Rede am 14.05.2013 zum Gedenken an Magnus Hirschfeld

Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann an der Magnus-Hirschfeld-Stele

Sehr geehrte Damen und Herren!
In diesem Jahr erinnern wir in Berlin mit dem Themenjahr “Zerstörte Vielfalt” an die Machtübernahme der Nationalsozialisten vor 80 Jahren und an die Pogromnacht des 9. November vor 75 Jahren. Vor wenigen Tagen, am 10. Mai, war der 80. Jahrestag der Bücherverbrennung. Auf dem Bebelplatz wurden damals auch die Bücher aus der Bibliothek von Magnus Hirschfeld verbrannt.
Wenn wir uns an die “Zerstörte Vielfalt” erinnern, dann erinnern wir uns vor allem an die Weimarer Republik. Damals, in der jungen deutschen Demokratie, wurde vieles möglich, was bis dahin undenkbar war.
Es war wie eine Explosion der kulturellen und wissenschaftlichen Vielfalt, aber auch eine neue Freiheit der unterschiedlichen Lebensformen. Das Leben insgesamt wurde bunt und frei.
Menschen wie Magnus Hirschfeld haben dazu entscheidend beigetragen. Seine Biografie ist ein Beispiel dafür, dass diese Vielfalt im Deutschen Kaiserreich trotz vieler Hindernisse und gegen politische Widerstände längst vorbereitet worden war. Die Nationalsozialisten zerstörten nicht nur die Weimarer Demokratie, sondern eine lange Tradition der Humanität und der Emanzipation in Deutschland.
Der große Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld wurde am 14. Mai 1868 in Kolberg geboren, und er starb am 14. Mai 1935 in Nizza im Exil. Heute ist also sein 145. Geburtstag und sein 78. Todestag.
Von 1896 bis 1910 hat Magnus Hirschfeld hier gelebt.
Er forderte die Emanzipation der sexuellen Minderheiten von staatlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung. Er kämpfte für die volle Verwirklichung der sexuellen Menschenrechte weltweit.
Für ihn war es wichtig, dass dieser Kampf nicht allein auf einer ethischen Grundlage basierte, sondern dass er auch durch wissenschaftlich belegbare Tatsachen zu begründen war. Auf seinem Grabstein in Nizza steht sein Lebensmotto: „Per scientiam ad justitiam“ („durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“).
Für ihn war klar, dass die Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm stattfinden darf. Für ihn ergaben sich aus wissenschaftlichen Erkenntnissen praktische Konsequenzen, für deren Umsetzung er sein Leben lang kämpfte.
Hier in seiner Charlottenburger Wohnung an der damaligen Berliner Straße 104 gründete er am 15. Mai 1897 mit dem Verleger Max Spohr, dem Juristen Eduard Oberg und dem Schriftsteller Franz Joseph von Bülow das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK), zu dessen Vorsitzenden er gewählt wurde. Es war die weltweit erste Organisation, die sich zum Ziel setzte, sexuelle Handlungen zwischen Männern zu entkriminalisieren.
Eine Petition an den Reichstag, den berüchtigten Paragraphen 175 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, scheiterte zwar, aber das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee konnte mit dem Aufbau der ersten deutschen Homosexuellen-Bewegung beginnen.
Von 1899 bis 1923 gab Hirschfeld 23 Jahrgänge der Zeitschrift “Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen” heraus.
1919 gründete Hirschfeld gemeinsam mit dem Dermatologen Friedrich Wertheim und dem Psychotherapeuten Arthur Kronfeld sein Institut für Sexualwissenschaft. Im gleichen Jahr war er Berater und Mitwirkender im ersten Schwulenfilm der Filmgeschichte, “Anders als die Andern”, von Richard Oswald. 1921 organisierte das Institut die „Erste internationale Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage“. Auf dem zweiten Kongress 1928 in Kopenhagen wurde die „Weltliga für Sexualreform“ gegründet. Das Zentralbüro hatte seinen Sitz im Berliner Institut für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld.
Für Hirschfeld waren wissenschaftliche Forschung und politisches Engagement untrennbar verbunden. Das bedeutete aber auch, dass er öffentlich umstritten war und persönlich immer wieder in Gefahr geriet. Auch aufgrund seiner jüdischen Herkunft wurde er angefeindet.
Bereits 1920 wurde Hirschfeld nach einem Vortrag in München von Rechtsradikalen schwer verletzt. In den darauffolgenden Jahren wurden seine Vorträge oft von Schlägertrupps gestört, und die Nationalsozialisten verunglimpften ihn unaufhörlich in persönlichen Angriffen, besonders in ihrem Hetzblatt “Stürmer”.
Spätestens seit 1930 wusste Hirschfeld, dass er seines Lebens in Deutschland nicht mehr sicher sein konnte. Von einer Vortragsreise in die USA 1931 kehrte er nicht mehr zurück, sondern bereiste Asien und den Orient und ging anschließend ins Exil in der Schweiz und schließlich in Paris und Nizza.
Dort verfasste er noch im letzten Jahr vor seinem Tod 1934 eine Analyse und Widerlegung der nazistischen Rassenlehre. Das Buch erschien nach seinem Tod 1938 in englischer Sprache und ist bis heute aktuell.
Hirschfeld empfahl darin, den Begriff “Rasse” zu streichen, “soweit damit Unterteilungen der menschlichen Spezies gemeint sind”.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten machte Hirschfelds Arbeit zunichte und nahm alles zurück, was in Deutschland in den 20er Jahren erreicht worden war im Kampf um die Anerkennung der Homosexualität als gleichberechtigte Lebensform.
Bereits am 6. Mai 1933 wurde das Institut für Sexualwissenschaft von nationalsozialistischen Studenten geplündert und zerstört. Viele Homosexuelle wurden im nationalsozialistischen Deutschland wegen ihrer sexuellen Orientierung ermordet.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat es lange gedauert, bis in Deutschland erfolgreich die weitgehende rechtliche Gleichstellung von Homosexellen und Transsexuellen erkämpft werden konnte.
Vor 18 Jahren, am 14. Mai 1995, haben wir – damals noch gegen manche Widerstände – hier auf öffentlichem Straßenland vor dem Haus Otto-Suhr-Allee 93 die von August Jäkel und Emanuel Scharfenberg gestaltete Gedenkstele aufgestellt, mit der wir an Magnus Hirschfeld erinnern.
Wir sind längst nicht am Ende des Kampfes angekommen, und wenn wir uns heute die Situation in den meisten Ländern dieser Welt anschauen, dann müssen wir ohne Illusionen feststellen: Das Vermächtnis von Dr. Magnus Hirschfeld ist noch lange nicht erfüllt, und es liegt noch ein weiter Weg vor uns.