumgefahren.
Schön war die Fremde, doch Ersatz.
Mein Heimweh hieß Savignyplatz.”
Der Komponist Léon Jessel lebte in Wilmersdorf in der Düsseldorfer Straße 47. Mit der Operette “Schwarzwaldmädel” schuf er die wohl erfolgreichste und bis heute populärste deutsche Operette. Mit seiner deutschnationalen Gesinnung stand er den Nationalsozialisten lange Zeit sogar wohlwollend gegenüber. Und obwohl viele von ihnen die Werke des sogenannten “Volljuden” schätzten, setzten sie schließlich gegen Widerstände in den eigenen Reihen ein Aufführungsverbot durch. Ende 1941 wurde der 70jährige Léon Jessel von der Gestapo verhaftet und schwer misshandelt. Er starb am 4. Januar 1942 im Jüdischen Krankenhaus Berlin an den Folgen der Haft.
Lion Feuchtwanger lebte in der damaligen Mahlerstraße in Grunewald. In seinem 1935 im französischen Exil geschriebenen Roman “Die Geschwister Oppermann” portraitiert er sich selbst in seiner Villa kurz vor der erzwungenen Flucht und schreibt:
“Eine heiße Wut überkam ihn, dass man ihn zwingen wollte, sein Haus zu verlassen, seine Arbeit, seine Menschen, diese Heimat, zehnmal mehr seine Heimat als die derjenigen, die ihn zwangen. Um diese Zeit ist der Grunewald am schönsten. Eine Schweinerei, ihn jetzt verlassen zu müssen.”
Man könnte diese Liste lange fortsetzen. Sie dokumentiert nicht nur die große Heimatliebe vieler deutscher Juden, sondern auch ihren unauslöschlichen Beitrag zur deutschen Kultur und zur deutschen Geschichte.
Und diese Liste zeigt: Das bis heute unfassbare mörderische Verbrechen der Nationalsozialisten richtete sich nicht gegen Feinde, sondern gegen deutsche Landsleute, gegen die eigene Kultur, zu der die jüdischen Deutschen so unendlich viel beigetragen haben.
Viele sind nicht rechtzeitig geflohen, weil ihnen ebenso wie uns heute die Vorstellungskraft fehlte. Sie konnten und wollten nicht glauben, zu welchen Verbrechen die Nationalsozialisten fähig waren. Der millionenfache Massenmord war für sie nicht vereinbar mit ihrer Liebe zu Deutschland. Und diejenigen, die rechtzeitig fliehen konnten – zu ihnen gehörte die Familie Lindemann – mussten vieles von dem zurücklassen, wofür sie gelebt und gearbeitet hatten. Sie wurden beraubt und vor die Tür gesetzt.
Charlottenburg und Wilmersdorf waren die beiden Berliner Bezirke mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung. Es waren Menschen aller Gesellschaftsschichten, darunter aber viele gut situierte jüdische Bürgerinnen und Bürger. Die meisten von ihnen waren assimilierte Juden. Ihren Kindern war die jüdische Herkunft oft kaum noch bewusst.
Erst die Nationalsozialisten zwangen ihnen mit ihrer rassistischen Politik eine Rückbesinnung auf ihre jüdische Identität auf und entzogen ihnen die deutschen Bürgerrechte.
Unter den jüdischen Deutschen waren erstaunlich viele Persönlichkeiten, denen Charlottenburg, Berlin und Deutschland viel verdankt. Ohne die jüdischen Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und Mäzene hätte es die kulturelle und wissenschaftliche Blütezeit im Berlin des Kaiserreichs und der Weimarer Republik nicht gegeben. Von Georg Hermann bis Alfred Döblin, von Walter Benjamin bis Kurt Weill haben sie große bleibende Werke geschaffen.
Oft haben sie darin die Verbundenheit mit ihrer Heimatstadt zum Ausdruck gebracht. Heute erinnern Gedenktafeln und auch Stolpersteine an ihre große Bedeutung für die deutsche Geschichte.
Wenn wir unseren monatlichen Kiezspaziergang veranstalten, dann begegnen wir den Zeichen der Erinnerung auf Schritt und Tritt. Allein in Charlottenburg-Wilmersdorf liegen inzwischen 1.800 Stolpersteine. Jeder einzelne von ihnen erinnert an das bewegende Schicksal eines Menschen, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Wenn wir an alle ermordeten Juden in dieser Form erinnern wollen, dann müssen allein in Charlottenburg-Wilmersdorf noch mindestens 10.000 weitere Stolpersteine verlegt werden.
1933 wurden sie ihrer Heimat beraubt, und Deutschland wurde kulturell und wissenschaftlich unendlich viel ärmer. Mit der Vertreibung und Ermordung der Juden führten die Nationalsozialisten einen Bürgerkrieg gegen viele der Besten im eigenen Land. Von diesem Aderlass hat sich Deutschland bis heute nicht erholt.
Angesichts dieser Geschichte ist es gewiss nicht selbstverständlich, dass heute wieder mehr als 12.000 Juden in Berlin leben – gerade auch bei uns in Charlottenburg-Wilmersdorf und dass es Institutionen wie das Touro College in Berlin gibt.
Es gibt wieder ein lebendiges jüdisches Leben bei uns, und es gibt wieder großartige jüdische Beiträge zu unserer Kultur. Das ist ein großes, unverhofftes Glück für uns alle.
Eine Voraussetzung dafür war und ist die Erinnerung an die Geschichte. Deshalb bin ich dem Touro College dankbar dafür, dass es mit eigenen Forschungen über die ehemaligen jüdischen Eigentümer dieses Hauses, mit einer Buchveröffentlichung und mit einer Gedenktafel zu dieser Erinnerung beiträgt.